praschl

Basilisk.

Von Peter Praschl

«all people is my friends»

Die Long Portraits des Fotografen Clayton Cullit: Ein Mensch schaut in eine Videokamera, dir in die Augen, vier, fünf Minuten lang, länger als dir sonst in die Augen gesehen wird, auch nicht von den Menschen, mit denen du schweigst, sprichst, schläfst, lebst. Es geschieht nicht viel. Jemand, den du nie zuvor gesehen hast, blinzelt, atmet, beißt sich auf die Lippen, senkt und hebt wieder den Blick; Mikrobewegungen, die dir nicht mehr erzählen als das, was du dir selbst zu ihnen erzählst. Die Tonspur: Rauschen, manchmal kaum vernehmbares Atmen, manchmal Schritte, eine Tür, unten vor dem Haus fahren Autos vorbei. Auf einem von Cullits Portraits ist der Ton ganz weg; eine Frau, die gerade noch unter der Dusche stand, erklärt eine Caption, hört sich mit nassen Haaren ein trauriges Lied an, das du selbst nicht hören, dir nur vorstellen kannst; sich ein trauriges Lied vorzustellen, während man jemandem in die Augen sieht, der ein trauriges Lied hört, ist fast, als wäre man selbst ein trauriges Lied.

Worum geht es, fragst du dich, falls es überhaupt um etwas geht, du hast viel Zeit, dich alles Mögliche zu fragen. Vielleicht ums Ertragenkönnen, denkst du, darum, ertragen zu lernen, lange anzuschauen und lange angeschaut zu werden, du merkst ja, wie die Ungeduld in dir wächst. Wann passiert da endlich etwas, denkst du, schaut die jetzt tatsächlich fünf volle Minuten nur in die Kamera, du klickst im Verlaufsbalken ein wenig weiter, aber sie schaut immer noch, blinzelt, atmet, senkt und hebt wieder den Blick. Mehr passiert da wirklich nicht, aber du beschließt, es dir noch einmal anzusehen, weil es dich stört, wie ungeduldig es dich macht, jemandem fünf Minuten lang in die Augen sehen zu sollen, warum nervt dich das, fragst du dich, überall sonst passiert ja auch nicht viel und es nervt dich viel weniger. Was soll so schwer daran sein, einem starr abgefilmten Menschen fünf Minuten lang in die Augen zu sehen?

Von vorne also. Diesmal zwingst du dich hinzusehen, man muss sich tatsächlich ein wenig zwingen. Bei 0:30 ist dir langweilig, bei 1:15 noch immer langweilig, doch in der Nähe von 2:30 denkst du: wie schön der aussieht, obwohl du zwei Minuten davor noch «geht gar nicht» gedacht hast, man denkt so etwas ja ständig, obwohl man weiß, dass das nicht für einen spricht, aber man tut es dennoch. Und nun ist man schon dabei, ihn schön, interessant, faszinierend zu finden, und ganz knapp davor, ihn zu lieben. Mit Fotos war das nie so, es gibt ja genügend fotografierte Gesichter, denen man in die Augen sehen kann, aber offensichtlich muss man das Gefühl haben, dass Gesichter zurücksehen können. Minimal invasive Eingriffe in den eigenen Körper: Jemand muss nur blinzeln, atmen, leben, schon ist man verloren. Vielleicht ist das, wozu man sich zwingen muss: verloren gehen zu können.

Lieben? So etwas Ähnliches. Ein kleines Taumeln, eine seltsame Scheu, die einen den eigenen Blick senken lässt, eine Schwäche immer wieder, weiterzuschauen, als wäre man zudringlich, das Bedürfnis, dass irgendeine Geschichte losgeht, jetzt gleich. Ungefähr dasselbe also, was am Beginn von Liebesgeschichten steht, Weichwerden, Ichverlust. Fünf Minuten also, denkst du. Und wie seltsam das ist, weil du ja weißt, dass das alles nur eine Anordnung von Blickachsen ist, Augen auf Augenhöhe, eine Maschine zur Erzeugung von Empathie, Gleiteffekten, du weißt das ja, und dennoch bist du nach fünf Minuten so weit, dass du mit diesen Fremden unbedingt ins Restaurant, ins Bett, ins Kino möchtest, irgendwohin, wo es weiterginge; doch irgendwann, denkst du, sagt sicher einer was. Und dann wäre es aus.