spielfilm

12. Dezember 2008

Revision des Heldenbilds Über Rab Ne Bana Di Jodi von Aditya Chopra

Von Ekkehard Knörer

© Yash Raj Films

 

Anagnorisis (griechisch «Wiedererkennung») bezeichnet in der griechischen und römischen Literatur den Umstand, dass sich zwei Personen wiedererkennen. Nach der Poetik des Aristoteles (Kap. 11) ist die Anagnorisis eines der drei Grundelemente (gr. mére, «Teile») des komplizierten (wörtl. verflochtenen) Plots (gr. mythos peplegménos) – neben Peripetie und schwerem Leid (pathos). Er definiert sie als Umschlag von Unkenntnis in Kenntnis (gr. ex ágnoias eis gnôsin metabolé). (Wikipedia)

 

Ein Mann verliebt sich, auf den ersten Blick. Die Frau, in die er sich verliebt, verliert ihren Bräutigam und ihren Vater im beinahe selben Moment. Am Totenbett wird darauf eine Ehe geschlossen zwischen zwei denkbar Ungleichen. Er ist ein kleiner Angestellter, im Japanischen (das später noch eine Rolle spielen wird) hieße das salaryman. Sein Arbeitsplatz: eine kleine Bucht im Großraumbüro, er nimmt als Angestellter des Stromkonzerns «Punjabi Power» Kundenanfragen entgegen. Er ist mittelalt, herzensgut, langweilig, schüchtern, trägt Schnurrbart und Brille und hat noch nie, wie er offen gesteht, eine Frau geliebt oder auch nur berührt. Sie ist jung, selbstbewusst und strahlend schön und ihr Blick fiele, wären die Umstände andere, niemals auf ihn.

So aber treten sie, dem letzten Wunsch ihres Vaters, der sein Lehrer war, folgend, in den Stand der Ehe. Aufgestoßen wird in der ersten Szene des Films die Tür zu seinem, nun ihrem gemeinsamen Haus – Regisseur und Autor Aditya Chopra ist noch immer ein großer Meister der Eröffnung von Szenen; hier aber viel subtiler als zuletzt, vor acht Jahren, in Mohabbatein. Für sie, Taani (Debütantin Anushka Sharma, umso hinreißender, je länger der Film dauert), die Aussicht auf finstere Zeiten. Für ihn, der die Frau, die er liebt, als Ehefrau nicht zu berühren wagt, Himmel und Hölle zugleich. Die Hölle in den Himmel zu verwandeln, ist, was der Films sich zur Aufgabe macht. Sie sollen einander erkennen. Der Umweg ist, wie in allen Komödien, das Ziel.

Der Ort: Amritsar, Hauptstadt der Sikh-Religion, einer spezifisch indischen (noch spezifischer: pundschabischen) und ausdrücklich kastenfeindlichen Variante des Monotheismus. Grandiose Totalen des «Goldenen Tempels», des Sikh-Hauptheiligtums, rahmen den Film an Anfang und Ende und Mittelzäsur. Auch Taani und Surindher sind Sikhs und die im Film entfaltete Liebestheorie, die in der Frau den Gott sucht und Gott in der Liebe findet, bezieht sich mehr oder weniger frei auf die frauenverehrenden Lehren des Religionsstifters Guru Nanak.

Ernst macht der Film mit dem niedrigen Sozialstatus seines Helden; wenn auch, versteht sich, im Rahmen des Bollywood-Zeichensystems. Fern also von Sozialrealismus, aber voller Signale, die niedrigen Status bedeuten. Selten hat man in einem Mainstream-Film des indischen Kommerzkinos gleich zu Beginn so vergleichsweise ungeschönte Bilder von Großstadtalltag und Armut gesehen. Selten auch einen Nebenhelden, der so, wenn auch diesseits des Ausdrücklichen, schwul ist.

Überhaupt eine grandiose Figur, dieser beste Freund Surindhers, Dreh- und Angelpunkt des Tragikomödien-Plots, der bald in Gang kommt. Auf den ersten Blick nur der Mann des Comic Relief, Agent der Abmilderung des periodisch aufwallenden Pathos' in leise (und laute) Ironie. Dieser rein funktionalen Figur des Friseurs Bobby Khosla (Vinay Pathak) aber gibt nicht nur ihr Darsteller, sondern auch Chopras Drehbuch Leben. Die Funktion Bobby Khoslas. Er verwandelt und verdoppelt den Helden. Sein Friseursalon ist die Garderobe, in der aus dem Langweiler Surinder dessen Gegenbild wird, der coole Raj -mit engen Hosen, schrillen T-Shirts, steilem Haar und schnittiger Brille.

Als Gegenbild seiner selbst wird Raj um die eigene Frau. Beim Tanz. Aus Bombay nämlich kommt eine hyperzeitgenössische Tanzschule in die Stadt und veranstaltet Kurse mit abschließendem Wettbewerb. Taani bittet den Ehemann um die Erlaubnis zum Tanzkursbesuch. Der gibt sie und schlüpft mit Hilfe des Freunds Bobby in die Gestalt seines Gegenbilds. So kommen sie, im Abseits der Ehe, einander nahe, ohne dass sie nur ahnte, wer er eigentlich ist.

Wer er eigentlich ist, kann man andererseits auch nicht erfassen, ohne die Geschichte der Zusammenarbeit zwischen Regisseur Chopra und seinem Star SRK zu kennen. Im Jahr 1995 gelang den beiden mit dem Film Dilwale Dulhania Le Jayenge einer der größten Erfolge der indischen Kinogeschichte. Es war das Debüt Aditya Chopras, des Sprosses der Dynastie Chopra, die zu den großen Familien der noch immer im wesentlichen Clan-artig organisierten Bollywood-Industrie gehört. Yash Raj, das waren durch die Jahrzehnte vor allem der Regisseur B.R. Chopra (der Anfang November diesen Jahres verstarb) und sein Bruder Yash Chopra, beide Garanten für Qualitätskino im Mainstream-Format. Ohne diesen Bezug, ohne die genauste Kenntnis der Geschichte des indischen Kommerzkinos wären die Filme von Yashs Sohn Aditya nicht vorstellbar. Alle Geschichten, alle Muster, alle Topoi sind ihm vertraut. In vielen von ihm produzierten und auch geschriebenen Filmen erfüllt er die Erwartungen einfach nur perfekt und punktgenau, so zuletzt im auch in deutschen Kinos gelaufenen Veer Zaara, für den er – Regie führte sein Vater – das Drehbuch schrieb.

In seinen eigenen Filmen jedoch will er immer auch anderes und mehr. In Mohabbatein inszenierte er das Verhältnis der beiden Superstars Amitabh Bachchan und Shah Rukh Khan als Generationenduell und Allegorie indischer Modernisierungskonflikte. Ideologisch landete der Film selbst etwas zu kompromissbereit in der Mitte. Rab Ne Bana De Jodi schließt an diese Vermittlungsbemühungen zwischen traditionellem und modernem Indien vielfach an, vergisst überm Allegorisieren aber andeutungsweise nicht mal den eher grauen Arbeitsalltag im Großraumbüro. (Es ist offenkundig, dass Aditya Chopra mindestens in den Motiven sehr bewusst auch Anschlüsse sucht ans marxistisch inspirierte Bollywoodkino der fünfziger und sechziger Jahre, von Raj Kapoor wie Bimal Roy.) Zugleich unternimmt er eine interessante Revision der längst mythischen Figur des Raj Malhotra aus «DDLJ», der dort als großmäuliger und verwöhnter Slacker in Europa die Tochter eines im Exil lebenden konservativen Sikh zur Liebe verführt.

Die in RNBDJ vorgenommene Revision macht nun aus dem irrealen Idol Raj den fingierten Werkstattbesitzer Raj Kapoor (sic!), der in Wahrheit ein ins Coole bloß verkleideter Normalo und Langweiler ist. Als Ort und Raum, der für die Träume von Glamour und Glanz übrig bleibt, wird völlig realistischerweise das Kino ins Zentrum gerückt. Das ist das einzige Vergnügen, das das keusch in getrennten Zimmern und Betten und an entgegengesetzten Enden des Tisches lebende Ehepaar sich leistet und gönnt. Zu den ironischen Verkehrungen auch der Geschlechterverhältnisse gehört, dass die Ehefrau wüste Action schätzt (mit Gusto von Chopra eigens selbst inszeniert) und der Ehemann eher die Sachen fürs Herz.

Das Kino ist aber auch der Raum, in dem beide von Alternativversionen ihrer eigenen Leben träumen. Für Chopra die Gelegenheit eines sich beinah verselbständigenden Glamour-Einschlusses in Form einer überbordenden und atemberaubenden Song-and-Dance-Extravaganza, in der Shah Rukh Khan unter anderem eine famose Chaplin-Hommage hinlegt - die, natürlich, auch eine weitere Hommage an den indischen Chaplin und, im Klassiker Awaara, mittellosen Stromer Raj Kapoor darstellt. Der Film ist voller solch raffinierter, oft sehr ambivalent lesbarer Anspielungen, die aber fast immer Bezüge herstellen zum zentralen Motiv der Revision des Bollywood-Heldenbilds. Bezüge, Verweise, Anspielungen und selbstreflexive Kommentare, die sich, anders gesagt, niemals verselbständigen und bloßer – keineswegs übler – Meta-Fun werden wie zuletzt in Farah Khans Om Shanti Om.

Die eigentliche Pointe dieser Extravaganza jedoch ist die mise-en-abyme dessen, was RNBDJ als ganzer ohnehin ist: eine Aufhebung der jüngeren (und sogar der älteren) Bollywoodgeschichte in der historisch aufgefächerten Star-Persona von Shah Rukh Khan. In den einzelnen, jeweils mit immensem Aufwand inszenierten Episoden auf der Leinwand im intradiegetischen Kino des Films begegnet SRK im Tanz den wichtigsten Filmpartnerinnen von früher. Als da wären: Kajol aus DDLJ, Preity Zinta aus, zum Beispiel, Dil Se, Rani Mukherjee aus, zum Beispiel, Veer Zaara. Alle sind da, alle sind sie aufgehoben im Film, der sie zugleich, sicher nicht für immer, auch wieder verabschiedet. Auch im Rest des Films wimmelt es von teils ganz ausdrücklichen Bezügen auf Muster der Filmi-Geschichte. Aditya Chopra aber ist, wie alle Meister des Mainstream-Kinos, ein Alchemist, der alles mit allem verschmelzen kann. Darum wird nie ein Zitaten-Kino draus. Alle Referenzen und Reverenzen werden mobilisiert für die sehr einfache – aber alles andere als simple – Geschichte, die RNBDJ auf der Handlungsebene erzählt.

Eine Komödie, in der es um nichts anderes als das Erkennen geht. Um Zeichen der Liebe, um Erscheinung und Wesen, um Projektionen und den trügenden Schein. Da die philosophische Pointe mit der Auflösung der Geschichte in eins geht, sei sie hier nicht verraten. Die an dieser Stelle im Text verbliebenen Bollywood-Fans unter den LeserInnen werden ohnehin längst stöhnen, wenn nicht erbost fragen: Kann der Knörer nicht einfach sagen, dass das ein mitreißender, zwischen absurder Komik und Action und Rührung und genauer Detailbeobachtung hin und her und auf und ab wogender Film ist? Ein instant classic des Bollywood-Kinos? Und dass Shah Rukh Khan eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass er seinen Status als Superstar mehr als verdient? Und dass jeder, der auch nur irgendwie empfänglich ist für die Reize des kommerziellen Hindi-Kinos, sich Rab Ne Bana Di Jodi unbedingt ansehen sollte?

Doch, kann er. Genau darauf wollte dieser Text nämlich hinaus.

(82 Cargopunkte)