bühne & bild

Bühne & Bild

Von Helgard Haug

Hauptversammlung hieß unser Stück schlicht, das seine Uraufführung am 8. April im Berliner ICC feierte. Die Regie dieser Großveranstaltung lag bei Daimler Investor Relations – auch auf die Dramaturgie, den Text, die Bühne, Requisiten oder Kostüme nahmen wir keinerlei Einfluss. Publikum gibt es bei einer solchen Veranstaltung im strengen Sinne normalerweise gar nicht, da es sich um eine geschlossene Veranstaltung handelt, nur Aktionären steht der Zutritt offen, Journalisten werden geduldet. Eine Aktie bzw. ein Aktienpaket bedeutet eine Eintrittskarte. Es handelt sich also um eine Theaterform, in der allen eine Rolle zugedacht wurde: dem Vorstand, dem Aufsichtsrat, den Juristen, den Investmentvertretern, Interessensvertretern von Kleinanlegern und den kritischen, räuberischen, traditionsbewussten, stolzen, dividendehungrigen und naturaldividendehungrigen Aktionären.

Das Unternehmen ist im Besitz der Eigner von genau 964 557 432 Anteilsscheinen. Mindestens 8 000 Aktionäre wurden auch dieses Jahr erwartet, und schon gegen neun Uhr war es im Saal 1 auch richtig gedrängt. In den ersten Reihen des riesigen Saales sitzt – wie im Theater – die Prominenz. Zum Beispiel auch ein Vertreter des neuen Großaktionärs aus Abu Dhabi – eine Person, die 9,1 % der Aktien vertritt. In den mittleren bis hinteren Reihen findet sich das gemeine Fußvolk ein – viele Rentner, viele Ehepaare, gut angezogen. Man merkt ihnen die Routine an, sie sind nicht das erste Mal dabei. Dazwischen immer mal wieder ein junges Gesicht. Und dann gibt es noch diejenigen, die es nicht in Saal 1 schaffen, sondern die Veranstaltung in Saal 2 oder 3 über die Video- und Ton-Übertragung verfolgen. Ziel der Veranstaltung ist die Entlastung des Vorstands, die Abstimmung wird am Ende eines langen Tages stattfinden.

Wir haben die Hauptversammlung im Vorfeld zum Theaterstück erklärt, in 5 Akte unterteilt und fast 200 Menschen mitgenommen, die als Vertreter von Aktionären mit uns diesen Perspektivenwechsel ausprobierten. Diese 200 werden nun von uns mit Eintrittskarten und einem Buch mit «Gebrauchsanweisungen» ausgestattet.

Akt 1 – der Einlass – ist nun fast vorbei. Auf der Bühne, einem langgestreckten Podest finden, sich Vorstand und Aufsichtsrat an ihren Tischen ein. Überraschenderweise gleicht das Bühnenbild exakt dem der letztjährigen Hauptversammlung: hinter den Tischen steht eine dicke Wand mit einem Spalt, dahinter ein Teil des Backoffice, die Souffleure – der größte Teil der zuarbeitenden Experten sitzt aber in der Konzernzentrale in Stuttgart –, sie sind per Bild und Ton an die Veranstaltung angekoppelt: was sie dort sehen, sehen auch wir – nämlich auf der Bildfläche die sich auf dem linken Teil der Rückwand befindet. Jetzt: einige Minuten vor 10 Uhr läuft ein Werbeclip an: schnelle Autos fahren durch eine makellose Landschaft – oder sind die Autos makellos und die Landschaft nur so schnell? Dann wird auf eine der Kameras umgeschaltet, die nun zeigt, wie Manfred Bischoff, der Versammlungsleiter, hinter dem Rednerpult steht und auf seine Notizen schaut.

Mit seiner Begrüßung beginnt der 2. Akt. Die Bildregie übernimmt. Es gibt genau fünf verschiedene Einstellungen: Close-Up-Redner, seitlich auf das Rednerpult, Aktionäre aus der Sicht vorne links, eine Totale aus dem Saal über die Aktionäre hinweg und eine Kamera, die, in Reaktion auf das, was gerade gesagt wird, zum Beispiel den Vorstand abschwenkt und einzelne Protagonisten und später auch die Personen an den Rednerpulten im Saal herausheben kann.

Von nun an wird es keinen Winkel in der Präsenz­zone des ICCs geben, in den nicht das übertragen wird, was sich in Saal 1 ereignet – das schließt auch die Toiletten ein und sogar den Sanitätsraum – erst kurz vorm Exitus eines Patienten würde dort die Übertragung ausgeschaltet, erklärt uns Investor Relations – überall sonst gilt es den Aktionär lückenlos «im Bilde» zu halten.

Nun geht der Blick Manfred Bischoffs über den Rand seiner Brille in den großen Saal hinaus und er begrüßt die Anwesenden und verkündet die Spielregeln des Tages. Er lässt die versammelten 8 000 aufstehen und der Toten gedenken und warnt vor Beleidigungen und Verunglimpfungen. In Minute zehn beginnt er, die Bedeutung des Konzerns und die Bedeutung der Hauptversammlung zu unterstreichen: «Das ist hier weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück», sondern «die Eigentümerversammlung eines der bedeutendsten industriellen Unternehmen unseres Landes». Spätestens jetzt denken alle Eigentümer nur noch über den Inszenierungsgehalt der Veranstaltung nach und sehen, wie Manfred Bischoff vom Pult tritt, das Wasserglas ausgewechselt wird und sich Dieter Zetsche in Bewegung setzt.

Der dritte Akt beginnt: die Rede des Vorstandsvorsitzenden. Und nun schaltet sich ein weiterer Protagonist ein. Aus der Mitte des Saales erschallt von nun an die Stimme von Herrn Stockhausen – auf der Videoübertragung wird er erst zu sehen sein, wenn er vier Stunden später (tief in der Mitte des 4. Akts) endlich sein Rederecht am Pult zugeteilt bekommt. Also pöbelt er, was das Zeug hält, kommentiert Zetsches «Propagandarede», hakt nach, und trifft auf herausragende Humorlosigkeit und Improvisationsunvermögen von Seiten des Vorstands. Es wird gewarnt, verwarnt, gedroht, Herr Stockhausen aber ruft weiter sein «Hey Häuptling – was meinst du damit» und auch als beinahe 8 000 Eigentümer schreien: «Schmeißt ihn doch raus», wird keiner der bereitstehenden Security-Typen aktiviert.

Während die vorangehenden Akte der Allgemeinheit wenig später über Internet zur Verfügung gestellt werden, endet der 3. Akt damit, dass Ton- und Bildaufnahmen – insbesondere von Journalisten – von nun an untersagt werden. Die Generalaussprache des 4. Aktes wird keiner zu Gesicht bekommen, der dabei ist. Die Rednerliste ist schon zu Beginn der Aussprache für den Vorstand beängstigend voll und das wichtigste für ihn ist nun, die Veranstaltung so im Zaum zu halten, dass sie spätestens um Mitternacht vorüber ist. Zeitgleich zu den ersten Redebeiträgen zieht der Duft vom Buffet in den Saal und bringt Bewegung in die Teilhaber. Ab jetzt nimmt die Präsenz im Saal deutlich ab – aber auch am Buffet und beim Probesitzen in einem der ausgestellten Fahrzeuge kann das routinierte Wechselspiel von Kritik und Politur per Übertragung verfolgt werden.

Namentlich werden Aktionäre und zu Beginn vor allem Fondsvertreter aufgerufen – sie haben 10 Minuten Zeit, sich selbst darzustellen und Fragen zu formulieren – eine rote Lampe auf dem Pult blinkt, wenn die Redezeit überschritten ist. Leuchtet sie dauerhaft, schaltet sich Herr Bischoff ein und verlangt vom Redner, augenblicklich ein Ende zu finden. Als Herr Stockhausen dran ist, ist die Redezeit bereits auf 5 Minuten herabgesenkt worden; mit dem Poster eines herzzerreißend traurig blickenden Berggorilla-Babys überdeckt er die rote Lampe und fährt mit seiner Anklage gegen den Konzern fort.

Dass die Entlastung des Vorstands aber mit fast 100 %-iger Zustimmung erfolgt, wundert gegen 22 Uhr niemanden im Saal – auffällig ist nur, dass die Präsenz der Anteilseigner nur um 6 % geschrumpft ist, der Saal aber gähnend leer ist. Das letzte, was über die Projektswand und die Monitore huscht, ist das abgekämpfte Dankeschön des Versammlungsleiters und der Hinweis, dass die nächste Hauptversammlung auch wieder Anfang April in Berlin stattfinden wird. 

Hauptversammlung, von Rimini Protokoll (Haug / Kaegi / Wetzel), 08.04.2009, ICC