spielfilm

11. Oktober 2010

Aus dem letzten Loch Die Polizeifilme von Olivier Marchal

Von Ekkehard Knörer

36 Quai des Orfèvres

© Gaumont Film Company

 

Von der Abschlussdiskussion der Tagung Lust am Genre am Samstag habe ich vor allem Dominik Grafs Hinweis auf die Kriminalfilme des Ex-Cops Olivier Marchal mitgenommen. Für hierzulande eher nicht angekommene Furore in dessen französischer Heimat haben vor allem die beiden jüngsten gesorgt, 36 Quai des Orfèvres (2004) und MR 73 (2008). Ich hätte am Sonntag gar nichts besseres vorhaben können, als die beiden Filme zu sehen.

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Genrearbeit ist immer, zuerst, zuletzt, mittendrin: Klischeemanagement. Die Frage ist nicht, wie man eine neue Geschichte erzählt, sondern wie man eine bekannte Geschichte mit eigenen Mitteln so wendet und dreht, dass sie ein weiteres Mal packt, ergreift, was zu sagen hat. Die Dummen glauben, sie wären mit dem, was sie erzählen, die ersten. Die Halbstarken zeigen, was sie kennen, in dem sie wie blöde zitieren. Die Klügeren unter den Epigonen (und keiner ist heutzutage nicht Epigone) lassen die Anführungszeichen weg, ohne deshalb einfach nur ohne Quellenangaben zu kopieren. Die ganz Reflektierten gehen mit als solche bereits ausgestellten Metabearbeitungen die Primärrisiken des Genrefilms gar nicht erst ein. Olivier Marchal ist nicht dumm und nicht halbstark, aber ein Meta-Mann ist er auch nicht. Aus der Tatsache, dass er selbst Cop war, zieht er, das allein beweist schon seine Klasse, die Lizenz nicht zum Straßenrealismus, sondern zur Vergrößerung des Realen, die aber nicht dem Mythos erliegt.

Mythos im Genre ist monumentalisiertes Klischee, Versuch der Rettung einer bequemen Einseitigkeit ins Große. Die Gefahr kennt Olivier Marchal, meidet sie nicht, sondern sucht sie. Er ringt mit dem Mythischen, opfert ihm gelegentlich – absichtlich oder nicht – Figuren und Handlungsversatzstücke, triumphiert aber am Ende, wie nur der triumphieren kann, der gekämpft hat: die Welt, die er zeigt, ist eine in vielen Schwarz- und Nachttönen schimmernde Hölle. Nicht das Ding, das Handlung heißt, macht die Kraft des gelungenen Genrefilms aus, sondern das Ringen um die Überwindung des Unvermeidlichen, des Klischees. Es gelten nur jene Wendungen, die Überwindungen sind. Wobei das Komische und die Brechung in verschiedene Richtungen natürlich nicht weniger gilt als das Tragische, das Marchal sucht und findet.

Ein Polizist ist im Einsatz gestorben. Feierlich ist das Begräbniszeremoniell. Vrinks (Daniel Auteuil) und Klein (Gerard Depardieu), Bullen beide am Abgrund, stehen Seite an Seite am Sarg. Zuvor aber, als Klein dazutrat, haben, von seinen wenigen Treuen abgesehen, die Polizisten in Festuniform sich lautlos und ohne Befehl dazu abgewandt, zeigen ihm in Rückansicht ihre Verachtung. Er trägt am Tod des Kollegen die Schuld, die Sühne aber bleibt aus. Bullenehre und Ganovenehre mögen sich nicht sehr unterscheiden. Wichtig aber ist, dass 36 Quai des Orfèvres einen Ehrbegriff hat, auch wenn quer durch ihn Grenzen verlaufen, die Gut und Böse nie eindeutig scheiden. Der eine ist verstrickt und lässt sich, das Verhältnis von Richtigem und Falschem abwägend, verstricken. Als falsch erweisen sich die Abwägungen in jedem Fall an ihren tödlichen Folgen. Ob es andererseits eine richtige Lösung gegeben hat oder geben kann nach Lage der Dinge, ist die Frage, die der Film als die einer möglicherweise waschechten Tragödie dem Zuschauer aufgibt.

Der andere Bulle kennt nur sein eigenes Gesetz und marschiert auf seinem von Leichen gesäumten Weg drauflos ins Dunkle und gelangt so an die Spitze. Als Assistenzfiguren, die zwischen karriereträchtiger Passivität und halbgefährlichem Widerstand zu lavieren versuchen, fungieren André Dussolier und Catherine Marchal. Sie vervollständigen, nach oben und zur Seite hin, den Genrefilm zum ausgesucht bösartigen Institutionenporträt.  Vrinks verliert alles, immerhin schenkt ihm das Buch einen Ausgang. Beim Ende, das Klein nimmt, wird man darüber nachdenken müssen, ob streng genommen keine Gerechtigkeit nicht immer noch besser wäre als eine von Gnaden der Ironie.

MR 73 ist der noch stärkere Film. Ein Solo – mit immensen Kollateralschäden – für Daniel Auteuil. Ihn, sein Gesicht im dreivierteldunklen Close-Up, zeigt die erste Einstellung. Sein Name ist Louis und mit einem anderen Louis, ebenfalls groß im Bild, findet Marchal ein grandioses Schlussbild: Ein neuer Anfang, ein neuer Ursprung der Welt, der Lesarten zulässt. Vielleicht ist Hoffnung erlaubt, vielleicht läuft das Ende nur zurück in die Spur des Verhängnisses, von dem MR 73 so gewalttätig wie gewaltig erzählt. Von Verhängnis ist deshalb zu reden, weil der Film einsetzt, als längst alles zu spät ist. Für Louis jedenfalls, die Zentralfigur in diesem ins Schwarze und Schwärzere sich zusehends immer noch weiter verdunkelnden Werk, für Louis, den schwer alkoholkranken Polizisten, der im völlig besoffenen Zustand einen Bus entführt, weil der in die falsche Richtung und ihn, Louis, nicht nach Hause fährt. «Zuhause» allerdings ist ein anonymes Hotel, er sucht dort auch nicht Frieden, sondern nur die weitere Dosis des Alkohols, der ihn am Leben hält. Es ist das Leben eines Untoten, der erst Ruhe finden wird, wenn er die Geister, die ihn plagen, zum Schweigen gebracht hat.

Vorgestellt wird dieser Held als zutiefst traumatisiert. Seine Frau liegt im Koma, seine Tochter ist tot, es gibt nur Fotos, es gibt die Folgen eines Verbrechens, aber keine Erläuterung dessen, was da passiert ist. Was geschehen sein  muss, erschließt sich nur aus dem, was geschieht. Ein Serienmörder geht um, ein anderer droht, scheinbar geläutert, nach Jahrzehnten aus dem Knast entlassen zu werden. Die schöne Tochter einstiger Opfer tut sich mit Louis zusammen, der, vom Dienst mehr oder weniger, dann ganz suspendiert, zwischendurch wie in einem richtigen Rätselkrimi Spuren sucht und einen Täter sogar aufspürt. Solche Spannungsregister zieht, wie später einen genuinen Horrormoment, Marchal sozusagen mit links, während er in Wahrheit aber mit schön wagemutigem Pathos ein Schicksalskonzert orchestriert, in dem die Tutti des Bösen ebenso Platz haben wie das aus dem letzten Loch gepfiffene Solo eines persönlichen Weltuntergangs.

Das ist kaum weniger finster als beim französischen Oberdunkelmann Philippe Grandrieux (wobei man, spätestens, wenn Philippe Nahon auftaucht, auch an Gaspard Noe denken darf). Ästhetisch allerdings bleibt Marchal stärker als beide in Kontakt zur Kriminalfilmtradition und auch -konvention. Seine Größe zieht er weniger aus ästhetischer Radikalität als aus dem fortwährenden Nahkampf mit den Klischees des Genres, in dessen Rahmen er sich mit voller Absicht bewegt. Auf Erwartungen nimmt er dabei aber nicht mehr als die mindeste Rücksicht. Noch die schlimmste Wendung scheint jederzeit möglich. Und MR 73 läuft auf ein Finale zu, das seinen Zusammenhang nicht einer Auflösung von Rätseln, nicht der Verknüpfung loser Enden verdankt. Die Apotheose der Düsternis ist Konsequenz von Charakter- und Stimmungszeichnung und verdankt sich harter Arbeit am – nicht gegen den – Mythos. Marchal bleibt von Anfang bis Ende Auge in Auge mit seinen Setzungen, die dem Klischee trotzen, es aushalten und auf die Spitze treiben. In MR 73 noch klarer als in 36 Quai des Orfèvres bleibt der Regisseur eindeutiger Sieger nach Punkten.