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Kolonialphantome Sie hatte eine Farm in Afrika: Zu Tabu

Von Kathrin Peters

© Real Fiction

 

Tabu ist Miguel Gomes’ dritter Spielfilm (cargo-Gespräche mit Gomes siehe hier und hier) und es war sein erster auf der Berlinale, wo er 2012 uraufgeführt wurde. Im Berlinale-Palast am Potsdamer Platz. Das alte Premierenkino, der Zoo-Palast, das große Kinogebäude aus den späten 50er Jahren, das so heißt, weil dahinter der Zoo liegt, ist mittlerweile geschlossen. Ich habe Tabuim Haus der Berliner Festspiele gesehen. Das ist ein Flachbau, der sich inmitten einer Gründerzeitbebauung erstreckt. Seine Fassade ist aus Waschbeton, durchbrochen von großen Fensterfronten. Im Inneren umrahmen Einbauten aus Tropenholz die weitläufige Raumanordnung. Empfang, Bar, Flure und Garderoben sind so großzügig angelegt wie die Theaterräume. Teppichböden schlucken die Schritte. Das 1963 als «Theater der Freien Volksbühne» eröffnete Gebäude ist eine Architektur, die sich West-Berlin zum Zeichen seiner Internationalität und politischen Bescheidenheit gab.

1963, das ist auch das Jahr, in dem The Ronettes mehrere Hits geschrieben haben. 60er-Jahre-Musik durchweht Tabu. Zuerst erklingt Be my Baby im Abspann eines anderen Films, den man nicht sieht, stattdessen sieht man Pilar im Kino sitzen, die Frau, um die der erste Teil von Tabu kreist. Dieser erste Teil ist zeitlich genau bestimmt, auf ein paar Tage um den Jahreswechsel 2011 in einem verregneten Lissabon begrenzt und heißt «Verlorenes Paradies». Der Mann neben Pilar, ein befreundeter Maler von aus der Zeit gefallenen abstrakten Bildern, schläft, während der Film auf der Leinwand zu Ende geht und Tabubeginnt. Sie weint ein wenig. Pilar ist eine Frau, die, so stellt Gomes sie vor, sich zu sehr in eine christliche Mitmenschlichkeit verscharrt hat, als dass es noch um ihre eigenen Bedürfnisse gehen könnte. Sie möchte ständig etwa geben, das die anderen oft genug nicht wollen. In seiner banalen Tragik kann dieser Umstand ziemlich ironisch sein: Am Flughafen will Pilar eine mit Gepäck behangene Jugendliche empfangen, die während eines Taizé-Treffens bei ihr unterkommen sollte, sich aber verleugnet, um lieber mit den anderen Rucksacktypen abzuziehen. Pilar bleibt mit ihrem Pappschild in der Hand zurück, gefasst. Allein die Nachbarin in der Hochhaussiedlung (deren Entstehung ich ebenfalls auf die 60er datieren würde) will immer etwas, Essen oder Geld. Die alt gewordene Diva Aurora fühlt sich von allen guten Geistern verlassen, besonders von ihrer Tochter, die sich in einen anderen Kontinent abgesetzt hat. «Donna Aurora» verbringt die Tage mit Glücksspiel und lebt in wütender Symbiose mit ihrer schwarzen Haushälterin, die ausgerechnet Robinson Crusoe liest und keine Miene verzieht. Santa ist ihr Name, die Heilige. Einmal steht Aurora in weißem Pelzmantel und weißer Pelzmütze in der engen Wohnung, bereit zu gehen. Sie sieht aus wie der Weihnachtsbaum, den Santa gerade abschmückt. Sie ermahnt die alte Frau, den Pelz nicht zu verkaufen, woraufhin sich Aurora als Gefangene eines Monsters selbst bemitleidet, aber bleibt. Von der Lage dieser drei Frauen berichtet der erste Teil von Tabu, bis Aurora stirbt. Be my Baby kommt noch einmal vor, gespielt nun von einer weißen Boy Group auf einer Poolparty in Afrika.

1963, das ungefähr müsste auch die Zeit sein, in der der zweite Teil von Tabu spielt. Er erzählt die Ereignisse eines Jahres im – noch – kolonialen Afrika, in einer portugiesischen Kolonie, in Angola zum Beispiel. Von Pilars Gegenwart wechselt Tabuzu Auroras Vergangenheit. Gomes hat eine desaströs endende amour fou mit dem schwelenden Kolonialkrieg kurzgeschlossen. Das Blut, das der Figur Aurora an den Händen klebt, wie sie selbst später, und das heißt im Film früher, feststellt, ist nicht nur das des niedergeschossenen Freundes, der die Flucht der hochschwangeren verheirateten Frau mit ihrem Liebhaber verhindern wollte. Es ist auch das Blut von zahllosen Afrikaner/inne/n. Das hat Aurora nicht begriffen. Bevor es aber soweit kommt, irgendetwas begreifen zu müssen, scheint in Afrika für Weiße ein unbekümmertes und müheloses Leben möglich gewesen zu sein – «man verdiente leicht Geld und gab es leichtfertig wieder aus», heißt es im Film. Man geht auf Großwildjagd, fährt mit dem Motorrad durch Teeplantagen, tanzt auf Poolpartys, zieht Krokodile groß. Umsorgt von schwarzen Bediensteten. Gomes schildert das als eine kaum zu fassende Mischung aus Melancholie, ja Depressivität, und einer Atmosphäre, in der jedes Tun von völliger Konsequenzlosigkeit gekennzeichnet scheint. Beides passt wahrscheinlich recht gut zusammen, die Melancholie und die Konsequenzlosigkeit. «Paradies» ist dieser Teil des Films überschrieben.

Paradies und Verlust

Tabu ist voller Referenzen, schon im Titel erweist er einem anderen Film Reverenz, F. W. Murnaus Tabu von 1931. Murnaus Tabu, zunächst zusammen mit Robert Flaherty entwickelt, ist so etwas wie ein Dokumentarspielfilm; «Hier spielen nur eingeborene Südseeinsulaner, einige Mischlinge und Chinesen», steht auf der Texttafel zu Beginn. Zwei Teile hat auch dieser Tabu, allerdings in der zunächst intuitiveren Reihung, erst das Paradies, dann sein Verlust. Für Gomes kann das keinen Sinn ergeben. Er erzählt die Geschichte vom Paradies, das ja per se ein verlorenes oder vorgestelltes ist, nicht als idealisierte Vorgeschichte, sondern als idealisierte Erinnerung. Als Erinnerung eines alten Mannes, des besagten Liebhabers, Gian Luca Ventura, der nach Auroras Tod die Geschichte ihrer verbotenen Liebe erstmals preisgibt. Selbstverständlich musste diese Liebe all die Jahrzehnte unerfüllt bleiben, wie das Liebesobjekt verboten, denn nur so lässt sich eine Erinnerung bewahren oder eher konservieren, um aus ihr ein Lebensmotiv machen zu können, das zugleich ein Filmmotiv ist.

Das Verrücktsein der beiden Jungen nacheinander hat sich jedenfalls bei den Alten in eine andere Form der Verrückung verwandelt. An dem wunderbaren Ort eines Palmengartens in einem Einkaufszentrum trinken Ventura, Pilar und Santa nach der Beerdigung schließlich noch einen Kaffee und die hallenden Umgebungsgeräusche lassen nach, als der zweite Teil des Films mit Venturas erstem Satz einsetzt: «Sie hatte eine Farm in Afrika». Von nun an spricht nur noch der alte Mann aus dem Off, untermalt von Naturgeräuschen und Musik (und, wie mir scheint, den Rufen und Gesängen der Afrikaner/inne/n, die in Venturas Erinnerung eben nichts anderes als Hintergrundsound sind). Alle Gespräche sind auf stumm geschaltet. Stumm ist auch Murnaus Tabu, der in Technicolor gedreht werden sollte, was wie so vieles bei diesem Film nicht geklappt hat – als Filmmaterial zu teuer, zu schwierig zu bekommen.

Gomes’ Tabu ist wie als Antwort darauf durchgehend schwarzweiß, der erste Teil auf 35 mm, der zweite auf 16 mm gedreht, nicht ohne die Ironie, dass heute wiederum Filmmaterial in Schwarzweiß im Verschwinden begriffen ist. Auch der Film Murnaus von 1931 erzählt von einer verbotenen Liebe und einer vereitelten Flucht, nur steht dem Zusammenkommen hier nicht die christliche Ehe entgegen, sondern das Tabu der Berührbarkeit, mit dem ein Mädchen aus Bora Bora belegt wurde. Um das Heilige geht es hier wie da, um Kolonialismus ebenso. Auch um Geld, das bei Murnau mit den Chinesen in die Welt der Polynesier kam und Schuld und Verschuldung mit sich brachte. Für Gomes’ postkoloniale Figuren ist es eher paradiesisch, Geld zu haben. In der ganzen Dichte der Überlagerungen taucht sogar der koloniale Zustand des späten 19. Jahrhunderts, den Murnau zeichnet, bei Gomes noch auf, als Prolog: Ein Mann durchstreift mit dem Segen Gottes und des portugiesischen Königs, wie es lakonisch heißt, in unendlichen Expeditionen den «schwarzen Kontinent» und ist doch eigentlich nur auf der Flucht vor der Erinnerung an seine verstorbene Frau, die ihm immerfort erscheint. Er übergibt sich schließlich dem Tod durch ein Krokodil, woraufhin ein Gruppe Afrikaner/inne/n in einer quasi-ethnografischen Szene einen rituellen Tanz vollführt. Geld taucht auf und verschwindet (auch das zum Filmemachen), die Geister bleiben, heilige oder nicht: Sie werden angebetet und gerufen, lassen sich nicht verscheuchen und in der Zeitverwirbelung, die Gomes’ Tabu herstellt, sind noch die alten Filme und Songs Reminiszenzen an eine Vergangenheit, die so authentisch wie phantasiert ist. Tabuist sehr subtil darin, den Verbotene-Liebe-Topos sowohl zu bedienen als auch auszustellen, mitsamt der filmischen Inszenierungsformen, dokumentarischen oder fiktionalen, in die unsere Vorstellungen vom Paradies und dessen Verlust geronnen sind.

In den weiten Räumen des Ethnologischen Museums Berlin-Dahlem steht als eines der prominentesten Exponate ein originales Hochsee-Segelboot, das Ende des 19. Jahrhunderts von den südpazifischen Inseln mitgenommen wurde. Wie das Haus der Berliner Festspiele wurde der Museumsneubau in Dahlem von Fritz Bornemann entworfen und zwar 1970, noch als Völkerkundemuseum, das bereits Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet worden war, ungefähr zeitgleich mit dem Berliner Zoo. In schlichten Glasvitrinen finden sich hölzerne afrikanische Krokodilsfiguren sowie auch polynesische Geldstücke, die auf Sammlungstätigkeiten deutscher Forscher zurückgehen, wie der Begleittext vage erläutert. Die architektonische Inszenierung sollte schon zu ihrer Entstehungszeit, also der Zeit der Befreiungskämpfe in Afrika, nicht der musealen Selbstrepräsentation dienen, sondern ganz den Objekten. Heute arbeitet das Museum daran, diese Objekte nicht als schön und fremd darzubieten, sondern als entangled aufzufassen, als Objekte, an denen sich eine Geschichte zeigt, in die sowohl Afrikaner oder Polynesier als auch Europäer verwickelt waren. So richtig ist das bisher nicht gelungen, vielleicht braucht man einen Film dazu, der das Schöne und das Fremde mitdenkt oder zeigt, wie Imaginationen aussehen. Gomes’ Tabu jedenfalls erzählt die Kolonialgeschichte als Geschichte der europäischen Gegenwart, einer Gegenwart, in der Geister und Erinnerungen, Geld und Schuld das Selbstverständnis unserer demokratischen Verfasstheit durchdringen.

Tabu startet am 20. Dezember 2012