spielfilm

29. Mai 2013

Die Position des Kindes Ist ein anderes Rumänien möglich? Zu Mutter & Sohn

Von Markus Bauer

Mutter und Sohn

© X-Verleih

 

Ein kurzes Aufstöhnen, ein zischendes verächtliches Lachen – bei der Vorführung von Mutter und Sohn im Berlinale-Palast waren sie bei fortschreitender Länge des Films immer häufiger im Publikum zu hören. Mißbilligung der Hinterlist und Verlogenheit der Hauptfigur, der Mutter. Offensichtlich ging Călin Peter Netzers Konzept auf – die gezeigte Geschichte provoziert zur eindeutigen Positionierung, holt bei den Zuschauern und vor allem den Zuschauerinnen erwartbare Reaktionen ab: So ist frau nicht, so will frau nicht sein, das ist nicht konform mit der westlichen Mutterrolle, so werden höchstens Schwiegermütter als Klischee gezeichnet. Eine Mutter, die ihr einziges «Kind» (der Sohn ist mittlerweile um die 30) und dessen Umgebung permanent manipuliert. Und die scheinbar völlig kontrolliert den Unfall des Sohnes aufnimmt, bei dem dieser ein 14-jähriges Kind getötet hat, um das Unglück zum Anlass für Bestechungen, Beeinflussungen und diverse Strategiespiele zu nehmen.

Dass das Berlinale-Publikum so spontan auf den Film reagierte, ist der Brillanz der Schauspieler, allen voran Luminiţa Gheorghiu als Mutter Cornelia und Bogdan Dumitrache als Sohn Barbu, zu verdanken, die das gemeinsame Skript von Netzer und dem die gegenwärtige «Nouvelle vague» des rumänischen Films maßgeblich stützenden Răzvan Rădulescu (Moartea domnului Lăzărescu, Marfa şi banii, Marţi după Crăciun) in atemlos zu beobachtende Nähe verwandeln. Man lässt sich sofort auf diese Geschichte und ihre «Fallhöhe» ein, sie ist verständlich, weil universal, sie bietet den ZuschauerInnen eine fast bequeme Rollenübernahme – und dennoch ist das Publikum am Ende mitgenommen von dem nicht nur «individuell-menschlichen» Drama, das hier durch die die Zuschauer in die Geschichte sofort hineinsaugende Handkamera von Andrei Butică und dem anschmiegsamen Schnitt von Dana Lucreţia Bunescu geboten wird.

Angesichts der Hiobsbotschaft nicht in Emotionen auszubrechen, sondern nur das Gesicht etwas stärker zur Maske zu festigen, leicht zu erstarren, und in dieser Position fast den kompletten Film überzeugend zu bestreiten, macht die seltene Kunst der Gheorghiu aus. Anfangs sehen wir Cornelia bei ihrer Geburtstagsfeier, tanzend, lachend – im Rahmen der semi-«haute volée», die sich da lärmend in großzügiger Umgebung eingefunden hat. Der Sohn ist nicht gekommen, die Erklärungen hierfür gehen im Small Talk schnell unter, aber bereits vorher wurde im Gespräch mit der Freundin/Schwägerin Klartext geredet: Der Sohn beschimpfe die Mutter dauernd mit deftigsten Flüchen, beschwert sich Cornelia, er möchte nichts mit ihr zu tun haben, er wolle sein eigenes Leben mit seiner Freundin, die zur natürlichen Hauptfeindin der Besitz ergreifenden Mutter wird.

Eigentlich ein Sujet, das heute hierzulande (in einer politischen Konstellation, in der die Bundeskanzlerin als «Mutti» bezeichnet wird) wohl kaum jemand inszenieren wollte und könnte – wegen Klischeegefahr, wegen längst erledigter gesellschaftlicher Generationenauseinandersetzungen, wegen Demonstration moralischer Eindeutigkeiten, die in der Post-Post-Moderne kein eigentliches Thema mehr sind.

Dagegen steht der Eindruck, dass die von Regisseur und Verleih verständlicherweise betonte Auffassung von der universalen Bedeutung des Sujets zunächst einmal vor allem eine rumänische bzw. am rumänischen Beispiel am überzeugendsten zu illustrierende ist: Rumänien kann als eine von der Mutterrolle maßgeblich geprägte Gesellschaft betrachtet werden, die ihr befreiendes «1968» auch nicht durch die dubiose «Revolution» von 1989 erlebt hat – mithin bis heute auf die neue Generation wartet, die die Vergangenheit endlich hinter sich lässt. Die «mama» (so lautet das rumänische Wort für «Mutter», was auf Deutsch wiederum eigene Konnotationen hat) besitzt in Rumänien einige Vorrechte, die im Film von Cornelia eingefordert, aber selbst angesichts des von ihr bis zum Ersticken geliebten Sohnes nie reflektiert werden. Das einzige, was bei ihr funktioniert, ist der Machtmechanismus, mit dem sie ihre Mutterrolle ausgestattet sieht.

Brillant wird von Netzer die Beziehung der Mutter zu ihrem Mann, dem Chirurgen Aurelian (Florin Zamfirescu) in wenigen Einstellungen angedeutet. Auch er ist um den Sohn besorgt, leitet Maßnahmen ein, würde den Sohn aber am liebsten auf eigenen Füßen stehen sehen, ist nach langen Jahren der Ehe im Umgang mit seiner Frau ironisch-resigniert. Dass er ohne realen Einfluß auf ihr Verhalten bleibt, ist ihm vielleicht wenig bedeutsam, da er andere Interessen und Perspektiven besitzt.

Der Sohn ist ein hilfloses Wrack, nicht nur weil er unter Schock steht, sondern schon vor dem Unfall schleppte er eine regelrechte «Bacillophobie» mit sich, die seine durch die permanente Umsorgung durch die Mutter verursachte psychische Disposition andeutet. Er durchschaut zwar ihre Manipulationen und wehrt sich dagegen in drastischer Sprache, aber bezweckt damit nichts – ein rumänischer «rebel without a cause» in status nascendi.

Die Zeichnung der «gehobenen» gesellschaftlichen Umgebung seiner Protagonisten gewinnt im Film an Tiefenschärfe durch die feine Analyse der sozialen Abstufungen, die der Fall bereit hält. Bereits in einer frühen Szene unterhält sich Cornelia betont freundlich mit ihrer sich abwehrend verhaltenden Putzfrau. Diese erkennt die Absicht der dominanten Mutter, von ihr Informationen zu gewinnen, was sich in der Wohnung des Sohnes tut, wo die Frau ebenfalls putzt. Dieses Spiel um Wörter, Gesten, Geschenke, Annahme und Widerwillen ist grandios und wiederholt sich im Gespräch Cornelias «von Frau zu Frau» mit der Freundin des Sohnes. (Hier gab es wohl die meisten Zischlaute und höhnischen Lacher bei der Berlinale-Vorführung.) Die Freundin eröffnet der Mutter, dass sie sich wohl von dem Sohn trennen werde, weil dieser kein Kind wolle, und es resultiert eine erstes Einvernehmen der beiden Frauen über das weitere Vorgehen in Sachen Barbu.

Die äußerst subtile und realistische Inszenierung dieser Gespräche gibt einen guten Einblick in jene dominierenden Verhältnisse, die am Schluss in der Konfrontation mit der Familie des getöteten Kindes noch einmal ein schlagendes Licht auf die eigentliche Lage des Landes mehr als 20 Jahre nach der vermeintlichen «Revolution» von 1989 werfen. Der inszenierte gesellschaftliche Realismus des Films liegt bereits im Stoff begründet: In den Jahren eines individuell zum Teil erheblich gestiegenen Reichtums haben sich in Rumänien immer wieder «Verkehrsunfälle» ereignet, in denen die BesitzerInnen westlicher PS-Boliden brachial das Leben rumänischer Dacia-FahrerInnen auslöschten, ohne dafür allzu drastisch bestraft worden zu sein. 2004 tötete die Ehefrau des früheren Ceauşescu-Hofsängers und Lyrikers Adrian Păunescu drei Menschen bei einem fahrlässig herbeigeführten Zusammenprall ihres SUV mit weniger bemittelten Landsleuten; der einzig überlebenden Tochter der getöteten Familie vermachte die die Unfallverursacherin reichliche Geldzahlungen. 2011 fuhr der junge TV-Moderator Şerban Huidu mit seinem Jeep ebenfalls drei Menschen in ihrer Dacia zu einer leblosen Masse; der Filmregisseur Cristian Nemescu (California Dreaming) wurde 2006 in Bukarest mit seinem Tonmeister Andrei Toncu und dem Taxi-Chauffeur von einem britischen Porsche-Fahrer getötet (der zu einer sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde). «Reich gegen arm» zeigt sich in Rumänien auch als Machtdemonstration im Autoverkehr und erst recht bei der juristischen Aufarbeitung der Kollateralschäden einer verzweifelt «normal» werdenden Gesellschaft. (Geradezu hingebungsvoll akribisch erläutert der am tödlichen Überholvorgang Barbus beteiligte andere Autofahrer das Zusammenspiel von Maschinen, Menschen, Geschwindigkeit und moralischen Fragen, die er durch eine hohe Geldsumme – «in Euro» – ausgeglichen sehen möchte.)

So kommt am Ende des Films das eigentliche Thema jenseits von Cornelias Manipulationen wieder in den Fokus: ein Kind ist im Straßenverkehr getötet worden, ein reicher Autofahrer ist schuldig, zwei Familien trauern: Auch Cornelia trauert – um ihren Sohn. (Erstaunlicherweise ist dies eine der in den realen Fällen ebenfalls vielfach anzutreffende Reaktion: Man zeigt Verständnis und Mitleid mit den schuldigen AutofahrerInnen und ihren Familien.) Das von der Mutter gezielt gesuchte Gespräch mit der Familie des getöteten Kindes, um ihr Geld für die Beerdigung anzubieten und sie vielleicht von der Anklageerhebung abzuhalten, zeigt die Klimax des Selbstmitleids und der Realitätsverweigerung Cornelias. Sie gibt ihre Selbstbeherrschung auf und weint mit der Mutter des Kindes – aber aus diametral entgegengesetzten Gründen. Hier ist sie entblösst, sie muss ihre Selbstsucht zeigen, die Irrealität ihres Blicks auf ihr eigenes Kind, die sie unfähig macht, das Leid der anderen Mutter wirklich anzuerkennen.

Am Schluss veranlasst Cornelia den Sohn zu einer (eigenen?) Geste der Entschuldigung. Ein Anfang von Selbständigkeit? Der Beginn einer vagen Revolte? Obwohl durch die Mutter manipuliert, erhebt sich der schuldig gewordene Sohn zu einer eigenständigen Handlung – die matriarchalische Zumutung überschreitend erscheint ein anderes gesellschaftliches Miteinander möglich. Eigene Schuld wird eingestanden und anerkannt, nicht mehr nur als Teil der Manipulationsstrategie und Korruptionslegitimierung der Mutter.

Die Position des Kindes in Rumänien – im Jahre 25 nachdem die verhasste Diktatorin Elena Ceauşescu vor ihrer Exekution die sie bewachenden Polizisten als «meine Kinder» ansprach.