spielfilm

1. Juni 2023

Bertrand Tavernier

Von Ekkehard Knörer

L'horloger de Saint-Paul

L’horloger de Saint-Paul

© Studiocanal

 

L’horloger de Saint-Paul (1974)

Sich mit den Drehbuchautoren Jean Aurenche und Pierre Bost zusammenzutun, jenen also, die Truffaut einst strategisch brutal als Verderben des französischen Kinos ausgemacht hatte, den Film am Ende dann Jacques Prévert zu widmen, ist Ansage Nummer eins. Ein Nicht-Maigret Simenons als Vorlage, also keiner der von der Nouvelle Vague geschätzten Série-Noir-Fatalisten, sondern der störrische Menschenversteher, im Zentrum des Buchs nun seinerseits ein braver Bürger, der den Sohn, der getötet hat, über diesen Abgrund hinweg versteht und versteht: Ansage Nummer zwei. Als Ort der Handlung nicht Paris, sondern Lyon, die Heimat Taverniers, die Stadt, die hier keine Nebensache ist, sondern eine Hauptsache, die zum Sitz anderer Hauptsachen wird, Lyon, seine Gassen und Kirchen, die Saone und das Grüne, die Totale ohne Menschen, Geschichte eher in Jahrzehnten gerechnet, darin die Individuen in den Kneipen, in den Autos, in den Läden, für die jede Minute vergeht, das Leben als Ticken, ein Protagonist, der Uhrmacher ist. Einmal ein Schwenk von den Figuren, denen die Kamera folgte, zur Seite, zum Fluss hin, kein Mensch zu sehen, keine Geschichte, hinter der es her zu sein gilt, ein Schwenk wie ein Ausatmen, Verharren, einfach Lyon. Charakteristische Kamerabewegung im Umgang mit Menschen, die eine andere Materie sind als die Stadt: das langsame, vorsichtige, leise Zoomen, ein Näher-Heran, das nie aufdringlich wird, das spüren lässt, dass nicht nur vor der Kamera, sondern auch dahinter Individuen sind. Davor, ein Ereignis, Philippe Noiret, mit Haut und Haar, Verdruss und Entschluss der Biedermann Descombes, der über dem Verbrechen des Sohns zugleich radikal offen und radikal unbeugsam wird, was auch Jean Rochefort als Polizist sehr imponiert. Einer, der sich von der Seite nähert, und das tut der Film auch, den ganz buchstäblich die Hintergründe interessieren, ohne dass er sie dafür zu sehr in den Vordergrund holen müsste: Hintergründe wie die (Streik-)Politik und Tapeten, Kunst und Kneipenambiente, der Knast, das Café am winzigen Flughafen, der kaum mehr ist als ein Rollfeld. Alles fast immer in Fernsehausleuchtung, keine akzentuierende, Dinge in den Schatten rückende Lichtsetzung, nichts, das Kino groß buchstabiert, die Mise-en-scène will keine Stars produzieren, alles hat Teil und verteilt sich, alles ist von Gewicht, körnig ist das Bild, weil die Realität selbst körnig ist. Effets du réel, in denen ich gerne versänke.

 

Que la fête commence (1975)

Eine wilde Jagd, zu Pferde, zu Kamera, an einem Steilufer in der Bretagne. Dann an den Hof von Paris. Hier ist nach dem Tod Ludwigs XIV. und dem einer Reihe potenzieller Thronfolger eine Zeit des Interim: Philippe II. d'Orléans herrscht als Regent, bis Louis, noch ein Kind, die Macht übernimmt. In diese Zeit, die Régence, taucht der Film ein, mit Haut und Haar und Philippe Noiret als Philippe und Jean Rochefort als Dubois, dubiose, reflektierte, lächerliche Beraterfigur mit Erzbischofambition, und ganz grandios Michel Beaune als struppiger Rebell auf verlorenem Posten in der Bretagne. Der Film taucht und er tunkt uns, hautnah an den historischen Realitäten. Philippe wird als fest- und maskeradenverliebt, sexvernarrt, insgesamt lebensgierig und reflektiert-melancholisch dabei hingestellt, was auch ungefähr hinkommt. Die Musik auf dem Soundtrack ist von ihm, drei von ihm komponierte Opern wurden auch nach dem Tod noch gespielt. Das Bild, das Tavernier (als Drehbuchkoautor wieder: Jean Aurenche) entwerfen, ist farbig, detailreich, metallbeschlagene Räder mit auf Kopfsteinpflaster blitzenden Funken, im Saal des Schlosses rennende Kinder, zwei Diener, die einem hohen Herrn einen Eimer zum Pissen hinhalten, Frivoles, Zynisches bestens dosiert, ein Wimmelbild, aber ausgebreitet auf zwei Stunden narrativer Erstreckung. Die Finanzexperimente John Laws, der Mississippi-Aktien-Skandal, all das kommt vor, nicht als Haupt- und Staatsaktion, sondern eingebettet ins Treiben, dessen Buntheit nie Selbstzweck wird, so wenig wie der immersive Sog, den es ausübt. Es geht tatsächlich um die Evokation einer Figur in ihrer Zeit, eines Atheisten, der sich als Mann des Übergangs sieht, human in seiner Dekadenz, als Person in ihrem Widerspruch ein Sympath – wenn sich am Ende der Blick weiten wird, und zwar in Richtung eines hungernden, ausgelieferten Unten, ist dennoch klar: Das muss alles weg,der softe Regent, das ganze System, man muss es anzünden, wegjagen, das ist alles reif für die Revolution. (78cp)

 

Le juge et l’assassin (1976)

Fast eine Art Remake von Que la fête commence: Historische Breitleinwand mit vielen kostümierten Details, im Zentrum aber zwei (oder drei) Männer, einer von ihnen, im Zentrum des Zentrums Philippe Noiret, er trägt den vielleicht etwas sehr sprechenden Namen Emile Rousseau. Als Richter in der Provinz, ein ehrgeiziger Mann, von sich überzeugt, seiner Frau selbstbewusst untreu, in Bett und Haus der schönen jungen Rose (Isabelle Huppert) geht er ein und aus und gibt ihr das Geld, das sie für ihre kranke Schwester braucht. Dagegen, anderes Zentrum, der mörderische Incel-Päderast Joseph Bouvier, den Michel Galabru an die Borderline zwischen Hellsicht und Wahnsinn performt. In der dritten Figur, Jean-Claude Brialy als Procureur und Freund des Richters, ist eine Reflexionsebene immer präsent (Kolonialverbrechen spielen außerdem mit hinein), als Figur, die am Ende aus allem nur einen plausiblen Schluss ziehen kann: Schuss in den Kopf. Aus der Einsicht, das legt das Buch vielleicht etwas zu deutlich sehr nahe, dass die ganze bürgerliche Welt, die sich über den Triebtäter geradezu zwanghaft erhebt, die Barbarei zum System gemacht hat und die Fratze ihrer selbst im Spiegel darum mit aller Macht austilgen muss. Wie im Vorgängerfilm setzt der Schluss ein dickes Ausrufezeichen dahinter: Es wehen die roten Fahnen, die Unterdrückten marschieren gegen die Macht. Im Freeze Frame des Schlussbilds wird lakonisch-pathetisch die Zahl der Todesopfer von Kinderarbeit genannt. 

 

Des enfants gatés (1977)

Ein Mann sucht eine Wohnung, in der er arbeiten kann. Der Mann: Michel Piccoli ist Bernard Rougerie ist ein Filmregisseur, der gerade La mort en direct gedreht hat, also Taverniers nächsten, noch nicht existierenden Film. Was Des enfants gatés dennoch nicht ist: Autofiktion der wehleidigen Art. Es geht um das Gegenteil von Narzissmus. Der Mann, der eine Wohnung sucht, um in Ruhe am Drehbuch für seinen nächsten Film schreiben zu können, findet nicht Ruhe, was nicht nur an den ständigen Werbedurchsagen aus dem Supermarkt im Erdgeschoss liegt, die durch den Lüftungsschacht zu ihm dringen. Vielmehr öffnet er die Tür, öffnet sich, wird aktiv, Mitglied eines Mieterbündnisses im neuen Haus, dem er sich anschließt. Er probt den Widerstand, gewinnt Freunde, beginnt eine Affäre. Bernard Rougerie ist verheiratet, seine Frau arbeitet als Kinderpsychologin, man sieht sie, bei dieser Arbeit, zu Beginn, aber später verschwindet sie für lange Zeit aus dem Bild. Die Frau, mit der Rougerie die Affäre beginnt, Christine Pascal ist Anne Torrini, hat bei Flammarion gearbeitet, ist jetzt arbeitslos, ist zwanzig Jahre jünger als er. Was Des enfants gatés dennoch nicht ist: ein Film, der sich vor allem für diesen Mann interessiert. Immer wieder wird die Perspektive rezentriert, auf die Frau, einmal sehr radikal, im Close-up ganz direkt an die Kamera/die Zuschauerin adressiert. Hier berichtet sie (Anne Torrini, Christine Pascal: die Schauspielerin hat einen Drehbuch-Credit) vom mühsamen und einzig von ihr selbst gefundenen Weg zum sexuellen Genuss (jouissance ist wirklich ein sehr viel schöneres Wort als Orgasmus), in atemberaubend selbstverständlichem Ton spricht Christine Pascal diesen Text, der Umschnitt auf Piccoli ist beinahe verstörend: Er war nicht das wahre Gegenüber in dieser Szene. Später, beim Sex, wird man wiederum nur das Gesicht von Christine Pascal sehen: ihre jouissance, als hätte der Mann damit wenig zu tun. Und so wichtig das Intime ist, es ist immer verknüpft mit dem Sozialen: die Gruppe, die sich gegen den Miethai solidarisiert – es gibt aber auch den Blick durch die Tür auf die Familie mit befristetem Aufenthaltsstatus, die zu gefährdet ist, sich die Solidarität leisten zu können. Der Siedlungs-, Haus-, Wohnungsbau ist der explizit gesteckte Rahmen, Prolog mit Bildern von urbanem Bruch- und Brachland, von Häuserblöcken, Vierteln und entstehenden Bauten, dazu ein schmissiger Paris-Chanson von Philippe Sarde, gesungen von Jean Rochefort und Jean-Pierre Marielle. Auf diese Makro-Perspektive wie die Mietpolitik bezieht sich der Film immer wieder zurück, so mikro und intim und alltäglich – ein Dia-Abend ohne Pointe – er mit allem Nachdruck auch wird. Eine gelegentlich auftretende Voiceover-Erzählstimme hat eher einen weiter aufbrechenden als integrierenden Effekt. Hohe Kunst des Realismus: Es hat so viel in ihm Platz, ohne narrativ zu stark gebunden zu werden. Schwebende vibrierende Teile. 

 

La mort en direct (1980)

Diese Zukunft sieht aus, fühlt sich an wie: Glasgow. Schottland. Hier ist alles gedreht. Eine Schwere und Düsternis, noch im Hellen kein Licht in den Farben. So sieht der Hintergrund aus, aber so schwer die Gebäude sind, so verlassen die Seenlandschaft, das alles bleibt Umgebung, als Jahrmarkt, als Pflegeheim mit Sorgfalt drapiert: Als world building ist es zu viel und zu wenig zugleich. Zu viel, weil Tavernier das Abstrakte nicht liegt, nicht die Dürre der Allegorie, darum wuselt es, aber es stellt sich keine zusammenhängende (andere, ferne) Wirklichkeit her. Zu wenig, weil die Zukunft politisch, sozial, auch medizinisch-technologisch unterbestimmt bleibt. Überkonkrete Bewegung im Vagen, in zu vielen Dialogen ansatzweise erklärt, ohne plausibel zu werden. Der überkompliziert ausbuchstabierte Reality-TV-Dystopie-Plot, la mort en direct, ein Filmen mit Kameraaugen als Drehen zum Tode, eine Flucht, ein Verlieben, Romy Schneider, Max von Sydow mit ihrem etwas verlorenen Englisch zwischen den US-Amerikanern Harry Dean Stanton und Harvey Keitel. Schneider, so nah an Maria Schell wie sonst nicht, und Keitel, dem man den Zyniker nicht einen Moment abnehmen kann, spielen sich etwas viel Seele aus dem Leib, die anderen tun es nicht. Die Kamera sucht Bewegung ins Freie, die Figuren wollen sich vom schlechten Zukunftsplot lösen, Tavernier hofft, dass sich in der Langsamkeit eine Stimmung eigenen Rechts einstellen könnte. Sie tut es nicht, alles hängt fest, zurückgeworfen auf die Ideen einer Vorlage, an der sich von vorne bis hinten sehr wenig reimt.

 

Une semaine de vacances (1980)

Ein Flug die Rhone entlang, gegen den Strom: Bertrand Tavernier ist zurück in Lyon. Die Kamera filmt die Stadt am Ufer des Flusses, sie fliegt, sie fokussiert im Zoom einen kleinen beigen Jeep auf der Brücke. Laurence und Pierre, sie ist die Protagonistin, Nathalie Baye, die diese Frau in der Krise mit anstrengungsloser Natürlichkeit spielt. Laurence, die Lehrerin ist, die an ihren Schülerinnen und Schülern verzweifelt, weil sie nichts als ein Zufriedensein mit Dahergesagtem und Plattitüden in ihnen spürt. Sie nimmt eine Woche Auszeit, eine Frist, in der sie überlegt, ob sie den Job einfach aufgibt, ohne konkrete Alternative. (Schreiben. Nun ja.) Die Auszeit wird Form, das Erzählen flicht wie mit dem Weberschiffchen Rückblenden in die Gegenwart ein, Abblenden unterbrechen manchmal fast abrupt den Fluss des Geschehens, nicht linear, sondern vor und zurück, es ist eher ein Gemälde als eine Geschichte, was hier entsteht. Das geht nicht ganz ohne Schematik, aber gerade das Gegeneinander von Bayes schöner, unbeladener Nachdenklichkeit und dem Nachdruck, mit dem manche Stelle gefüllt wird, hat großen Reiz. Da ist die einsame alte Nachbarin, die gleich zu Beginn ins Bild gerückt, aber erst am Ende ausdrücklich Thema wird. Da ist der Freund, der ein Kind mit ihr will, er ist eher kleinbürgerlicher Herkunft, Liebhaber versauter Wortspiele und schlechter Scherze, der aber im Fernsehen Opern sieht und den Bürgerkindern die Leviten liest, wenn er sagt: Verachtung der Kultur ist ein Luxus. Da ist der Besuch bei den Eltern, dem kranken, verlangsamten Vater, ein Ausflug in eine Leben, in das eine Rückkehr undenkbar scheint. Da ist der verwitwete Vater des Schülers, Michel Galabru, der seine eigenen Gefühle (für die unerreichbare Frau) fehlrezipiert. Und da ist der aufgenommene Faden aus Taverniers Spielfilmdebüt, Philippe Noiret schaut auf ein Abendessen vorbei, dieselbe Figur, Michel Descombes, er berichtet von seinem Sohn, nun im fünften Jahr im Gefängnis. Es gab einen Anstoß zum Film, der autobiografische Bericht eines Lehrers; daraus hat Tavernier mit seiner Frau Colo und Marie-Françoise Hans, die als Lehrerin gearbeitet hat, etwas Eigenes gemacht. Eine Frau, die sich fragt, wie sinnvoll das ist, was sie tut. Ein Film, der Sinnfragen stellt, der für das Zuhören plädiert, aber selbst keine Lehren erteilt und das Gespür für furchtbare Einsamkeit bis zum letzten Bild nicht verliert. 

 

Coup de Torchon (1981)

Jim Thompsons Roman Pop. 1280 spielt Ende der Zehner Jahre, in einem Kaff in Texas. Tavernier und erneut Jean Aurenche verlegen die Geschichte ins Jahr 1938 und, viel verblüffender, in eine westafrikanische französische Kolonie. Der psychopathische Sheriff ist Philippe Noiret, hinter dessen Schluffigkeit sich ein eiskalter Killer verbirgt; und zwar bei allem Zutagetreten und Zutageliegen so gründlich verbirgt, dass man nicht glauben will, was er tut; mit dessen Schluffigkeit man, den eigenen Augen glaubend, dennoch sympathisiert, zu sympathisieren man lange, vielleicht bis zuletzt, nicht aufgeben kann; oder will. Schon auch, weil seine Opfer so offen widerlich sind, da nimmt man den sadistischen Überschuss seiner Taten beinahe hin. Noiret als Figur, die man nicht festnageln kann, deren Konturen verschwimmen, obwohl bei Lichte betrachtet alles doch klar ist. Tavernier und Aurenche kriegen das hin, denn sie treffen einen sehr besonderen Ton, vielmehr: Töne. Ein Oszillieren, ein Gleiten oder ein ständiges Kippen vom Ernst in die Farce. Es ist lächerlich, bis ins Groteske, ein Mann stürzt buchstäblich in die Scheiße, aber das Lachen öffnet keinen Weg zum Verzeihen, es ist böse, und umso böser, als das Böse darin fast harmlos erscheint. Dieses Fast ist der Punkt, es ist entscheidend, dass alles in Unruhe bleibt, es ist kein Wunder, dass die Kamera von Pierre William Glenn durch die Gegend rumort, als ob dies ein Horrorfilm wäre. Was es auch ist, Allegorie des Kolonialismus zugleich, das Böse ist hier weniger banal als farcenhaft nonchalant, ausgesprochen gifitige Mischung. 

 

Un dimanche à la campagne (1984)

Suchend, aber nicht zögerlich, schwerelos, aber nicht geisterhaft bewegt die Kamera sich durch die Räume des Hauses, in dem der alte Mann, Monsieur Ladmiral, Maler, mit seiner Haushälterin Mercédès lebt. Er ist Witwer. Es ist die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, Ladmiral bewundert Cézanne, Caillebotte und Van Gogh und weiß, er ist keiner von ihnen. Er bescheidet sich,  Groß ist das Haus, der Garten noch größer, es kommt Besuch, es kommt Leben in die Bude, der Sohn mit seiner Frau und den drei Kindern, zwei Jungen, ein Mädchen. Die Jungs machen Lärm, machen Unfug, das Mädchen klettert auf einen Baum. Sie verbirgt sich unter einem Laken, das sich plötzlich belebt. Das Sofa im großen Zimmer, mit der Gitarre, mit einem anderen Laken, posiert: Ein Stillleben auf der Staffelei, an dem Monsieur Ladmiral sitzt. Und dann bricht ein Sturm herein, namens Irène (Sabine Azéma), die ledige Tochter, sie fährt mit dem Auto, die anderen nahmen die Bahn. Irène und die Kamera (erstmals: Bruno de Keyzer) als belebende Kräfte, der Film ist von einem Rhythmus bestimmt, bei dem auf ruhige Passagen, auf den Nachmittagsschlaf, Stromschnellen folgen wie aus dem Nichts. Aufgerührt, ein letztes Mal vielleicht, wird das Leben des Malers, der Titel des Romans (von Pierre Bost!), der die Vorlage ist, lautet: Monsieur Ladmiral va bientôt mourir. Hier wird er im Titel verschont, der friedlicher ist, aber es gibt eine Vorblende, da liegt der alte Mann tot im Bett, seine Lieben um sich versammelt. Und Rückblenden gibt es, ein Picknick im Garten, Jahrzehnte zurück, die Kinder noch klein, die Frau noch am Leben. Der Tod und das Leben, die Stille und der Lärm, Befriedung und Verlebendigung, es ist in diesem Haus an diesem Sonntag für sehr vieles Platz: Anwesende, Abwesende, es ist Raum für Blicke zurück und nach vorne, es ist Raum vor allem vielleicht für das Festhalten der Dinge im Bild und zugleich das Vergehen der Zeit. 

 

Round Midnight (1986)

Dexter Gordon, der eine Figur namens Dale Turner darstellen soll, ist etwas wie eine natürliche Grenze der Fiktion, die Bertrand Tavernier hier als Bewegungsraum schafft. Der Körper, lang, der Bauch, die ungebärdigen Zähne, das schartig x-beinige Gehen, die Stimme, die Worte und Sätze mit rostiger Winde aus Brunnentiefen hervorholt und sie in alles andere als Reih und Glied hinstellt: Dieser Körper fügt sich nicht in die Behauptung ein anderer, als der von Dexter Gordon zu sein. So steht auch das Studio-Paris des Jahres 1959 auf tönernen Füßen. Es ist alles Kulisse, und soll es sein. Kulisse für ein anderes Spiel, das echte, das wirkliche Spiel, Dexter Gordons Saxophon-Spiel. Der Musik, die auch vom Plattenspieler kommt, die extradiegetisch Soundteppiche unter Bildteppiche legt, der Musik, die aber vor allem im Club, im Zusammenspiel der Kern, das Zentrum, der Daseinsgrund dieses Films ist. Diese Aufnahmen sind dann auch essentiell dokumentarisch, Dale Turner ist Dexter Gordon, die Musiker um ihn herum, darunter Wayne Shorter oder John McLaughlin, sind Musiker, beinahe unangekränkelt von der Fiktion. Ganz anders die Figur namens Francis (François Cluzet), des Alkoholiker-Musikers Hüter, der eine Tochter bekommt, und eine Ex-Frau, und Vater und Mutter, und einen Job als Zeichner von Werbepostern für Filme (Cameo als irgendein Boss: Philippe Noiret), eine Figur also, an der alles ausgedacht ist. Francis ist diegetisch der Fan, der zum Aufpasser wird, und auch zum Freund. Im größeren Rahmen des Films ist er der Heger des nicht fiktionalisierbaren Dexter Gordon, dessen eckiger Körper in eine runde Geschichte hinein soll, ohne dass man recht wüsste, warum. Wenn dann später in New York ein Bündel nervöser Energie namens Martin Scorsese in der fiktiven Wahrheit des Films eine anderer ist (ein Impresario namens Goodley), verschwimmt die Grenze, die von Anfang an eine sinnlose war, vollends. Francis, alleine zurück in Paris: verloren auf breitester Leinwand, ein Hauch von Fiktion, der in der Abwesenheit des allzu realen Körpers von Dexter Gordon schleunig zergeht. (65cp)

 

La passion Béatrice (1987)

Der Vater, der als Kind seinen Vater verlor, verliert im Kreuzzug Gott und sich selbst. Die Tochter, die ihn liebend erwartet, die, jung an Jahren, in Not und Elend sein Erbe verwaltet, wird von seiner realen Präsenz tödlich enttäuscht. Er hadert und hasst, er vergewaltigt sie, wieder und wieder, er fürchtet nicht den Teufel, nicht die Exkommunikation. Es ist eine Welt ohne Kulissen, nur das Land und die Burg, das Treiben der Menschen, das Treiben des Winds, wild-karge Landschaft, wild-karge Musik von Ron Carter. Natürliches Licht, die Kamera von Bruno de Keyzer schweift und fliegt, nicht frei, sondern auf der verzweifelten Suche nach Auswegen, die es nicht gibt. Die Tochter, Béatrice, die junge Julie Delpy, nackt, unschuldig, anrennend gegen den Vater und Gott, sie sucht, sie gibt Schutz, aber dieses Suchen und Geben ist beides vergeblich, solange der Vater, dessen Haus und Burg und Glauben aus den Fugen sind, das Unterste oben, solange dieser Vater noch lebt. Kino als Entwurf einer Welt, sie ist, wie in allen Historienfilmen Taverniers, von detailreicher Dichte. Hier aber: schroff, verlassen, verloren. Die Passion der Béatrice: Erlösung von der Gewalt bringt nur die Gewalt. Schlussbild: Die Jungfrau, Blut im Gesicht. (74cp)

 

La vie et rien d’autre (1989)

Alles bestimmt, es ist das Jahr 1920, noch immer der Krieg. Bertrand Taverniers Film ist mit den Lebenden auf Schlachtfeldern unterwegs, mit ihren Tausenden Toten. Kreuze ragen von Gräbern, Stücke werden gefunden von Körpern, Insignien, Ringe, detektivisch verzweifelt mittendrin: Philippe Noiret als Major Delaplane. Seine Aufgabe ist es, das was übrig ist von den Leichen als die Person, die sie waren, zu identifizieren, oder das, was übrig ist von den Personen, die traumatisiert sind und nichts mehr wissen über sich selbst. Wieder schweift die Kamera Bruno de Keyzers, wieder ist das Bild von fast endloser Breite, aber es ist ein noch einmal anderes Schweifen, eine noch einmal andere Breite, eine noch einmal andere Seelenlandschaft, durch die sich die Blicke bewegen. Nicht elegant, sondern abrupt, die Unruhe selbst wie auch die Musik von Oswald d’Andrea, Rhythmusgruppen, die kurz mal marschieren, sich dann im Flächigen wieder verlieren, eine Partitur, durch die, wie durch die Felder, der große Schnitter gepflügt hat. So ist schon die Außenwelt als Landschaft ohne Ausweg seltsam installativ. Wie dann erst die Innenräume, von der Kneipe zur Kirche. Vor allem die Kirche: Eine Holzwand, die den Gottesdienst von den Vorbereitung für ein musikalisches Fest trennt; und nicht trennt. Die Fabrikhalle als Großraumbüro, Kabine neben Kabine, ohne Dach, notdürftiger Vorhang, es regiert die Improvisation, die Ausweichbewegung. Andere Bewegungen, vage zunächst, dann schnürt es sich zu. Zwei Frauen suchen einen verlorenen Mann, eine kommt zurück in ihr Dorf, ist als Lehrerin durch einen andern ersetzt; eine fährt von hier nach da, auf der Suche, die selbst schon das Ziel scheint, gestoppt, durchgelassen, unterwegs, im Auto, anders kann es nicht sein, eine Liebeserklärung. Tavernier entwirft ein Kriegspanorama, als Trümmerlandschaft der Nachkriegszeit. Kein Stein ist mehr auf dem anderen, Explosionen, Gräber, ein Auseinanderlaufen. Für das Zusammenfinden braucht es eine andere Zeit. (80cp)

 

Daddy Nostalgia (1990)

Eine letzte Frist, Zeit des Sterbens, es ist keine Zukunft mehr übrig, die Gegenwart ist zum Zustand geworden, keine Wege nach morgen, Blicke zurück, ein Film über das Sterben, ein letzter Aufenthaltsraum. Das Krankenhaus erst, die Tochter kommt an, die Mutter auf dem Gang. Luxuriös genug ist der Ort. Das Haus ist groß, das Meer vor dem Fenster, die Cote d’Azur, ein letzter Ausflug nach Cannes. Das Haus, die Räume, eine Membran, die das Eindringen von Erinnerungen möglich macht, manchmal als präzises Erinnerungsbild, aber einmal bewegt sich die Kamera durch eine Leere, die der Einbildung, dem Echo viel überlässt. Jane Birkin spielt eine Drehbuchautorin, es gibt eine süffisante Bemerkung, dass Drehbuchautorinnen immer im Hintergrund stehen, aber das ist kein Zeichen, dass der Film sich in Richtung Selbstreflexion überschreitet, es ist einfach Teil des autobiografischen Materials, das Colo Tavernier nimmt und mit großer Selbstverständlichkeit gibt. Dirk Bogarde in seiner letzten Rolle, als Sterbender, der die Einsicht in die knappe Frist an sich heranlässt und im selben Moment leise zurückweist. Es ist ein Spiel von großer Offenheit, Stärke und Schwäche; dazu die Kamera von Denis Lenoir, von suchender Kraft, zwischen Gleiten und Entgleiten, das Wissen darum, dass der Versuch eines Festhaltens und Bannens nur scheitern könnte. Es ist etwas anderes, so wenig starr sie auch ist, als das ausgreifende Schweifen von Bruno de Keyzer, dem etwas Majestätisches und Verzweifeltes innewohnt, eine jagende Energie, die nie Rettung findet. Hier ist auch die Bewegung der Kamera in Gelassenheit unterführt, auf dunklem Grund, auch die periodische Abstandnahme durch die männliche Erzählerstimme (Bertrand Tavernier spricht sie selbst), die das unmittelbare Geschehen ins Reich des nicht ganz raunenden, aber doch beruhigenden Imperfekts überführt. So kommt der Tod selbst nur als Tonspur zu Wort. Es wohnt jeder Gegenwart schon das Imperfekt inne. (78cp)

 

L.627 (1992)

Die Kamera ist bewegt, aber nicht elegisch, nicht auf der Suche, erst recht nicht majestätisch, sondern hypernervös. Räudig fast, räudig wie die Viertel und Straßen, nicht zuletzt die Baracken, in denen die Polizei dauerprovisorisch untergebracht ist; sie mischt sich, wie die Erzählung selbst, unter die Polizisten (und die Polizistin) und unter die Drogendealer, die Drogennutzer, Informantinnen, Informanten, ist in jeder Mikroaktion bezeugend dabei, und es ist ein Film der raschen Szenenwechsel, der ständigen Mikroaktionen, im Zentrum, bis zur Verwischung der Konturen lebendig: Lulu, der das Gute jedenfalls will. Dies zu wollen heißt: Schutzschirm sein (wollen) für die Informantinnen und Informanten, Freund, Ratgeber, umarmender Halt für die HIV-positive Prostituierte Cécile, die private Feier filmender Freund, wenn gefragt, Don Quijote im Kampf gegen die allerdings real existierende Bürokratie, Überschreiter von Grenzen, der dabei auch ins Graue und Dunkle gerät, Ermahner der sexistischen, rassistischen Kollegen, die ihn doch im generalisierten Buddytum respektieren. Immerzu ist der Film hin, dann wieder weg, fühlt nicht ohne Sentimentalität mit seinem Helden Lulu, wertet nicht, was einen beim Zuschauen mit dem Urteil nie ganz hinterherkommen lässt, auch wenn schnell klar wird: Dabeisein ist hier nicht alles, es ist immerzu die Investition von Dagegensein, Dafürsein und Ratlosigkeit sowie Zweifel gefordert. Mit leichter Hand durch den schnell nicht mehr lustigen running gag der Wasserbomben punktiert, die Musik von Philippe Sarde kontrapunktiert mit großstadtjazzsymphonischem Pathos. Die Zeit vergeht im Flug, alles nimmt einen mit. (77cp)

 

La fille de D’Artagnan (1992)

Überfall auf ein Kloster, anderswo stehen Burgen, Männer in liebevoll genähten Kostümen, Ausstattung aller Art, historisch verbürgtes Personal: Mazarin und Louis Quatorze. Verschwörung, Liebe, Fechtkampf, reitende, in Zeitlupe springende Pferde: Der ganze Film ein feuchter Traum für Swashbuckling-Fans. Sophie Marceau spielt (mit etwas viel Eifer) D’Artagnans Tochter, Philippe Noiret ist der berühmte, am Hof nicht mehr gelittene, auch nicht mehr ganz junge Vater, der die Musketiere noch einmal zusammenruft, der Tochter wegen. Ernst nimmt das Drehbuch das nicht, die Augenbinde ist mal rechts und mal links, was mehrfach kommentiert wird, wie überhaupt der Witz des Ganzen dem Scharfsinn der Zuschauerin nicht viel überlässt. Am schönsten der Schluss, an dem sich die Figuren mit eingeblendeten Namen der Darsteller*innen wie im Theater dem Publikum präsentieren: dem Sonnenkönig, oder auch uns. Brausender Applaus bleibt leider aus. (58cp)

 

L’appat (1995)

Natalie, Eric, Bruno, gerade volljährig, leben in ihrer eigenen Welt: in einer Wohnung, die etwas Höhlenartiges hat. Natalie und Bruno sind ein Paar, wenn sie Sex haben, kriegt Eric das nebenan mit. Vom Erwachsensein haben die drei fantastische Ideen: Natalie, die in einem Kleiderladen arbeitet, ist am Abend als Escort-Girl unterwegs. Das bringt die anderen beiden, die gerne ans große Geld möchte, denen Amerika ein Sehnsuchtsland ist, auf kriminelle Gedanken. Natalie soll als Lockvogel dienen, die Türen zu den Nobelwohnungen der Männer öffnen, von denen man kaum mehr erfährt, als dass sie sich, alleinstehend, Escorts wie Natalie leisten. Der Film zieht einen in die Fantasiewelt der drei hinein, nicht unbedingt sympathisierend, aber doch so sanft, dass das Realitätsprinzip qua Perspektive fast suspendiert bleibt. Umso blutiger dringt es dann ein. Die Überfälle auf die Männer verlaufen dilettantisch, wo unreife Fantasie und schäbige Wirklichkeit sich begegnen, werden Leben zerstört. Eine Weile noch schweben die drei wie im Traum über dem Abgrund, dann Zugriff der Polizei als Agent des Realen, das Natalie noch im letzten Bild nicht zu fassen bekommt. (73cp)

 

Capitaine Conan (1996)

Tavernier kehrt zurück auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, nun im südeuropäischen Osten, die Kämpfe gehen zu Ende, ohne dass Frieden einkehren will, im Krieg nach dem Krieg mischen sich die Allierten noch in den russischen Krieg. Die Szenerie ist in Zwielicht getaucht, im moralisches Zwielicht steht auch der Protagonist, Capitaine Conan, Philippe Torreton mit ungebändigter, nicht zu bändigender Energie als Held, der Fleisch ist vom Fleisch des Krieges, der die Regeln des Militärs überschreitet, weil ihre Einhaltung den Erfolg auf dem Schlachtfeld unwahrscheinlicher macht. Tavernier und sein Kameramann Alain Choquart stellen das Geschehen, das Warten und das Morden, die Schlacht und den von der Scheißerei konterkarierten Hymnentriumph (wie das Kreatürliche hier ohnehin als Rückseite des Heroischen immer im Spiel ist) in natürliches Licht, davon nicht selten recht wenig, Explosionen, Bajonette, Schüsse, die Kamera ist beweglich, stürmt mit, mobilisiert, und fast sticht sie auch zu wie der Capitaine und seine Leute, vor die er sich noch stellt, als sie in Bukarest zu Räubern werden und morden. Eine Welt, in der die Maßstäbe heillos verrutscht sind, in der Frauen nichts als bei Gelegenheit Gespielinnen sind. Ein anderer, ein kategorial anderer Mann namens Norbert (Samuel le Bihan), wird gerufen, ein Freund und Bewunderer Conans, einer, der nicht ganz Wolf war und nun wieder ganz Hund ist, einer, der nicht die Strenge, sondern die Milde des Rechts zur Geltung bringen soll. Er ist das Zivile in der herrschenden Barbarei, ein Mann der Literatur, nach dem Krieg wird er Lehrer. So kommen die Mörder davon, ein Feigling wird zum Tode verurteilt, da können die Interventionen seiner Mutter nicht helfen, die als Einspruch der zivilisierten Welt gegen das Morden der Wölfe nicht gehört werden kann, denn es ist diese zivilisierte Welt, aus der das Morden kommt. Im Epilog ist die alte Ordnung wiederhergestellt, der Wolf spielt mit den alten Männern in der Kneipe noch Karten, dann geht er sterben, einen alles andere als heroischen Tod. (73cp)

 

Ca commence aujourd’hui (1999)

Ein Städtchen, das seine Bergarbeitervergangenheit hinter sich hat. Der Vater liegt im Bett mit COPD. Der Sohn, Daniel Lefebvre (Philippe Torreton mit ganz anderen Tönen auf einem ganz anderen Schlachtfeld), der unter ihm viel zu leiden hatte (man erfährt es, wie manch anderes, recht nebenbei), ist Lehrer und Direktor einer Vorschule, die Kinder sind klein, hier starten sie in ihr gesellschaftliches Leben. Manche tragen schweres Gepäck, Eltern, die trinken und arbeitslos sind, denen der Strom abgedreht wird. Einmal stürmt Daniel aufs Amt, wo ihm der Bürgermeister die schwierige soziale Lage des Ortes erklärt, die Probleme, die Tavernier eines ums andere sehr konkret vor Augen führt, sind systemisch. Zwischen dem Engagement Tag für Tag und einer Lösung klafft ein Abgrund, der gerade die Engagiertesten an den Rand der Verzweiflung bringt. Also Daniel, der tut, was er kann, der ertragen muss, dass zwei Jungs in die Schule einbrechen und sie verwüsten, Blindgänger der Gesellschaft; der kaum ertragen kann, dass eine Mutter keinen anderen Ausweg sieht, als sich und die Kinder zu töten; der sich mit allem, was über ihm steht, anlegt, Schuld sucht, wo im schlimmsten Falle Resignation ist. Tavernier und Alain Choquart filmen das al fresco, oft quasi-dokumentarisch, dazu abrupte Szenenwechsel, die Übergängikeit von Beruf und Privatem (Daniel ringt mit dem Sohn seiner Freundin), selbst die Musikspuren schlieren manchmal unversehens ineinander. Slices of life, in gekonnter Unordnung serviert, gelegentliche poetische Abstandhalter dazwischen. Nahe an Ken Loach, aber loser verpackt. (74cp)

 

Laissez-passer (2002)

Durch die Betten, durch die Studios, durch die Landschaft (pedaliter), durch die Besatzung, durch Dick und Dünn, immer con brio, rast fast drei Stunden lang Taverniers Wiederbelebung der Pariser Nazi-Filmfirma Continental hierhin und dorthin. Wobei Wiederbelebung noch zu wenig ist, weil es sich um eine bis zur Schnappatmung gehende, der Bändigung widerstrebende Wiederverlebendigung handelt. Am Irrsten sicher der Ausflug des wegen Grippe fiebernden Helden Jean Vevraive mit Zug, Rad und Flugzeug über den Kanal und wieder zurück, im Ton zwischen Screwball und Slapstick, wie grundsätzlich die Sprunghaftigkeit des Tons das zentrale Charakteristikum ist. Die Continental, die Figuren, alles oder das meiste hat es gegeben: Maurice Tourneur, Richard Pottier, Alfred Greven und natürlich Pierre Bost und der nach und nach etwas aus dem Blick geratende Neben-Protagonist Jean Aurenche, die Bertrand Tavernier glühend verehrte und mit denen er noch die Drehbücher zu seinen ersten Spielfilmen schrieb. Laissez-passer ist also Historienfilm als Hommage, ständiger Wider- und Einspruch gegen die gravitas von Nazi-Geschichten, retrospektive Rechtfertigung des Credos der Filme, wie sie die Helden des Films machten: Der Ernst der Lage ist so unbestreitbar, dass die zur Albernheit fähige schwarze Komödie bei hellem Bewusstsein eine legitime Umgangsform ist. Und so fährt die Kamera durchs Gewusel, unten Studio mit knappem Filmmaterial (und fast nichts zu essen), oben Bomben und Flak, hier Drohung mit Zensur, Gefängnis, Lager und Tod, dort Flirt hoch fünf, Akte der résistance in Drehbuch und Fotografie sowie Entwendung der Akten, dann wieder Dreh, ein Denkmal für Jean Devaivre, der den Film noch sah. Die letzten Sätze spricht als Voiceover Tavernier selbst, sagt auch Ich, als bezeugendes Siegel für die (cum grano salis der Nacherfindung) Wahrheit der geschilderten Begebenheiten. (78cp)  

 

Holy Lola (2004)

Géraldine und Pierre fahren nach Kambodscha und wollen ein Kind, Tavernier fährt in das Land und will einen Film. Es ist die Geschichte französischer Paare im Kampf gegen eine korrupte Adoptions-Bürokratie, ganz sicher nach nur zu wahren Fällen geschildert als eine Art Belagerungskrieg, in dem nach Beseitigung der einen Hürde die nächste auftaucht, in dem alle beteiligten Stellen neben den offiziellen Transaktionen unter der Hand noch anderes wollen (und, das wird ebenfalls deutlich, wegen der geringen Gehälter auch brauchen). Es ist gesetzlich geregelt, dass die Waisen (so sie es sind, ganz klar liegt das natürlich nicht immer) aus dem Land in den Westen adoptiert werden dürfen, von der US-Konkurrenz um die Kinder wird die Tatsache, dass es sich um Menschenkauf handelt, der auf einem enormen Wohlstandsgefälle beruht, weniger als von den Franzosen verscheiert: Da sind ganz andere Summen im Spiel. Die Not der kinderlosen Französinnen und Franzosen, die zuhause viele Jahre auf Adoptionschancen warten, ist wiederum groß, zwischen Tragödie und Komödie schwankt die weit in den Bereich des Identifikatorischen reichende Sympathie, die das Drehbuch mit ihnen hat. Alle kambodschanischen Beteiligten sind als mal freundliche, mal verbrecherische Randbedingung gezeichnet, ihr Verhalten ist meist verständlich, auf ihre Seite, in ihre Perspektive zu wechseln unterlässt der Film, wohlwollend gesagt: er belässt es bei Andeutungen, maßt sich den Blick der anderen nicht selbst an, viele Impressionen aus der Stadt und vom Land nimmt er mit, der turbulente Verkehr, Beseitigung von Minen am Rand der Straße, Besuch in der S-21-Gedenkstätte, Rithy Panh spielt auch mit, es ist ein recht reiches Bild. Nur kann Tavernier all das mit keiner anderen Haltung tun als derjenigen von Touristsen, die kommen, etwas nehmen und wieder verschwinden. (73cp)

 

In the Electric Mist (USA / F 2009)

Leichen tauchen auf in den Sümpfen von Lousiana im Iberia Parish ein gutes Stück abseits der Zivilisation. Dave Robicheaux ist der Polizeichef vor Ort, trockener Alkoholiker, Melancholiker, Serienheld der meist ziemlich großartigen Romane von James Lee Burke, und Tommy Lee Jones ist wie geschaffen, diesen schweigsamen Mann mit dem Herzen und auch den Fäusten am rechten Fleck zu verkörpern. Tavernier bleibt der Vorlage des großen Atmosphäriker und Landschaftsbeschreiber und Vergangenheitsbeschwörer und immer leicht düsternistrunkenen Autor Burke mehr als nur treu. In eleganten Kamerafahrten geht es durch die Bodennebel der Sümpfe, aus denen alles Mögliche auftaucht, nur nichts Gutes. Unter anderem schließt Robicheaux hier, das könnte aber auch was mit dem ihm verabreichten LSD zu tun haben, mit einem im Bürgerkrieg kämpfenden Vorfahren Bekanntschaft. Mit Gusto werden die Figuren erst zum Klischee aus dem Kriminalrepertoire ausgehärtet und dann von Könnern wie John Goodman oder Ned Beatty zur Quasi-Mythe gemeißelt. In the Electric Mist ist aber auch ein Film über das Trockene und das Matschige, das Flüssige und das Feste: Man findet die Leiche einer jungen Frau, die sich von der Prostitution Zugang zu höheren Kreisen versprach, in den Sümpfen. Und ausgerechnet bei Dreharbeiten zu einem Bürgerkriegsfilm kommt eine viel ältere Geschichte ans Licht: Ein Schwarzer in Ketten, vor vier Jahrzehnten erschossen. Ein Spannungsbogen als solcher interessiert Tavernier dabei wenig. In immer neuen Szenen gruppiert er seine Figuren zu in die Natur faszinierend hineingebetteten Memorialinstallationen. Die Kamera ist beweglich, die Bilder sind hinreißend und Marco Beltrami komponiert dazu einen Soundtrack von mal hinterhältig grollender, dann vorantreibender Perkussivität, der im scheinbaren Kontrast mit der Ruhe der Bilder Bedrohlichstes insinuiert. Die Regie bleibt bei alledem unfassbar relaxt und verzieht, was auch immer geschieht, so wenig eine Miene wie Tommy Lee Jones, bei dem zwischen Zärtlichkeit und rasender Wut kaum ein einziger Muskel, der zuckte, Unterschiede markiert. 

 

La princesse de Montpensier (2010)

Ein Mann, der ein Ideologe und Krieger war, will kein Ideologe und Krieger mehr sein. So zieht er sich aus den Kämpfen zurück. Sein Name ist Francois de Chabannes, gespielt wird er von einem ergrauten Lambert Wilson. Die Zeit ist das späte 16. Jahrhundert, Glaubenskämpfe zwischen Hugenotten und Katholiken in Frankreich, die Bartholomäusnacht, das Massaker an den Hugenotten, steht kurz bevor. Dem Film liegt eine kurze historische Erzählung der Madame de Lafayette zugrunde, 1661 erschienen. Den Konstellationen und auch der Ausweglosigkeit dieser Vorlage bleibt Bertrand Tavernier in seinem Historienfilm teils minutiös treu.

Chabannes, der nun zwischen den Fronten steht, weil er die Zugehörigkeit zu beiden Seiten verweigert, zieht sich zurück auf das Schloss seines Schülers und Freundes Philippe de Montpensier. Der ist gerade verheiratet worden, an eine Frau, die einen anderen liebt: Marie (Mélanie Thierry), eine Schönheit, der alle Männer, die sich ihr nähern, verfallen, blond, die Füße auf dem Boden, den Kopf nicht in den Wolken, obwohl sie klug ist und Lyrik zu schätzen weiß, wo diese nicht zu sehr auf den Effekt des Rhythmischen setzt. Die Hochzeitsnacht mit Philippe ist nur technisch gesehen erfolgreich, ihre Mutter, die wie viele andere Zeugen beim ersten Beischlaf anwesend ist, hat sie in sexuellen Dingen nicht unterrichtet.

Marie liebt diesen schmächtigen Mann nicht, der sie seinerseits zur Liebe nicht zwingt, auch wenn ihn bald rasende Eifersucht befällt. Sie liebt auch Chabannes nicht, der sie das Schreiben und manches andere lehrt und dessen eigene Liebe zu Marie bis zum letzten Atemzug groß und unerfüllt bleibt. Marie hat den großen und narbigen Krieger Henri de Guise geliebt, ja, ihm die Ehe versprochen, nur auf gewaltigen Druck des Vaters dies Versprechen gebrochen. Henri sich aus dem Kopf zu schlagen versucht sie. Philippe ein Lächeln zu schenken ist sie bemüht. Chabannes bekennt ihr seine Liebe. Ich werde diese Worte vergessen, gibt sie zurück. Auch Anjou, den eher metrosexuell-eleganten Bruder des Königs, der ihr den Hof macht, hält sie auf Distanz; dann geht er als neuer König nach Polen.

Nach allen Regeln der Kunst ist Die Prinzessin von Montpensier als Historienfilm inszeniert, mit fliegenden Hufen und Mänteln, mit Schwertergeklirr und höfischem Leben. Philippe Sarde tut als Komponist mit großem Orchester das Seine dazu, aber nie so, dass er einem vorschreibt, welches Gefühl sich im Zuschauerherzen jeweils einstellen sollte. Es ist dies auch eine schwierige Frage, denn Marie, die alle verwirrende Heldin, bleibt bis zum Ende opak - für sich selbst nicht zuletzt. Sie bewegt sich vor und zurück, ihr Herz tut Dinge, die sie nicht kontrolliert und versteht, ohne dass sie darüber je außer sich geriete. Es ist, als schlüpfe in ihr ein neuzeitliches Subjekt in die Welt, das für seine ganzen emotionalen Kompliziertheiten noch keine Sprache, keine Reflexionsebene, keine Ausdrucksform hat.

 

Quai d’Orsay (2013)

Der Quai d’Orsay ist so wenig der West Wing wie die französische die amerikanische Politik ist. Und Antonin Baudry ist nicht Aron Sorkin, dessen blauäugige ethische Imperative ihm fehlen; wofür er im Gegenzug Erfahrungen hat. Er war tatsächlich im Team des Außenministers Dominique de Villepin (2002-2004), den er in der von ihm verfassten Graphic Novel, die Depardieu verfilmt hat, in der Figur des Alexandre Taillard de Worms karikiert. Mit Vroom betritt der Minister unter fliegenden Blättern die Räume, das Werk Heraklits unterm Arm. Er ist, keine Frage, ein großer Bewunderer seiner selbst. Er verkündet Banalitäten, die er für Weisheiten hält. Lässt sich als Eitler von noch eitleren Schriftsteller-Eminenzen beraten. Manchmal gleitet er, etwa in seiner großen Textmarker-Rede, vollends in den Wahnsinn. Die Palastintrigen ölt Tavernier, dem Tempo der Vorlage folgend, wie geschmiert, die Beraterinnen und Berater bekommen jede und jeder ihr Fett ab; manch einer ist schlicht zu kompetent. Als in sich ruhender Buddha, fast immer schon schlafend, fast immer noch wach, Niels Arestrup als Chef-Berater, fulminant schildkrötenhaft, Splitscreens bebildern seine Vielarmigkeit. Zwei Wunder sind es, spät und ganz am Ende des Films, die den Minister anders beleuchten: Zum einen hat er, ohne Worte zu machen, die Abschiebung einer Familie unterbunden in einem wichtigen Ken-Loach-Nebenarm der Geschichte; zum anderen hält er eine Rede vor dem Sicherheitsrat, sie erhält von den hartgesottenen Politikern (in der Einstellung sieht man tatsächlich keine einzige Frau) standing ovations. Das war, einst, bei Dominique de Villepins Widerstand gegen den Irak-Krieg, realiter so. Es ist schon so, dass einem die Welt der französischen Politik, wie Baudry/Tavernier sie hier zeichnen, hohl und aufgeblasen vorkommen kann, und sicher auch soll. Es könnte aber ebenso sein, diese Vermutung erlaubt sich der Film, dass diese von keinem Selbstzweifel angekränkelte Aufgeblasenheit genau das ist, was die Welt an dieser Stelle erwartet. Und dann setzt das Buch eine Art Wandlungswunder in Szene: Es kommt der Moment, indem das Hohle in eine eigene Form von Substanz übergeht. (73cp)
 

Voyage à travers le cinéma Francais (2018)

Bertrand Tavernier sitzt an Tischen in eher nicht ganz privaten Räumen, einmal sieht man Filmrollen hinter ihm, einmal sitzt er im Kino und einmal ist Thierry Fremaux mit am Tisch. Das ist nicht sehr inszeniert. Tavernier spricht und blickt frontal in die Kamera, es ist stets geschriebener Text, aber Taverniers eigener Mündlichkeit angeschmiegt. Es gibt hier keine Ambition der analytischen Form, Filmausschnitte sind Filmausschnitte, an denen Tavernier Beobachtungen macht, mit denen er Anekdoten und Erinnerungen an Filmemacher und Schauspieler*innen verbindet. Er hat beim Erzählen des geschriebenen Texts einen besonderen Ton: Er ist ruhig, er ist kein Märchenonkel, er überdosiert das Enthusiastische nicht. Die Begeisterung steckt in den Adjektiven, bouleversant, unique und so ungezählt weiter, es ist ein Liebhaber, der hier spricht: Liebhaber der Regisseure, ihrer Autoren, der Schauspieler*innen, er spricht mit Kennerschaft. Das heißt: Er hat einen Blick, in dem sich das vertrauteste Wissen mit präziser Beobachtung und Bewunderung mischen. Tavernier liebt auch die Form, in gemäßigter Weise. Alles Formalistische ist ihm fremd. Wo die Form zu sich mühelos Fügendem führt, wo die Idee, so originell sie auch ist, als richtige mit einem Schlag evident wird, da ist Tavernier zuhause, der das Können liebt, nicht als leere Virtuosität, aber da, wo sie etwas Menschliches trifft. Im Kern bewegt sich seine Reise durch drei Jahrzehnte des französischen Kinos, die dreißiger, die vierziger, die fünfziger Jahre. Zum Schluss setzt er die Sechziger drauf, es ist "Mes années 1960" überschrieben. Die Geschichte, die er erzählt, will nicht offiziell sein, sie auf der linken Seite erzählt, denn da ist das Herz. Zwei Kapitel zu denen, die ihm am nächsten sind, deren Filme er auswendig kennt, «Mes cinéastes de chevet», Grémillon, Ophuls, Decoin, Guitry, Pagnol, Bresson und Tati. Decoin: ein Bekenntnis, und nicht das einzige, zu einer Form, die sich nicht aufdrängt, die nicht einmal Energie darein investiert, die eigene Kunst zu verbergen, also: klassische Form. Pagnol, von der Kritik oft als verfilmtes Theater und damit als Verachtung des Filmischen verachtet, wird als früher Neorealist rehabilitiert, Sacha Guitry für sein Timing, seine kühnen Erfindungen gefeiert (um das mitzumachen, muss ich mich, glaube ich, noch ein gutes Stück französisieren). Und Bresson/Tati werden, es leuchtet auf den zweiten Blick hinreißend ein, als Doppel behandelt, Perfektionisten, totale Filmemacher, einander ähnlicher, als der erste Blick denken ließe. Dann «Les chansons», die Rolle der Musik im französischen Film, die Lieder, deren Texte nicht selten von den Regisseuren geschrieben (Grémillon war auch Komponist), die nicht selten von Stars vorgetragen wurden, die vom Vaudeville kamen (Fernandel nicht zuletzt). Hommage an Julien Duvivier, das heißt hier auch: an den schwierigen Menschen, so schüchtern und ängstlich, deshalb selbst Kälte verbreitend. Tavernier liebt auch, vielleicht zuerst die, die zu lieben nicht leicht ist. Die, bei denen man genau hinsehen, stark hinlieben muss, damit sich der Mensch, das Werk öffnet. Am heftigsten schlägt das Herz Taverniers auch darum für die, die vergessen sind, «Les oubliés», oder nie die verdiente Anerkennung erhielten, «Les méconnus», Henri Calef, Pierre Chenal, Gilles Grangier, Raymond Bernard und so viele mehr. Im letzten Kapitel dann Taverniers sechziger Jahre, da war er nicht Regisseur, sondern mit Pierre Rissient Programmgestalter, Pressechef, Entdecker, Förderer, Distributeur. Namen, Geschichten, auch Archivaufnahmen dazwischen: Interviews mit Regisseuren, Fernsehrunden, fulminant Maria Casarès, die sich, im eigenen Wohnzimmer, scheint es, erinnert, wie sie Bresson beim Dreh von Les dames du bois de Boulogne gehasst hat. (Außerhalb nicht.) Von Tavernier in gut sieben Stunden: kaum ein kritisches Wort. Die Nouvelle Vague, zu deren Attacken, Ideologien, Filmen er ein gespanntes Verhältnis hat, haben muss, kommt kaum vor. Rohmer, den er schätzt; von einem Mittagessen mit Godard fünf, sechs Jahre vor dem Dreh von Voyages erzählt er, von seiner tiefen Freundschaft zu Resnais. Liebendes Erinnern als großes Vermächtnis. Besonders liebt Tavernier die Bescheidenen, die mit der Tendenz, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen (Granier-Deferre, nur zum Beispiel). Er ist einer von ihnen. Es ist eine einzige Freude, mit ihm zu reisen.

 

Quai d'Orsay

Quai d'Orsay

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