praschl

a toast to absent friends

Von Peter Praschl

Von Julius gibt es jetzt im Netz ein Video, mit den Willi Warma im Café Landgraf, einem unserer heiligen Orte. Ich kann mich kaum noch an dich erinnern, dachte ich, als ich es ansah, nicht einmal an mich, wie ich damals war, einer von denen, die zu den Willis abgingen, schon nicht mehr bei diesem Auftritt, aber bei genügend anderen.

Ich bin mit 18 weg, die Dableiber waren die besseren Menschen, sie kämpften. Julius war mir lange wichtig gewesen, auf eine Weise, wie man einander mit 16, 17 wichtig ist, vielleicht haben wir uns in unserem Unwohlsein wiederkannt, wir hielten es nicht aus, wie wir leben sollten («man leben sollte»). Einmal saß er neben mir und fing zu weinen an, was ist, fragte ich, ich stehe auf Männer, sagte er, ja, sagte ich, dann ging es wieder. Lange habe ich nicht verstanden, wie er denken konnte, dass das jemanden von uns stören würde, erst Jahre später, nachdem mir jemand von Teenagern erzählt hatte, die sich lieber umbrachten als ihr Coming Out durchzustehen, begriff ich, wie kalt ich manchmal auf andere gewirkt haben muss; nie gefragt nach den Erfahrungen, die sie gemacht, der Verachtung, die sie erlebt hatten, es kam mir einfach nicht in den Sinn, meine Form der Empathie oft genug die Gleichgültigkeit, ist schon okay, wie du bist, mir doch egal, ob du schwul bist, wahrscheinlich, weil ich mir selbst oft gewünscht hatte, gar nicht erst wahrgenommen zu werden, denkt doch am besten nicht über mich nach. Dabei war mir Julius gewiss nicht egal, bloß, dass er schwul war, aber das könnte ich ihm nicht mehr sagen, selbst wenn ich es wollte, er ist jetzt seit zwanzig Jahren tot, elend an Aids zugrunde gegangen, die Tragik vieler, die mit ihrem Coming Out zu früh gewesen waren.

Unter denen, die mir damals nahe gewesen und mittlerweile tot sind, ist er der einzige, dem ich beim Nochlebendigsein zusehen kann. Die digitale Revolution der Aufzeichnungstechnologien setzte erst ein paar Jahre später ein, man merkt es auch daran, dass im Juliusvideo keiner im Publikum der Willis mitfilmt, kein Handy, nirgends. Der einzige, der filmte, war Lewo, der praktisch immer mitfilmte, vielleicht ertrug er die Welt leichter, sobald er sie durch den Sucher seiner Super 8-Kamera ansah. Wenn er bei den Landgrafkonzerten zwischen den Musikern auf der Bühne herumturnte, sich zwischen sie kauerte, um sie von unten zu kriegen, kam er einem selbst vor wie ein Mitglied der Band, nur dass er seine Läufe nicht in Echtzeit raushaute, sondern erst an seinem Schneidetisch, ohne die anderen.

Zu viel ist tot auf diesem Video, dachte ich, nicht nur Julius, sondern auch die Art, wie man abging, wenn ein Gitarrist ein gutes Riff spielte, keiner mit dem Bedürfnis, es aufzuzeichnen (um es sich später anzusehen? alleine dazu abgehen zu können?), ein einziger Pulk ohne Wellenbrecher, an denen das Allezusammen stockte.

Von all den Menschen, die jetzt so jung sind wie Julius damals, wird es Videos geben, von jedem einzelnen, und nach ihrem Tod werden Hinterbliebene sie ins Netz stellen und die Links zu ihnen vermailen, wahrscheinlich sind schon ein paar zehn- oder hunderttausend solcher Videos auf Youtube, die toten Freunde von Freunden, wie sie ein paar Tage, Wochen, Monate vor ihrem Tod waren; nachdem Marc sich umgebracht hatte, schaute ich mir ja auch wochenlang die Torpedo Boys-Videos an und dachte: Ich kann mich kaum noch erinnern an dich, obwohl es gar nicht so lange hergewesen war.

Irgendwann in den letzten Wochen über die grauenhafte Lebensgeschichte des amerikanischen Folkmusikers Jackson C. Frank gestolpert. Als er elf war, verbrannte er fast bei einem Feuer in seiner Schule, das Trauma, das sich dabei in ihn brannte, wurde er nie wieder los. Während der Aufnahmen zu seiner einzigen Platte bat er, hinter einem Schirm sitzen zu dürfen, er könne nicht spielen, «wenn ihr mich anschaut», bald nach ihrem Erscheinen suchte ihn eine Schreibblockade heim, er kehrte von London zurück in die USA, verkroch sich in Woodstock und heiratete, doch dann starb sein Sohn an Mukoviszidose, und er ging endgültig an die Schwermut verloren. In den frühen 90er Jahren spürte ihn ein Fan in New York auf und besorgte ihm, obdachlos geworden, chronisch krank und kaum noch fähig, seine alten Songs zu singen, einen Platz in einem Altersheim in Woodstock, doch kurz vor seiner Abreise aus New York schoss ihm ein Kind, das in der Nähe der Bank, auf der er saß, mit einem Luftgewehr spielte, eine Kugel ins linke Auge. Danach war er für die paar Jahre, die ihm noch blieben, blind.

Als ich wissen wollte, wie dieser unglückliche Mann ausgesehen hat, las ich auf einer Tribute-Page, dass es von Jackson C. Frank nur 12 Sekunden Film gibt, 1965 in einem Londoner Folk-Club aufgenommen und in einer BBC-Sendung versendet. Auch sie stehen auf Youtube. Das fand ich gut.