magical history tour

17. Oktober 2010

1921: Paul Strand, Charles Sheeler: Manhatta

Von Ekkehard Knörer

MANHATTA ist ein Film zwischen den Bildern und zwischen den Künsten. Begründung des amerikanischen Avantgardefilms (heißt es oft), Durchgangsstation im Werk seiner Macher und eine Kreuzung im Bildverkehr der Weltstadt New York, ein Stadtgedicht, ein Bildgedicht über: Manhatta, Manhattan, oder, es ist in den Tafeln zwischen den Bildern die Literatur auch im Spiel, mit dem Titel von Walt Whitmans Gedicht, Mannahatta.

Auszüge aus dem Poem sind auf stilisierten Bildtafeln – dies ist die erste – zwischen die Aufnahmen von Manhattan geschaltet: Angabe einer Herkunft, Anlehung der Bilder an bildbeschreibende Worte, Autoritätszitat in Anführungszeichen, nicht problematisierte Aneinung auch eines im Gedicht überaus prononciert auftretenden, die Stadt sehr souverän selbst schon sich im Besingen aneignenden Ich durch die apparatische Aufzeichnung. My city! lautet die letzte Zeile bei Whitman. (Man hört noch das Echo in Guy Maddins My Winnipeg)

Exkurs 1: Robert Flaherty, der wenige Jahre später einen zunächst Manhatta sehr ähnlichen Film drehen wird, Twenty Four Dollar Island, positioniert seinen Blick auf die Stadt deutlich anders, nämlich zum einen mit einem historischen Auftakt: Es wird in einem kurzen Prolog die Vorgeschichte des kolonialistischen Kaufs der Insel und der Gründung von New Amsterdam erzählt. In die Gegenwart geht es dann mit einem Dreihunderjahresprung per Überblendung von einer alten Karte auf eine Totale des Manhattans der Gegenwart.

Zum anderen wird aber auch die Subjektive des Bildberichterstatters als Quasi-Objektive anders kalibriert. In Schrifttafeln zu Beginn heißt es: New York, symbol of impressive industry, finance, power, where men are dwarfed by the immensity of that which they have conceived – machines, skyscrapers – mountains of steel and stone. Dass Flaherty selbst zwischen Moana und Industrial Britain, zwischen Elephant Boy und Louisiana Story seine ganz eigene Geschichte der Moderne und Antimoderne erzählt, steht auf einem anderen Blatt.)

Es herrscht in Manhatta ein symptomatisch schwer entwirrbares Ineinander der Zeiten: der Titel von Whitmans Gedicht, aber fast auf den real existierenden Namen der Kerninsel von New York (island of many hills, in der ausgestorbenen Sprache Unami) zusammengestrichen. Unvollkommenes Anagramm eines Zwischenzustands zwischen den Künsten, der Wirklichkeit und Bildern und Worten. In den Worten Whitmans, die Kommas kennen und Ausrufezeichen, aber nach dem staunenden lo!, das auf the aboriginal name zuläuft, keinen einzigen Punkt mehr, atemloser Hymnus auf das, was in einem Namen liegt (what there is in a name), Mannahatta. Die Bilder, die Whitman atemlos folgen lässt, sind die Nester, in die Whitman das word from of old legt; nur dass das Bild vom Nest in einem nicht eingestandenen Widerspruch zu den Bildern selbst liegt, die von einer industrialisierten Moderne zeugen, die Whitman in poetischen Naturalisierungen ins Vergangene rückcamoufliert.
 

Walt Whitman: Mannahatta
 

I was asking for something specific and perfect for my city,
Whereupon lo! upsprang the aboriginal name.
Now I see what there is in a name, a word, liquid, sane, unruly,
musical, self-sufficient,
I see that the word of my city is that word from of old,
Because I see that word nested in nests of water-bays, superb,
Rich, hemm'd thick all around with sailships and steamships, an
island sixteen miles long, solid-founded,
Numberless crowded streets, high growths of iron, slender, strong,
light, splendidly uprising toward clear skies,
Tides swift and ample, well-loved by me, toward sundown,
The flowing sea-currents, the little islands, larger adjoining
islands, the heights, the villas,
The countless masts, the white shore-steamers, the lighters, the
ferry-boats, the black sea-steamers well-model'd,
The down-town streets, the jobbers' houses of business, the houses
of business of the ship-merchants and money-brokers,
the river-streets,
Immigrants arriving, fifteen or twenty thousand in a week,
The carts hauling goods, the manly race of drivers of horses, the
brown-faced sailors,
The summer air, the bright sun shining, and the sailing clouds aloft,
The winter snows, the sleigh-bells, the broken ice in the river,
passing along up or down with the flood-tide or ebb-tide,
The mechanics of the city, the masters, well-form'd,
beautiful-faced, looking you straight in the eyes,
Trottoirs throng'd, vehicles, Broadway, the women, the shops and shows,
A million people--manners free and superb--open voices--hospitality--
the most courageous and friendly young men,
City of hurried and sparkling waters! city of spires and masts!
City nested in bays! my city!

Paul Strand / Charles Sheeler

Die poetische Naturalisierung der hochindustrialisierten Gegenwart durch Rückvernestung in romantische Bildtraditionen ist ein Syndrom, an dem bedeutende Stränge der Moderne in Malerei, Film und Fotografie mehr oder minder stark laborieren. Das reicht zum Teil bis in die linksaktivistische Filmemacherbewegung der Dreißiger- und Vierzigerjahre von Nykino und der Frontier Film Group, deren Teil Paul Strand (neben u.a. Irving Lerner, Joris Ivens und Elia Kazan) später wurde und in deren Kontext er, als Fotograf seit Jahrzehnten hoch angesehen, seinen einzigen weiteren Film Native Land (1942, mit Leo Hurwitz) gedreht hat. 

Schlussbild von Manhatta

Exkurs 2Manhatta ist der einzige Film, an dem Charles Sheeler beteiligt war. Berühmt wurde bzw. war er als Fotograf und vor allem als Maler der Industriearchitektur. Als Maler, genauer gesagt, der ohne die Fotografie nicht zu denken ist. Präzisionismus ist das Etikett, das man als Zugehörigkeitsnamen zu einer Schule (Edward Hopper, Charles Demuth, Georgia O’Keeffe) seinen Bildern verpasst. Präzisionismus: ein kubistischer Industrieformenrealismus, für Sheeler eine Kunst, die von der Fotografie kommt und sie – in selteren Fällen ins fast schon Fotorealistische – transformiert. Im Gemälde scheint in haltbarere Form überführbar, was in der Fotografie noch mit zu vielen Fetzen des Zufalls behaftet ist. Ein Bemühen eher darum, die Wirklichkeit in der Darstellung wirklicher zu machen, als sie ist. Das ganze ist ein Prozess, denn zwischen das Foto und das Gemälde tritt bei Sheeler die Zeichnung, die in großer Genauigkeit die Strukturen aus dem vom Apparat Aufgezeichneten ins Eigenhändige überführt und sozusagen als Sujetmaterial verfügbar macht. Implizit ein Gegenentwurf zu allen Errettungsprojekten, die dem Aufzeichnungscharakter des fotografischen Bildes sehr viel, wenn nicht alles zutrauen. Für Sheeler rettet die Malerei aus der flüchtigen Fotografie ganz im Gegenteil das Reale von Dauer. Spuren von Nostalgie oder der Hopperschen Verlassenheitsmelancholie finden sich nicht. Der Mensch kommt bei Sheeler in den Fotografien wie den Gemälden kaum vor. Das futuristische Erbe wird bei ihm spürbar, der Zug in Richtung Moderne, der in Manhatta im Bezug auf Whitmans romantische Neue-Welt-Aneignung immer auch hintertrieben wird.

Vom Foto zum Ölgemälde: eine Glättung der Ränder, ein Polieren der Oberflächen, eine Bereinigung, eine Vereinfachung des Wurzelwerks der wirklichen Dinge zur erkennbareren Form auf dem von Hand der fotografischen Aufzeichnung nachgeschaffenen Bild. Kaum merklich, aber man achte etwa in der folgenden Transformation auf das Verschwinden des Kamins links und des Rauchs (auch als Schatten) und die Entflechtung des Gestänges im unteren Drittel des Bilds. 

Manhatta ist, auch im Verständnis seiner Schöpfer, ein Film als montierte Einstellungsfolge und zugleich ein Film aus Fotografien. Einzelne Stills wurden als Kopien aus dem Filmnegativ als Fotoabzüge ausgestellt. Als Durchgangsstation war der Film dabei in beide Richtungen offen. So findet man eine berühmte Fotografie von Paul Strand aus dem Jahr 1915 als zum Verwechseln ähnliches Bewegtbild in Manhatta nachgestellt, wiederholt, als Remake, darf man wohl sagen, wieder.

Und umgekehrt: Charles Sheeler hat mehrere Einstellungen des Films später in bewährter Manier als Vorlage für Gemälde genutzt. Hier ist eine davon, im Vorher/Nachher-Vergleich.

In der Geschichte des Films - in die er in erster Linie gehört - gilt Manhatta als erste jener Stadtsinfonien, wie sie später und am anderen Ort von Walter Ruttmann, Dziga Vertov oder Joris Ivens auch gedreht wurden. Durch Montage und durch die in der Montage möglichen Strukturierungsformen geordnete Annäherungen an die Großstadt. Soll heißen: nicht narrativ, die Stadt als Welt ohne Individuum, als Bildreservoir, das sich der flächigen Anordnung in der Zeit zum Kubismus des Konsekutiven darbietet: per Ähnlichkeitsassoziation, per Abstraktionsrelation, per Oppositionsattraktion und so weiter. Die rhetorischen Figuren treten in jenes Zentrum, in dem im Spielfilm der Held sitzt und dem Fortgang den Anschein eines Zusammenhangs gibt. Und natürlich lösen sie genau so jenes Zentrum dann auf.

Exkurs 3 (mit Dank an Volker Pantenburg). Im Jahr 1929 dreht Robert Florey die wohl ultimative New Yorker Hochhausmontage mit dem sprechenden Titel Skyscraper Symphony. Florey, der 1921 aus Frankreich nach Hollywood ging, ist eine faszinierende Figur. Assistent von Größen wie Josef von Sternberg und Frank Borzage in den zwanziger Jahren, dann kurzzeitig Avantgardist auf eigene Rechnung, macht aus den Bühnen-Cocoanuts der Marx Brothers ihren im Guten wie im Bösen rohsten Film, agiert bald darauf als Regiedienstleister für die Studios ohne anerkanntes Meisterwerk. Die Karriere endet im Fernsehen, bei Alfred Hitchcock Presents und – fast der letzte Credit, den die IMDB verzeichnet – The Twilight Zone. (Geboren 1900 in Paris. Gestorben 1979 in Santa Monica. Es könnten die Lebensdaten der Moderne sein.) Die Skyscraper Symphony treibt das Stadtsinfonie-Prinzip als etwas monothematische Hochhausverdichtung auf die Spitze. Den ragenden Formen erweist die Kamera mit Schwenks in die Höhe die Ehre: dicht komponierte Anbetung des Betons und dessen, was der arbeitenden und wohnende Mensch damit anstellen kann.

Im Jahr davor, 1928, war Robert Floreys – gemeinsam  mit Slavko Vorkapich konzipiertes – heute wohl berühmtestes Werk entstanden: The Life and Death of 9413, a Hollywood Extra (Vimeo). Ein Film, der den Helden vom Kopf auf die Füße stellt: als auf die Ziffer zu bringende quantité negligeable. Tatsächlich bietet in charakteristischen Szenen The Life and Death of 9413 das, was der Titel verspricht. Der Einstieg allerdings verweist auf Skyscraper Symphonies zurück (und wohl auch auf Metropolis Richtung Deutschland hinüber) – eine Assemblage von Hochhausformen, stärker noch als in den Gemälden von Charles Sheeler abstrahiert. Die Großstadt, das Studiosystem Hollywoods: atemberaubende eiserne Gehäuse, die Individuen und ihre Geschichten auf Chiffren reduzieren. Der Statist seiner eigenen Existenz als staunender Mann, der, was ihm als Zahl auf der Stirn geschrieben steht, nicht lesen kann. (P.S.: In einem weiteren Film aus dieser Zeit, The Love of Zero (Youtube), schreibt Florey in einer geradezu godardistischen Geste die Produktionskosten in den Vorspann: This impressionistic picture, made at a total cost of 200.00 $, was photographed by Edward Fitzgerald.) 

Manhatta spannt den Bogen vom Aufgang des Tages zum Untergang: von der Ankunft der Menschen mit der Staten Island Ferry an der Südspitze Manhattans bis zum Schlussbild mit Sonnenuntergang (siehe oben). Dazwischen wird das Bildmaterial mit sehr viel mehr Häusern als Menschen jedoch eher frei assoziierend aneinander montiert. Die Idee des Beginns, mit den Bildern einer Baustelle der Skyscraperwelt eine Entstehungsgeschichte zu geben, verflüchtigt sich in der weiteren Folge. Das alles beherrschende Oppositionsprinzip scheint mir dabei das In-, Gegen- und Nebeneinander des Harten, Ragenden (Stahl, Beton, gerade Winkel und scharfe Linien) und des geradezu organisch Zerfließenden, Amorphren (Dampf, Rauch, Menschenmasse) zu sein. Mal erscheint das als bloßes Nebeneinander der Einstellung, mal wird der Rauch zum Sfumato, das sich als Schleier über die harten Kanten und Linien Manhattans legt. Indem das Leben der Großstadt implizit so als Kampf von «eisernen» Betongehäusen und dem Organisch-Amorphen inszeniert wird, kippt der Film von der präzisionistischen Nüchternheit (Charles Sheelers) zuletzt doch wieder hinüber in die Mythisierung der Großstadt als Austragungsort der Auseinandersetzung geradezu urweltlicher Kräfte: mehr Mannahatta als Manhattan, der geraunte Name (the aboriginal name), nicht die bloße Ziffer, könnte man sagen .