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Try this at Home! Überlegungen zum Verhältnis von Kino und Videospiel

Von Ekkehard Knörer

I. Im Spiel sein

Wenn ich im Videospiel sterbe, holt mich der Film. Ich habe einen Fehler gemacht, habe die Kurve nicht gekriegt, nicht genau genug gezielt, nicht schnell genug geschossen, bin nicht flink genug davon, bin gestürzt, gefallen, habe die Kontrolle verloren – und sterbe. Aus und vorbei. Fürs erste. Oder zweite, dritte, vierte. Denn natürlich ist der Tod im fiktionalen Raum des Videospiels nur Metapher; ich kann noch einmal anfangen, von vorne beginnen, oder da weitermachen, wo ich zuletzt den Stand der Dinge gespeichert habe. Das aber ändert nichts daran, dass der «Tod» im Spiel für den Moment das Ende dessen bedeutet, was das Videospiel ausmacht: meine Fähigkeit, Dinge und Veränderungen in der Welt des Spiels zu bewirken.

Meine Hand auf der Konsole erstarrt. Blut auf dem Schirm oder ein weißer Schleier, der sich herabsenkt oder eine langsame Schwarzblende. Oder, im Kriegsspiel Brothers in Arms, die «Kamera» zoomt weg von mir, «ich», der ich zuvor immer nur Waffe war, komme als (fremder) Körper in den Blick. Game Over, Cut Scene. «Cut Scene» ist der Terminus Technicus für das Kino im Spiel. Die Momente, in denen ich den Blick des Videospiels auf das Kino erlebe. Es ist mehr als ein Blick, es ist ein Körperaffekt, ein Sacken, ein Sinken. Ich fühle die schiere Ohnmacht, den Rückfall in die Passivität; und in die Narration. Die «Cut Scenes» zäsurieren – meist kann man sie wegklicken, aber nicht immer – die Action: Vorspiel, Zwischenspiele, Endspiel. Der Vorspann ragt, ganz wie im Kino, als Nicht-Spiel und Schrift und Bild verquickende Semi-Diegese in den Spielraum hinein. Auch die Einführung in den Kosmos des Spiels, seine zentralen Figuren, eventuell auch schon die Regeln, stellt mich in aller Regel still. Das Spiel macht mich, solange ich passiv bin, mit seinen Algorithmen, auch mit mir als dem Spieler vertraut.

Half-Life wurde berühmt für seinen Verzicht auf die rigide Stillstellung in den «Cut Scenes» – eine Erweiterung des Spielraums. Den Wagen, mit dem ich hineinfahre in die Forschungsstation Black Mesa, steuere ich nicht. Ich habe jedoch begrenzte Bewegungsfreiheit darin: Blicken, Springen, Gehen von Wand zu Wand. Dann kommt ein Trainingsparcours, Einübung in die Bewegungsarten des Spiels: Blicken, Springen, Klettern auf Leitern, Schießen. Action-Drill und (sehr simple, extrem lineare) Narration sind hier zur Einheit verbunden. Das ist die Ausnahme von der Regel. In den «Cut Scenes» verdichtet sich sonst das Gameplay-Geschehen zur meist am Filmischen orientierten szenischen Narration. Die Erzählung, die ich in der Action selbst vorantreibe, bleibt dagegen meist rudimentär: Ich sammle, ich schieße, ich fahre über den Haufen, ich entwickle Strategien und beobachte ihre Folgen, ich erfülle Missionen, ich statte mich aus, ich begegne anderen Fantasy-Figuren, die genauso scheußlich aussehen wie ich. Der größere Zusammenhang wird in den «Cut Scenes», die mich stillstellen, gestiftet.

Solidarisch, das lerne ich ex negativo im Gameplay, sind Passivität und Narration. Was nicht heißt, dass das Videospiel das Kino nicht begehrte. Und auf andere Weise als das Kino das Spiel. Das Spiel spürt, dass das Kino anders überwältigen kann, durch Passivität – darum werden in teuren Spielen die «Cut Scenes» so aufwendig gestaltet. Auch als Live Action, als Full Motion Video, gar als Full Movie Game, eine Mode der frühen Neunziger, aber gerade ist mit 428 ein neues Werk dieser Art angekündigt. Mimikry-Versuche, die auch dann noch enttäuschen müssen, wenn sie dank großer Grafik-Power wie der Rest des Spiels aus der Game-Engine entwickelt sind – die deshalb enttäuschen müssen, weil die Passivität des Kinos der Tod der Interaktivität ist. Man lässt sich das, um ein wenig auszuruhen, gefallen, aber wenn es mal nicht wegzuklicken ist, reagieren die Spielerin und der Spieler gern ungehalten. Da wird es körperlich spürbar: Das aktiv rezipierende Ich des Kinos und das interaktive Ich des Spiels sind zwei sehr verschiedene Dinge, die sich auch und gerade im Begriff der Immersion nicht verkoppeln lassen.

Das Spiel begehrt das Kino, weil es ahnt, dass die Figuren des Kinos gerade dadurch, dass sie und ihre Welt sich dem Zugriff des Rezipienten entziehen, fürs Spiel nicht erreichbare Freiheiten haben. Im Spiel ist die Aktivität des Ich, das an der Konsole zum Agieren und Reagieren gedrillt wird, eine Fessel. Schließlich muss es, ganz buchstäblich, für die Algorithmen des Spiels, die die Grenzen der jeweiligen Welt setzen, berechenbar bleiben. Der Horizont ist mit steigender Rechenkraft immer weiter verschiebbar, aber es bleibt doch der Horizont. Es muss Regeln geben, auch wenn noch die actionhaltigsten Games, wenigstens eine Zeit lang, Spielzielwidriges wie Einfach-Nur-Rumstehen, unproduktives Trödeln oder den Selbstmord des Spieler-Ichs erlauben. (I would prefer not to. Im Spiel wie in der Institution ist Bartleby nicht vorgesehen. Das Spiel und die Institution können eben darum gegen den, der die Regeln nicht akzeptiert und nicht nicht akzeptiert, wenig unternehmen.) Die Regeln selbst aber setzen noch in den offensten der «open worlds» des Computerspiels immer ganz schnell Grenzen: Durch die meisten der Türen von Liberty City (GTA) kann man halt doch nicht gehen. Schon die schiere Berechenbarkeit, die das Spiel spielbar macht, verunmöglicht ja genuine Überraschungsmomente. Anderes scheint im Moment nur in den Art Video Games denkbar. Hier zerstören willkürlich gesetzte Zufallsalgorithmen den Gleichlauf der Dinge. In Mark Essens Rama, einem Spiel, das einer Rennsimulation gleicht, ändern sich die Zuordnungen der Rechts-Links-Cursor-Tasten nach Belieben. Nur sehr begrenzt hat man noch Kontrolle über die Bewegung des Autos. Mark Essens Videospiele jedoch gelten als Kunst. Den auf Kontrolle und stabile Steuerungssubjektivitäten trainierten Gamer machten sie auf der Stelle verrückt.

Zugleich und auf der anderen Seite ist das Bild des Videospiels geradezu obsessiv auf den Spieler fixiert. Die Figur, die da spielt und gespielt wird, ist für die Algorithmen der kleine Gott. Jede Fingerbewegung – im Gameplay – löst etwas aus. Das genau, dass das Spiel auf mich wartet, auf mich als Akteur, heißt recht eigentlich Interaktivität. Akteur wäre im Minimum: Ich bin der, der etwas bewegt. Sich oder anderes. Ich bin die Bande im Pong. Ich bin der, der die Knarre hält oder im Ego-Shooter vielleicht sogar die Knarre ist. Ich bin der, der sich durch die Gänge bewegt, der die Stunts ausführt, der den Gegner austrickst, überwältigt, erschießt. Ich bin der, der die Handlungsmacht hat – bis er stirbt –, ich bin der, der den Blick nach oben nach unten wendet, der sich nach rechts links vorne und hinten bewegt. Ich bin der, der beschleunigt, der rennt, der nicht weiterkommt. Die Welt steht meinen Fingern und Händen zur Verfügung. Die Videospiel-Welt ist eine Welt, die auf mich gewartet hat, die mich braucht, die ohne mich gar nicht auskommt. Ich kann wissen, dass sie – etwa im Rollenspiel mit vielen anderen Spielern wie World of Warcraft – auch ohne mich existiert. Aber sobald ich sie betrete, geht es um mich. Ich kann nicht aus dem Bild treten, das Bild ist nicht, was sich präsentiert, sondern das, was ich erzeuge, indem ich als Punkt, auf den es subjektiv fluchtet, im Bild bin und auch nicht.

Darum erlebt sich der Gamer im Spiel als kontrollierendes Ich. Aus seinem Scheitern lernt er. Training ist alles. Wiederholung hilft. Man wird besser. Du fällst hin, du stehst wieder auf. Du probierst es noch einmal. Nichts entzieht sich prinzipiell deiner Kontrolle. Du lernst in der Logik des Spiels zu handeln, zu denken. Du sammelst deine Truppen, du entwirfst Strategien, du rennst und fliehst, du zählst deine Schäfchen, du baust an deinem Reich, deiner Welt. Das ist mehr als nur das Vorortseinserfahren der Immersion. Du wirst vielmehr selbst spielförmig und je mehr du es wirst, desto mächtiger fühlt sich dein Ich. Die Macht des Spielers ist erarbeitete, aber immer auch geliehene Macht, zugemessen in Rechenoperationen. Das ist nicht nichts. Das Spiel schenkt dem, den es spielt, um das mindeste zu sagen: eine Erfahrung, die anders ist als die Erfahrung des Rezipienten von anderen Künsten. Man darf das Glücksgefühl nicht unterschätzen, das – nur zum Beispiel – in der Entdeckung liegt, dass du die Bewohner von Liberty City einfach umfahren kannst ohne Sanktion.

Cut to the Movies

Das Kino rechnet mit dem passiven Ich seines Betrachters anders. Es spielt mit ihm, es bindet ihn und lässt ihn auch los. Es kann sich gegen ihn abschließen, es kann einfach nur Bild sein, offen für das, was es zeigt, nicht für den, der als Beobachter (nicht) mit im Spiel ist. Die Ontologien des Films als fotografisches Bild sind fürs Videospiel völlig verloren. Daraus lässt sich für diese andere Kunst nicht das mindeste Pathos ziehen. Sie sucht ihr Pathos in den fiebrigen Fingern des immersiv am Bildschirm Klebenden. Sie will den Spieler «im Spiel», sie will ihm die Illusion einer vollständigen Welt möglichst erleichtern – der Fetisch des Naturalismus, der die Mainstream-Welten der Blockbuster-Spiele heute ausnahmslos fast bestimmt, ist das gerade Gegenteil eines Bild-Realismus. Im Wunschbild der kompletten Mimikry einer möglichen Welt schlägt die Wirklichkeit in ihr Gegenteil um.

II. Regisseur werden

1. Modden

Eine andere Freiheit liegt jenseits des Spiels; in einem Jenseits jedoch, zu dem das Spiel dir die Mittel an die Hand gibt; oder auch in einem Jenseits, das zurückführt zum Spiel. «Mod» ist der saloppe Name für die Veränderung des Spiels mit den Mitteln des Spiels. Du kannst dem Spiel unter die Haube greifen, als Profi, zu dem dich das Gamen macht. Modden (mod wie modification), erfindet nicht von Grund auf, ist auch kein Detournement (also Aneignen, Wegnehmen, Umwenden) des Gegebenen. Auch da nicht, wo man – Fachausdrücke: partial conversion, total conversion – das Spiel so verändert, dass es nicht wiederzuerkennen ist, ja, dass es eines neuen Namens würdig erscheint. So sind Spiele wie der berühmt-berüchtigte Ego-Shooter Counter Strike (aus Half-Life) und Team Fortress (aus Quake) entstanden. Der Modder-Befehl fürs Regisseur-Werden: Try this at home!

Das heißt aber auch: Auf der Ebene der Game Engines ist die Welt der Videospiele so vielfältig nicht. Und so total auch die Konversionen ausfallen mögen: Die Algorithmen der Engines bleiben in Geltung. Was immer man damit anstellt, ist bereits impliziert, wenn nicht sogar erwünscht und / oder vorgesehen, die Moddability folgt aus der Logik der Game Engines, das ist der Trick des Algorithmischen: aus dem was ist, kann Ähnliches werden. Außerhalb des Bereichs freier Software gilt: Wenn du Glück hast und die Leute toll finden, was du da tust, dann kauft die Industrie dir sogar ab, was du mit von ihr geliehenen Mitteln und eigener illegitimer Urheberkraft da gemacht hast. Was aber auch heißt: ein Übergangsbereich zwischen Profi-Developper und Amateur-Modder ist im System immer schon vorgesehen.

Im Mod machst du dieselbe Welt etwas / deutlich / ganz anders. Du kreierst neue Figuren und schärfere Waffen, du schaffst neue Räume oder leerst oder füllst die alten oder tapezierst um, du erfindest neue Spiel-Levels oder du stellst da, wo abstrakte Figuren waren, jetzt Menschen lebensecht hin, du lässt das Blut spritzen, wenn du sie dann abknallst. (Das wird gesetzlich verboten sein, zu Recht vielleicht, und hat eben drum seinen Reiz.) Du bist frei im engen Rahmen dessen, was dir gegeben ist.

2. Machinima

Aus dem Spiel wird im Handumdrehen ein Film: als Machinima oder, weniger anspruchsvoll, als Aufzeichnung des Gameplay. Schon letzteres ist, so generisch die Ergebnisse in Reihe aussähen, immer individuell. Niemand spielt je dasselbe Spiel und keine zwei spielen es wohl aufs Haar genau gleich. Das ist keine Sache von Subtexten oder Interpretationsunterschieden, sondern von teils ganz banalen Freiheitsgraden, die vom Spiel vorgesehen sind. Mit Hilfe einfacher Bild-Capture-Software sind jedoch Aneignungen anderer Art möglich: Das Spiel wird zum Baukasten für Animationen, die der Regie des Spielers gehorchen. Für Machinimas – Animationsfilme, die komplett aus Bildern des Spiels produziert sind – wird das Spiel gespielt, aber nicht um des Spiels, sondern um des Films willen. Die Bewegungen, die die Figuren ausführen, sind im Kontext des Spiels höchstwahrscheinlich dysfunktional.

Film heißt hier: Aufzeichnung der im Spiel, das seinen Zielen und Intentionen abspenstig gemacht wird, erarbeiteten Bewegungsbilder. (Die Cut Scenes als jene «filmartigen» Momente, in die der Spieler nicht eingreifen kann, taugen fürs Machinima in aller Regel gerade nicht.) Gewinnen ist nicht mehr der Punkt. Virtuos sein, heißt hier nur: Das Spiel ganz und gar tun lassen, was man es tun lassen will. Darunter gelegt wird geschriebener, eingesprochener Dialog. Die Spieler werden zu Schauspielern, die Perspektive wechselt vom spielenden «Ich» zur dritten Person, das Spiel zur Narration, und so wird der Spieler zum Regisseur und produziert für den Betrachter nichts anderes als: Darstellung. Und natürlich gibt es bereits Spiele, The Movies vor allem, die genau das als Spiel rahmen: Der Spieler ist Produzent und organisiert eigene Filme, die im Spiel selbst dann als Machinimas produziert und hergestellt werden.

Die Produktion von Machinima siedelt, wie das Modden, wie alle Eingriffe in vorhandene Spiele, alles Umbauen, Austauschen, Variieren, wie Techniken des Mashup, des Remix, der Aneignung in anderen Medien, im Graubereich der Gesetze. Viele der Firmen dulden es, solange es nicht kommerziell genutzt wird, fördern die Bindung der Community ans Produkt, die in diesen Hands-On-Umgangsweisen zum Ausdruck kommt. Viel irreduzibler als in anderen Bereich ist Spielkultur Fankultur und ist Fankultur Macherkultur, Do-it-yourself-Kultur. Tausende von Machinima-Filmen finden sich auf Seiten wie machinima.com, mit vielen Millionen Besuchern im Monat. Die Kanäle sind sortiert nach den für die eigenen Darstellungszwecke umgenutzten Ausgangsspielen – wobei über die Genre-Zuordnung der fertigen Filme freilich nicht unbedingt etwas gesagt ist. Schließlich lassen sich aus der kontraintuitiven Wendung auch wieder Effekte ziehen, komische nicht zuletzt.

3. Im Film spielen

Der Entwicklungschef einer Spieleabteilung beim Xbox-Hersteller Microsoft erzählt mir: Wir haben jetzt die Rechnerkraft und die Möglichkeiten, Einstellungen aus klassischen Filmen vom Computer dreidimensional so berechnen zu lassen, dass wir die Figuren und die Szenerie im und als Spiel nachbauen können. Die abgefilmte würde so zur im Videogame begehbaren, sich interaktiven Eingriffen öffnenden Welt. Das Realbild würde vom Computer in Realzeit umgerechnet zur virtuellen Realität. Täuschend echt. Du könntest, als Spieler, Marilyn Monroe sein oder Clark Gable oder wer auch immer: Movie Hero. Du könntest das Bewegtbild nicht mehr nur wiederholen, einfrieren, neu montieren, sondern alles nachspielen oder neuspielen oder überhaupt alle Festlegungen des Kinos auflösen.

Du könntest, mit anderen Worten, was der Kameramann aufgezeichnet, der Regisseur in einzelne Einstellung aufgelöst und in dieser Auflösung ein für allemal festgelegt hat, wieder flüssig machen. Deine Bewegung in der virtuellen Welt des realen Films wäre eine einzige Apokryphe. Und natürlich, das liegt in der Logik der Sache, ließen sich auch die Bewegungen in der virtuell nachgerechneten Welt wiederum aufzeichnen und dem kanonischen Text des Films eigene Versionen einer erspielten Welt zur Seite stellen. Es ließen sich damit sehr anständige und sehr unanständige Dinge tun. Du könntest Deiner Fantasie in der Welt eines anderen Raum lassen. Du könntest am Ikonischen partizipieren. Du wärst, wenngleich nicht als du selbst, jeder beliebige Star. Du könntest ein anderes Ende erzählen, du könntest gar kein Ende erzählen, du könntest vielleicht sogar, je, nachdem, was das Film-Spiel dir erlaubt, eingreifen, Figuren aus dem Spiel nehmen, neue Figuren einführen (aus einem anderen Film?), du könntest den Film modden, dies oder jenes draus machen, du könntest – es ist alles Zukunftsmusik. Wir bleiben dran.