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Totalschaden Zu Na Hongjins The Yellow Sea

Von Ekkehard Knörer

© 20th Century Fox

 

In Südkorea ist ein Meister vom Himmel gefallen. Den Eindruck kann man gewinnen, denn ein Debüt wie Na Hongjins The Chaser (2008) hat die internationale Festivalszene lange nicht gesehen. Der Film lief mitternachts in Cannes, der Nachfolger The Yellow Sea schaffte es 2011 dann schon in die prestigeträchtige Reihe Un Certain Regard. Das Erstaunliche ist: Von Null auf Hundert macht hier ein Genre-Auteur sein eigenes Ding, stilsicher, handwerklich perfekt und mehr als eigenwillig dabei. In Wahrheit fallen aber auch in Korea keine Meister vom Himmel, eher schon handelt es sich um die Erfolgsgeschichte einer Institution. Regisseur Na Hongjin und sein Kameramann Lee Minbok haben an der staatlichen Kunsthochschule K-Arts studiert, die Abteilungen für Musik, traditionelle koreanische Künste, Theater, Tanz, Kunst und eben Film (mit einem wichtigen Schwerpunkt bei der Animation) hat. Sie ist eine Gründung der wiedererstarkenden Demokratie im Jahr 1993, die Filmabteilung existiert als erste Filmhochschule des Landes seit 1995, das koreanische Kinowunder, das sich trotz mancher Krisen Jahr für Jahr fortsetzt, hat inzwischen also auch einen Zukunft eröffnet.

Mit dem Klischee des Akademischen oder mit Arthouse freilich haben die Filme von Na Hongjin nichts zu tun. Man denkt nicht an Hong Sangsoo oder Lee Changdong, am ehesten noch an Park Chanwook circa Sympathy for Mr. Vengeance, also bevor er sich in Richtung spekulativer Angeberfilme aus dem Kreis der interessanten koreanischen Regisseure verabschiedet hat. Na bewegt sich im Kriminalgenre, darum sind die Umrisse der erzählten Geschichten per definitionem nicht neu; neu ist dagegen, wie Na sie erzählt.

Der Held von The Chaser ist ein unehrenhaft aus dem Dienst geschiedener Cop namens Joongho, der sein Geld nun als Zuhälter verdient. Er muss mit ansehen, wie eine seiner Prostituierten nach der andern verschwindet. Er hat einen Freier im Verdacht, dass der sie verkauft, und bittet seine Ex-Kollegen um Hilfe. Die aber haben gerade eigene Sorgen: Der Bürgermeister wurde bei einem Besuch auf dem Markt mit Scheiße beworfen und keiner der Sicherheitsleute hat es verhindert.

So begibt sich Joongho selbst auf die Jagd. Zu Fuß, er hat einen Schlüsselbund, eine Telefonnummer, aber kennt nicht die Adresse des verdächtigen Mannes. Der Zufall kommt ihm zu Hilfe in Gestalt eines Autounfalls. Weil er nicht weiß, wo sonst hin mit ihr, begleitet die kleine Tochter der verschwundenen Prostituierten als einziges vollkommen unschuldiges Wesen unter schuldlos und schuldig Schuldigen ihn überallhin. Die Wahrheit, das weiß der Zuschauer längst, ist schlimmer als Joongho zunächst denkt: Der Freier ist mit Hammer und Meißel zugange, ein Serienmörder, der die Toten in seinem Garten verbuddelt. Der Ex-Cop und die immer zu spät eintreffende Polizei kommen ihm auf die Spur, haben jedoch keine Beweise. Weil Joongho den Verdächtigen schwer verprügelt, kommt der wieder frei, mit den zu befürchtenden schrecklichen Folgen.

Wie das Debüt ist auch der Nachfolger The Yellow Sea ungewohnt lang. In deutsche Kinos kommt die um mehr als zwanzig Minuten gekürzte amerikanische Fassung (Fox International hat koproduziert), auch sie hat noch 140 Minuten. Die Länge der Filme ist Konsequenz einer eigenwilligen, aber gerade nicht auf Expansion oder auf Langsamkeit bedachten Erzählökonomie: Es ist gerade nicht so, dass Na sich viel Zeit lässt oder immer noch etwas weiteres in den Blick nimmt. Er ist ein Regisseur, der seine Szenen hoch auflöst, dem oft ein Sekundenblick aufs Detail genügt, einer, der nicht selten elliptisch erzählt, der zwischen Action- und Dialogsequenzen keinen großen Unterschied macht.

Worte wie Axthiebe, Axthiebe wie Autocrashs, Sex wie ein Handgemenge, die Leute fressen, als wollten sie ihre Speisen noch einmal töten, Perspektivwechsel immerzu, kein Blick gilt und hält lang, in beiden Filmen geht es um Menschen, die auf der Jagd sind, die gejagt werden, das alles in Bildern, die keine Stabilität und Sicherheit gewähren, wobei die ganze Welt fast bis zuletzt präsent bleibt als Welt, die da wäre abseits und jenseits der Jagd. Sie scheint auf im Hintergrund und in kurzen Seitenblicken aufs ganz und beruhigend Banale (eine Wurst am Stiel, eine Zigarettenpackung) oder auch in verwischten und verwackelten Träumen des Helden. In diese andere, diese normale, diese viel ruhigere Welt sehnen sich die vom Fluch und der Schuld getroffenen Figuren zurück. Aber jeder Schritt führt nur Richtung Abgrund, die Axt in der Hand, das Mädchen, das viel zu viel zu sehen bekommt, auf dem Beifahrersitz. Jeder Versuch, sich zu (er)lösen, hat weitere Verstrickung zur Folge.

Zu Beginn von The Yellow Sea erzählt der Held Gunam aus dem Off eine Episode aus seiner Kindheit. Ein tollwütiger Hund starb und wurde begraben und die anderen Hunde gruben ihn aus und fraßen ihn auf und es verbreitete sich die Tollwut aufs Neue. Diese Allegorie ist buchstäblich zu nehmen. The Yellow Sea ist ein Film, der von menschlicher Tollwut erzählt, mit viel Grimm und viel Blut, bösem Humor, abstrusen Todesfällen und -stürzen, zerstückelten und zermatschten Leibern. Eine Geschichte von menschlicher Tollwut, die solange wütet und metzelt, bis kaum einer übrig ist und nichts bleibt als Erschöpfung, die Stille der See.

Es beginnt harmlos genug, in der chinesischen Provinz Yanbian jenseits der Nordgrenze von Nordkora, benachbart auch Russland, in der seit Jahrzehnten viele Koreaner im Exil leben, unter Chinesen. Der Koreaner Gunam fährt hier Taxi und führt eine eher desolate Existenz. Er hat sich verschuldet, um seine Frau nach Südkorea zu schicken, wo sie Geld verdienen soll für eine bessere Zukunft. Die Schulden holen ihn ein in Gestalt eines Gangsters, der ihm ein Angebot macht, das er kaum ablehnen kann: Ein Auftragsmord in Seoul und Gunam ist von seinen Schulden erlöst. Wie Gunam sich da auf die Reise macht, in Boote gesteckt wird, in China noch einmal strandet, wie also diese Bewegung nicht einfach durch einen Schnitt abgekürzt wird, das gehört zu Nas bezwingender Erzählökonomie.

Es gehört auch das Repetitive dazu. Das Ausbaldowern der Tat, Nacht für eiskalte Nacht, mit Wurst am Stiel, dafür ist Zeit. Das mit dem Mord geht dann schief, obwohl das Opfer am Ende doch tot ist. Danach Überstürzung, Anreise des Drahtziehers mit Mördertruppe, Tumult. Gangster jagen Gangster, die Polizei fährt – während Gunam nur noch rennt – die eigenen und andere Autos zuschanden, viele, Schuldige, Unschuldige, Halbschuldige sterben, im Kampf aller gegen alle, sie sind tollwütige Hunde. Das hat aber nicht einfach nur Wucht. Es ist dazwischen immer auch Luft, weniger für Augenblicke der Erholung als für Momente einer anderen Wirklichkeit, für Blicke auf das Geschehen, auf Räume, die wie gar nicht vom Genre und seinen Regeln affiziert scheinen.

Unvergesslich ein reines Affektbild in The Chaser. Im Regen, der irgendwann anfängt und gar nicht mehr aufhört, fährt Joongho mit der kleinen Tochter der verschwundenen Prostituierten im Auto durch die nächtliche Stadt. Sonst ist das Mädchen immer friedlich und ruhig. Nun aber sieht man sie von außen durch die Scheibe hindurch weinen und schreien, die Verzweiflung, das Unglück selbst. Man hört den Schrei aber nicht, der umso realer wird, als dies wieder in mehrere Einstellungen aufgelöste Bild zu sagen scheint, dass der Schmerz, über den das Genre gerne hinwegsieht, weil es ihm um die Lust des Plots und der Spannung und der Gewalt geht, dass dieser Schmerz kaum darstellbar ist und am ehesten darstellbar wird, indem man ihn aus dem Zusammenhang von Geschehen und Realton herauslöst für solche Momente, die von allen Erwartungen an die Mechanik dieser Sorte Geschichten befreit sind.

Doch dann geht es weiter. Die Tragik in Nas Filmen besteht darin, dass der Mensch, der eigentlich frei sein will, an die Mechanik des Plotzusammenhangs, als wäre diese das Leben selbst, immer zurückfällt. Da liegt aber der humane Kern, auch als Reflexion auf Genrefilme an sich: Man erlebt dieses Reißen der Figuren in Richtung Abgrund als Schmerz und Verhängnis. Eine Freiheit, die auch das Befreitsein vom Verlangen nach Fortgang und Plot wäre, bleibt aber auf der Rückseite von Handlungslogik und Verfolgungsjagd sichtbar und beinahe ist sie am Ende erreichbar, wenngleich nur als Erschöpfung, als Stille der See.