viennale 2010

30. Oktober 2010

Viennale 2010

Von Ekkehard Knörer

Schluss

Zwei Tage fehlen noch, vier Filme, vor der Rückfahrt gestern mit dem Eurocity, Wien, Prag, Berlin. Am Mittwoch ein langes Gespräch mit Jonathan Rosenbaum für die nächste cargo-Ausgabe, davor Allan Sekulas und Noel Burchs Dokuessay The Forgotten Space über den Cargo-Transport per Schiff über die Meere der Welt. Zurück geht der Film auf Sekulas über Jahre sich erstreckendes Projekt, das als Fotoausstellung und Buch den Titel Fish Story trug. Für den Film, vor allem den Schnitt, wie Burch im Publikumsgespräch danach erzählt, holte sich Sekula den Kritiker-Theoretiker-Filmemacher Noel Burch mit ins Boot. Die Reise führt, tour/detour, vom riesigen Hafen von Los Angeles in die Niederlande, nach Hongkong und anderswohin, zu Land und zu Wasser als den Wegen, die die überwältigende Mehrzahl aller Weltfrachten nimmt. (Soll heißen: das Flugzeug als Transportmittel der Fracht fällt im Vergleich kaum ins Gewicht.).The forgotten Space enthält vieles Interessante, die nicht immer durch ausgesprochene Enge des Zusammenhangs gedeckten Digressionsbewegungen sind nicht das Problem. Die extrem simple globalisierungskritische Grundhaltung ist es schon. In Allan Sekulas Voice-Over ist von Anfang bis Ende landunter, der Film sucht und findet nichts als Bestätigung seiner Thesen. Das ist «Agitprop», sagt Burch hinterher, und soll vor allem jene, die die Ansicht des Films ohnehin teilen, ermutigen und erreichen. Mit soviel Mangel an analytischem Interesse, Differenzierung und Neugier bringt man, würde ich eher sagen, die Intelligenteren unter den SympathisantInnen gegen sich auf.
 
So gänzlich anders als bei Sekula/Burch ist das Verhältnis des britischen Dokuessayisten Patrick Keiller zur Welt nicht; auch hier geht auf die Dauer vor allem der Voice-Over-Text auf die Nerven: ein kaum modulierter Singsang von Vanessa Redgrave. Etwas stärker ins Offene gerichtet ist seine kritische Wanderung durch die Landschaften des gegenwärtigen Kapitalismus allerdings doch. Robinson in Ruins fingiert als Spielfilm ohne Darsteller eine Erzählung. Aneinander gereiht werden Aufnahmen aus Stadt und Land in Oxfordshire. Gezielt und präzise setzt Keiller Geschichte und Landschaft, Daten und Fakten, die Historie von Mensch und Natur, von naturwissenschaftlichen Entdeckungen und der Zerstörung der Natur durch den Menschen zueinander in Beziehung. Als roter Faden dient ihm ein Mann namens Robinson, den wir uns als Obdachlosen und zuletzt als Wahnsinnigen vorzustellen haben. Reichtum der Form ist in der Natur, zu der der Mensch in aller Regel im Verhältnis der Ausbeutung steht. Immer wieder frisst sich die Kamera an Flechten und Blumen geradezu fest, enttäuschend spannungsarm allerdings ist das Verhältnis von endlosem Text und menschenbefreitem Stadt/Landschaftsbild. Eine bestens informierte kapitalismuskritische Bewegtbild-Diaschau auf der Suche nach ihrem ästhetischen Mehrwert.
 
Oki’s Movie, Hong Sang-soos zweiter Film des Jahrgangs 2010, ist seine bislang wohl kühnste Experimentalanordnung. Ein Film aus vier Filmen, deren Verhältnis zueinander in Frage steht. In einer Serie von Verschiebungen folgen wir einem Trio in wechselnder Konfiguration durch das Grenzgebiet von Fiktion und Metafiktion. Diese drei: Song als Filmprofessor, Jingu und Oki als Studenten. Jeder der vier Filme hat Vorspann und Abspann in verwischt-verwackelter weißer Schrift auf blauem Grund. Dazwischen sorgt das Pathos von Edward Elgars Pomp and Circumstance durch Fallhöhe zum Gezeigten für tendenziell komischen Kontrast. Schärfer als zuletzt, auch als in Ha Ha Ha sind die Töne – Peinlichkeit und Verletzung in Reihe, zum Beispiel im ersten Film: eine junge Frau (Oki) stellt den Regisseur (Jingu) nach der Vorführung seines Kurzfilms wegen seines schäbigen Verhaltens bei einer Liebesgeschichte (nicht Okis, sondern einer Freundin) vor Jahren zur Rede. Das Metafiktionale nimmt den Bösartigkeiten nichts von ihrer Härte. Ohnehin sollte man eher von Parafiktionalität sprechen: Es gibt keine Hierarchie und keine stabilisierbare Beziehung zwischen Realem und Fiktion, die vier Filme nebeneinander ergeben weder ein geschlossenes Bild noch verständigen sie sich in eindeutiger Weise über das Verhältnis, in das sie untereinander treten. Höchstens könnte man sagen: Oki hat das letzte Wort, denn ihr Film steht – gesamtfilmtitelgebend noch dazu – am Schluss. Und er schließt, so schließend, das Meta dann doch noch in sich, als noch einmal statusunklare Selbstaussage des Films: «Ein Spiel der Ähnlichkeiten und Differenzen», sagt als Voiceoverstimme Oki am Ende ihres – nicht Hongs (oder doch) – Films Oki’s Movie, «das ich selbst nicht durchschaue». Für die spielerische Verschiebung von Sätzen und Dingen, die Ha Ha Ha so stark prägt, ist kaum die Zeit (für eine Milchtüte dann aber doch), es muss reichen, dass die Figuren zu Wiedergängern ihrer selbst (ohne Original) werden. Vom Alkohol oder Schneesturm gelöste Zungen sprechen dabei weit und tief Reichendes ohne Umschweife aus. Ein Oktopus wird in den Schnee gekotzt und zuckt noch. So offen enigmatisch wie dieser war kaum einer von Hongs bisherigen Filmen. Die Offenheit verdankt sich den strengen Formen des Spiels, das zwischen Identität und Differenz bleibt. In frühromantischer Weise spiegelt sich das im Hin und Her von vier ähnlichen Bildern ins Unendliche fort. Tiefer hineingelegt als in diesen war die Mise-en-abyme von Hongs Verfahren noch in keinen anderen Film. Ich kann kaum erwarten, was in der spannendsten Versuchsreihe des aktuellen Weltkinos als nächstes passiert.
 
Als letzter Film: La femme de l’aviateur von Eric Rohmer. Liebeskomödie der täuschend leichten Art, lässig, bösartig, komisch stellt Rohmers genauestens ausgearbeitetes Buch seine Figuren vor Weichen und fordert sie auf, sich zu entscheiden. Diese Entscheidungen aber bleiben aus oder geschehen geradezu unvermerkt oder verlieren durch Wiederholung und Hin und Her ihre Kraft. Ein Traktat nicht zuletzt über das Romanhafte des Lebens, das für Rohmer im Film in erster Linie eines bedeutet: unbeendbare Dialogfantasieproduktion, die das Romanhafte, wo es nicht ist, selbst hervorbringt. (Nun: Das Romanhafte ist eben nicht; es ist unser aller Aufgabe, es hervorzubringen.) Der Mann, der die Hauptfigur ist, spricht dabei wenig. Es sind die Frauen, die hier wie die Spinnen fortgesetzt Fäden aus Worten sekretieren, in denen der Mann und unter Umständen auch sie selbst sich verfangen. Am Ende eine Postkarte, abgeschickt, ein Lied, extradiegetisch, es geht aus, ins Offene zwischen Unglück und Glück.

Fünfter Tag

Rauchfahnen aus schwarzen Halbkugeln in der Landschaft. Ein Mann auf der Halbkugel schlägt mit einer Schaufel auf die Oberfläche der Halbkugel, ein dumpfes Geräusch, ein Rhythmus, ein Puls, dann wird das Bild schwarz. Der Puls schlägt weiter, das Herz dieses Films hat zu schlagen begonnen und es hört zu schlagen nicht mehr auf. Viermal wieder die Schwärze, als Zäsur, als Trennung der einzelnen Kapitel und aus der Schwärze taucht, wie etwas, das immer weitergeschlagen hat, man hat es nur nicht gehört, der Puls wieder auf. Dieser Film lebt.

Mann, Ziege, Baum, Kohle. Vier Kapitel, jedes hat einen klar benennbaren Gegenstand. Dazwischen schwarz die Zäsuren, auch die kann man beim Namen nennen: Tod, Nacht, Einschluss, Ende. Ein Mann stirbt, ein Ziegenlamm geht verloren, ein Baum wird gefällt, aufgestellt, zerteilt, Holzkohle wird in aufwendiger Technik aus alten Zeiten gebrannt (bzw. pyrolysiert). All das am selben Schauplatz, ein Dorf auf dem Berg in Italien. Frammartino filmt einen alten Mann, er filmt die Natur, er filmt den alten Mann in der Natur (scheißend). Was Menschen hier tun, als täten sie es von alters her schon, filmt er. Wenn der alte Mann die Weinbergschnecken in seinen Topf sammelt, dann sieht das aus, als hätte er das in seinem Leben tausendmal schon getan. Ganz genauso die anderen Männer im letzten Kapitel beim Errichten der geschichteten Halbkugeln, in denen die Holzkohle entsteht. Eingeübte, aber präfordistische Gesten, denen das Mechanische der industrialisierten Arbeitsteilung nicht eignet. Der Film sagt aber nicht, dies sei das einfache und also richtige Leben. Er zeigt nur, mit leise schlagendem Puls.

Im ersten Kapitel kehrt eine Einstellung mehrfach wieder. Es ist etwas wie die Homebase, die Ausgangsposition, der Ort und die Stelle, an den der Film von den Ausflügen, die er (mit dem alten Mann) unternimmt, stets zurückkehrt. Der Blick geht von einer Höhe auf die Gabelung der Dorfstraße. Zwischen den verzweigenden Straßen steht ein Haus und in diesem Haus lebt der alte Mann, der am Ende des ersten Kapitels gestorben sein wird. Ein Fenster in der Wand, daraus wirft der Mann den Stein, mit dem er den Topf mit den Weinbergschnecken zu beschweren versucht hat. (Das klappt nicht, er bindet dann ein Tuch über Deckel und Topf.) Dieser Stein wird bald darauf zum Mittelpunkt einer Slapstickplansequenz von majestätischer Komik.

(Jetzt folgt ein Spoiler, Beschreibung der Slapsticksequenz, als Beweis, dass Le Quattro Volte von hinreißend raffinierter Einfachheit ist.)

Wieder der Blick von der Höhe. Ein Kleinlaster fährt heran, hält. Es steigen Männer in Römerkostümen heraus wie aus einem Asterixcomic. Bald darauf eine Prozession, nachgespielt wird der Kreuzweg Jesu, die Dorfstraße herunter, dazu gehören auch die Kleinlasterrömer. Etwas später, als alle schon durch sind, folgt, versprengt, wie das Ziegenlamm dann im zweiten Kapitel, ein Kind. Ein Hund steht im Weg, das Kind hat Angst vor ihm. Es wirft Steine, um den Hund abzulenken, nach mehreren Versuchen erst gelingt das. Die Kamera schwenkt nach rechts, dem Kind hinterher, dann wieder zurück, da steht noch immer der Hund. Der trabt zum Kleinlaster und stibitzt den Stein, der den Wagen am Davonrollen hindert, unter dem Hinterrad weg. Man sieht, wie der Laster rückwärts zu rollen beginnt, auf einen Zaun zu, hinter dem bislang wenig beachtete Ziegen herumstehen. Die Kamera schwenkt und just in dem Moment, in dem das Auto mit ziemlichem Krach durch den Zaun bricht, ist sie, dorfstraßenabwärts, der Kreuzwegprozession hinterher, genau so weit, dass man das Geschehen, den Zaundurchbruch, nicht mehr sieht. Als die Kamera dann, immer noch auf derselben, ihrer immer wiederkehrenden Ausgangsposition stehend, zurückschwenkt, sieht man die Ziegen befreit. Sie werden daraufhin eindringen in das Haus, das wir als das des alten Mannes kennen. Eine wirft den Topf mit den Schnecken vom Tisch. Ein letzter Blick auf den alten Mann, im Bett liegend, noch am Leben. Später aber, Ziegen im Bild, tragen zwei Männer einen Sarg durch die Tür die Treppe hinunter.

Dinge wie diese. Ein Lamm, ein Baum, Holzkohle. Dem Rhythmus der Menschen, der Tiere, der Natur und dem ritualisierten Tun der Menschen und dem eingeübten Tun der Tiere in der Natur gewinnt der Film seinen eigenen natürlichen Puls ab. Er ist ein Stück Dokumentarpoesie, in dem Tiere wie von selbst zu Spielfilmdarstellern werden. Ein Mann stirbt, ein Lamm geht verloren, ein Baum wird gefällt und Rauchfahnen stehen in der Luft unter blauem Himmel mit zerrupften weißen Strähnen von Wolken.

Beinah bedingungslos ist meine Liebe zu Eric Rohmer. Ich habe die meisten seiner Filme gesehen, verehre sie alle, nur mit einem von ihnen habe ich ein Problem. Neulich habe ich ihn wiedergesehen, Das grüne Leuchten, das Problem ist noch da. (Viele lieben gerade diesen Film von ihm ganz besonders. Ich sicher nicht.) Stärker als andere Filme lebt dieser von der Improvisation. Was ich an Rohmer mag, ist gerade die Kühle, mit der er als strenger, von Bösartigkeiten nicht immer freier Menschenfreund seine Komödien der Irrungen und Wirrungen, der Einsichten und Irrtümer konstruiert. Die Wege zur Wahrheit sind in den gewaltigen Gevierten des Rohmer-Dialogs niemals gerade. Die Irrtümer werden vorgeführt, und zwar so, dass einerseits die Schwächen der Figuren und also eine Differenz zwischen ihnen, ihren Worten und Taten, und der Konstruktion des Problems, um das sich der Film dreht, sichtbar bleiben und bleibt.

Die Liebe Rohmers zum Detail, sein Verständnis für Fehler und Schwächen (der große gefährliche Vorzug des Konservativen, der an Vollkommenheit auf Erden nicht glaubt) sorgen auf der anderen Seite dafür, dass nichts in seinen Filmen je in der bloßen Konstruktion aufgeht. Die Spannung zwischen den strengen Linien der Anordnung – also einem Draufblick – und dem freien Sie-selbst-Sein-Dürfen seiner Figuren – also einem Dabeisein - macht den großen Reiz seines Werks aus. Die Anweisungen an die Darsteller lauteten immer nur: Sprich den Text. Mach es wie du denkst. Das grüne Leuchten aber ist für mich der Film, in dem diese Spannung am ehesten kollabiert: Der endlos improvisierenden Marie Rivière in der Hauptrolle die macht, wie sie denkt, aber viel zu viel eigenen Text spricht, gelingt es beinahe, die Linien des Problems (eine Frau, die, zu viel wollend, sich verkennt) in einer Weise zu verdecken, die für einen Rohmerfilm untypische identifikatorische Reaktionen auf die Figur geradezu herausfordern. Mir geht es auch so: Ich reagiere auf Marie Rivière sehr gereizt. (Und ja, natürlich, das Ende von Das grüne Leuchten ist großartig.)

Der langen Vorrede kurzer Sinn: Marie Rivière hat einen Film über Eric Rohmer gedreht, En compagnie d'Eric Rohmer, 2007 begonnen, er endet mit seinem Tod im Januar 2010. In diesem Zeitraum sucht sie ihn immer wieder in seinem Büro in Paris auf (man sieht das Klingelschild, im Stockwerk unter Rohmer: Godard/Mieville), jenem Ort, an dem, wie sie hinterher erzählt, die Darstellerinnen und Darsteller sich in den langen, meist rund ein Jahr dauernden Vorbereitungen auf einen Film immer trafen. In diesen Kern von Rohmers beruflicher Existenz dringt Rivière also ein. Was könnte interessanter, aufschlussreicher sein? Aber erst einmal nervt der Film kolossal. Rivière stellt eher sich als Rohmer in den Mittelpunkt, kokett, geschwätzig, ihre Unfähigkeit, mit der Videokamera umzugehen, recht eindrucksvoll vorführend. Sie quatscht, latscht durch Paris und schneidet, das ist am allerunerträglichsten, Rohmer mit dem Schnitt immer wieder das Wort ab.

Formal bleibt das ganze eine unstrukturierte Durcheinandermaterialsammlung, jedoch gewann ich den Film, Rohmer sowieso und beinah sogar Marie Rivière, je länger das ging, umso lieber. Außerordentlich ungezwungen ist Rivières Umgang mit dem durchaus hellwachen alten Mann. Gemeinsam erinnert man sich, Rohmer rezitiert Gedichte, viele Gedichte, er singt Lieder aus seinen Filmen, vieles davon hat er selbst komponiert. Fabrice Luchini platzt zweimal herein ins Büro, in seiner Fabrice-Luchini-Haftigkeit halb umwerfend, halb unerträglich. Arielle Dombasle ist auch einmal da und erklärt, dass ihr – zweiter – Ehemann (BHL) der einzigartigste, der einzige Mann auf der Welt ist, den sie je lieben wird und kann. Das ist für Rohmer aus philosophischen Gründen ziemlicher Blödsinn. Er wahrt bei dem Treiben um ihn herum stets eine gewisse Reserve und Distanz, aber so wie ein Großvater, der das kindische Tun seiner kleinen Enkelinnen und Enkel mit Wohlwollen betrachtet und Rempeleien und Küsse duldet und manchmal ein wenig mitspielt.

Für den, den das Werk interessiert, bleiben in dem Film eher wenige Momente: Aufnahmen etwa von einer Podiumsdiskussion in der Cinémathèque mit Serge Toubiana und Alain Bergala, auch in den Gesprächen mit Luchini geht es um ernsthaftere Dinge. Rohmer spricht etwa darüber, wie wenig ihn das Theater interessiert, und zwar als Inszenierung eines Texts, der nicht seiner ist. Was ihn am Käthchen von Heilbronn reizte, war die Übersetzung, die seine eigene war. In einer recht aufschlussreichen Sequenz sprechen Rohmer- und Nicht-Rohmer-Schauspielerinnen darüber, wie unfehlbar jede und jeder, der in einen Rohmerfilm gerät, ganz anders, nämlich à la Rohmer, zu sprechen beginnt.

Übrigens, ein P.S., man erfährt das ganz nebenbei in En compagnie d'Eric Rohmer, ich wusste es nicht: Es gibt noch einen letzten Film des Regisseurs, einen Kurzfilm mit dem Titel Le nu à la terrasse (oder so ähnlich), Teil einer Sechs-Filme-Kompilation des Namens Le modèle. Ich habe nirgends etwas darüber gelesen, jetzt auch weiter nichts dazu gefunden. Wie kann das denn sein, dass der letzte Film, den Rohmer je gedreht hat, nirgends gezeigt wird?

Vierter Tag

Die Zahlen des Tages: 1939, 1938, 1940. Die Namen dazu: Rudolf Thome, Larry Cohen, Klaus Lemke. Geburtsjahre von Regisseuren im, nimmt man Manoel de Oliveira zum Maßstab, mittleren Alter. Keine Zahlen, mit denen man im Lotto gewinnt. Lebende Legenden in eher kleinen Kreisen. Cohen ist auf der Viennale eine Retro gewidmet. Thome und Lemke sind mit neuen Filmen hier, haben in München einst gemeinsam angefangen, sich auseinanderentwickelt und nun sind sie, wie man bei Thome nachlesen und auch sehen kann, einander nach vierzig Jahren erstmals wieder begegnet. (12. Stock, Hilton, Wien, Executive Lounge.) Aber der Reihe nach.

Kussforschung also, Philematologie. Diese Wissenschaft gibt es tatsächlich, dennoch verbirgt sich hinter diesem recht genau ausskizzierten Forschungsgebiet des Fred Hintermeier kein Ankerwurf, eher ein Angelwurf in die Realität. Kann man so sagen, weil in Das Rote Zimmer geangelt wird, strikt nach humorvollem Lehrbuch, und mal beißt ein dicker Fisch, mal die Wirklichkeit an und mal die Göttin der Liebe, die nackt aus dem Wasser steigt und den Mann so verführt, dass er hinterher nicht mehr will oder kann. Forschende sind sie alle und Liebende auch und also wie stets noch Forschende nach Formen der Liebe in Thomes neuem Film, der in Berlin seinen Ausgang nimmt, in einem blauen Haus auf dem Land in Klein-Blittersdorf seinen Fortgang und der auf dem Weg ans Meer dann bei Regen im Auto ein mehr schönes als offenes Ende findet, himmelwärts. Auf der Suche nach der Seele des Mannes: Sibil und Luzie in Berliner Bibliotheken. Sibil angelt sich, alles Bücherwisse geht dabei passenderweise zu Boden, einen Mann in der Stabi, der aufs Land kommt und recht schnell wieder in die Großstadt zurückgeschickt wird. Luzie dagegen fängt einen Professor (der keiner ist, das hatten wir bei Hong schon, einem Forscher der Liebe ganz anderer Art), der kommt, bleibt, nicht mehr geht.

Luzie und Sibil leben zusammen, lieben sich, und sehen, das nicht zuletzt, gemeinsam die Tagesschau. Ein kleines Paradies, das, anders als man denken sollte, durch die angewandte gemeinsame Seelenforschung am lebenden Exemplar nicht wirklich aus der Balance gerät. Und Balance ist das Schlüsselwort. Das Rote Zimmer ist ein Film, in dem in Gesten, in kleinen Taten, in Worten, in Sitzordnungen und Tagesschauguckordnungen und (Miteinander)Schlafordnungen und zuerst und zuletzt in Blicken tariert wird, immerzu. Lauernd tariert, liebevoll tariert, streng tariert, sanft tariert, begütigend und herausfordernd tariert und zuletzt vertraglich tariert: vorsichtige Ausformung der Grammatik eines Glücks zu dritt in einem Idiom, das sonst keiner spricht.

Wie in Pink schon wählt die Frau (hier als  dioskurisches Liebespaar, Sibilluzie, Luziesibil) den Mann (der wieder so ein bisschen ein Tropf ist, ein Philosoph ohne Picht). Der wiederum hat – wie Pink damals von Gott – einen Befehl bekommen, von Karlheinz Oplustil, bei Gelegenheit seiner Scheidung: Geben Sie beim nächsten Mal mehr Acht bei der Partnerwahl. Voilà. Wieder ist diese Liebe eher ein Spiel, ein weit weniger böses diesmal, zwei Frauen findet einen, an dem nichts weiter toll ist, der einfach passt. Er wird auch nicht passend gemacht, die Gewalt, wo sie ausgeübt wird, bleibt stets außerordentlich sanft: ein anweisender Blick, du sitzt da, geh jetzt. Die Kräfte, die hier walten, sind fast unirdischer Art.

Das Rote Zimmer ist ein Fantasiestück und hat doch immer Wirklichkeitsreste an der Angel. Das ganze funktioniert (und es funktioniert wunderbar), weil es in sich selbst so perfekt balanciert und tariert ist. Der Auftritt der Göttin Venus etwa ist das Selbstverständlichste von der Welt. Alles hat hier das gleiche Gewicht und keine Tat zieht eine schlimmmögliche Folge nach sich. Thome wiederverzaubert die Welt, aber er tut das, und es ist ein genialer Trick, durch Banalisierung. Man schläft mit der Göttin, man guckt zusammen die Tagesschau, man unterschreibt mit Blut oder Wein einen Vertrag, und all das wird detailliert präsentiert als der natürliche Lauf der Dinge. Die Einübung eines ganz besonderen, sanft ironischen Blicks. Das Rote Zimmer lehrt, das Verrückte anzusehen mit nicht zu verblüffenden Augen. Irgendwie hat Thome einen – keineswegs reaktionären – Weg zurück ins Paradies gefunden, und zwar, anders als Kleist sich das gedacht hat, nicht im Durchgang durch die Reflexion. Eine merkwürdig post- oder präromantische, kleine, balancierte, blicksanft handfeste Utopie.

Larry Cohen war da, agiler Übersiebzigjähriger, smart, große Klappe, klasse Performer seiner selbst. Zu sehen war Bestseller, Buch von Cohen, Regie John Flynn, Entstehungsjahr 1987. «Pretty good movie», sagt Cohen, «but they screwed up the ending». Da hat er, wie man dann sah, recht, mit dem einen wie mit dem anderen.
 
James Woods ist ein Killer, Brian Dennehy Polizist und Bestsellerautor: Insider, der über «Inside Jobs» schreibt. Zu Beginn knallt es, ein Überfall, Woods mit Nixon-Maske jagt Dennehy eine Kugel in den massigen Leib, Dennehy sticht Woods mit dem Messer in den schlanken Körper. Jahre später hat Woods eine Idee zu einem Buch: Dennehy soll Woods’ einstigen Boss, einen durch und durch korrupten, mörderischen Geschäftsmann mit besten Verbindungen dekouvrieren. Woods liefert die Details. In Hassliebe sind die beiden von da an, erst recht nach dem Anagnorisis-Moment (Schuss/Stich: Faustschlag), einander verbunden, Freundfeinde fürs Leben, das für einen von ihnen dann erwartungsgemäß so lang nicht mehr währt. Die Achtzigermusik pumpt, die beiden Hauptdarsteller sind intensiv und mindestens einmal verzieht Dennehy den Mundwinkel, als wollte er gleich jemanden beißen. Wenn er rennt, sieht das nicht elegant aus. Woods als omnipräsentes Fantom: der Killer. Dennehy ist der Pitbull des Guten, Woods, der ohne Anstrengung vom knallhart Finsteren übers Schleimige ins genuin Sympathische moduliert, ein Windhund des Bösen. (Die Produktionsfirma dachte erst, erzählt Cohen, an Kirk Douglas/Burt Lancaster, dann Robert Redford/Paul Newman. Ging anders aus, der Film verschwand unverdient in der Versenkung.)

Zwei Männer auf einer gemeinsamen Mission, Cohen touches all the bases (wie man in der Baseballsprache sagen würde), Figuren durch die Gegend geräumt, Hafen, Wäscherei, ein PI mit Haarimplantat. Reagan-Amerika, mühelos schmuggelt Cohen allerlei Politisches in die Dialoge. Die Genregeschichte nimmt ihre Wendungen und nur am Schluss baut, das kann der Drehbuchautor noch immer nicht fassen, der Film Scheiße. Trotzdem: pretty good movie.

Im nicht ausverkauften Künstlerhaus, Mann mit Schiebermütze: Klaus Lemke. Von der «letzten Chance» redet er, für das deutsche Kino oder so, das sei die Viennale oder diese Veranstaltung jetzt oder, naja, was Lemke so redet, wenn der Tag und der Abend erst recht lang ist.

Erster Teil eine Clip-Kompilation 13 x Glück, Ausschnitte aus neun Filmen von Lemke, ganz frühen, ganz neuen und auch solchen dazwischen. Vieles toll, wirklich toll, der Zusammenschnitt funktioniert auch, das wird dann der beste Teil des Abends gewesen sein.

Hinterher ruft Klaus Lemke die Stars des im Anschluss gezeigten jüngsten Films auf die Bühne. Drei Frauen, jung, aufgebrezelt, ein Mann, jung, «endlich 18» steht auf dem T-Shirt. Auftritt, Abtritt, das war’s, es folgt der Film: Schmutziger Süden. Lukas mochte den, ich fand ihn nervig. Der schwer erträgliche «endlich 18»-Typ mit großer Hamburger Klappe macht Sprüche, die klingen, als sagte er typischen Lemke-Text auf. All die komplett unübersichtlich durch die Szenerie (Hamburg erst, dann aber München, Schwabing) amstrandtanzenden, hintermtresenstehenden, henningentführenden, knappbekleidetimbettlümmelnden, beimfotoshootingposierenden, denpapamitautosherbeikommandierenden Damen («Mädchen» in Lemkespeak) gehen mir echt sowas von am Arsch vorbei. Er sieht was in ihnen, ja, Lemke fetischisiert ja vor allem das: dieses In-ihnen-etwas-Sehen. Ich bin in diesem Fall dazu unbegabt, sorry.

Eher unkontrolliert liegt darunter diese und jene Musik, es gibt in vorbeitreibenden Fetzen eine Handlung, einen bösen Mann, Drogen, irgendsowas, dazu Eisbachsurfen, Lemkesprüche, Schwabinger Straßenszenen, Sex. Eigentlich ist der Film kurz, nur merkt man das nicht. Ein Softporno, wie von Lemke angekündigt, ist er sicher auch nicht, sondern, ja, sondern, eben irgendwie irgendwas. Das ZDF taucht im Abspann auf, wieso Lemke glaubt und immer herumposaunt, dass er nicht von Staatsknete seine Filme produziert, kapier ich nicht, Christoph Hochhäusler hat dazu neulich schon viel Richtiges geschrieben.

Hinterher: Lemke auf der Bühne, Schiebermütze im Gesicht, das untere Ende des Mikros hat einen roten Leuchtpunkt, was man sieht, weil Lemke es immer fast in der Waagrechten hält. Es kommen die üblichen Lemkesprüche, Film muss wirken, deutsche Filme sind wie Grabsteine, Staatsknete ist böse, erst wo die Miete gemahnt wird, beginnt die Kunst, Glück und Coolness, Wenders schon immer ein Depp, Fassbinder, Zwischenruf aus dem Publikum, ja, am Anfang, dann schnell Kunstgewerbe – halbstark, selbstgefällig, große Fresse und das nach einem so ziemlichen Scheißfilm wie Schmutziger Süden, ja, ich weiß, Lukas sieht das anders, ich versteh’s aber nicht, daneben sitzt, als Stichwortgeber und Amüsiertdreinblicker, SZ-Filmkritker Tobias Kniebe, der jetzt nicht aussieht, als grübelte er grade drüber nach, wie er die Miete für den September auftreiben soll; aber dem blöden rechthaberischen Künstlermachismo widersprochen wird nicht.

Wirklich ganz schlimmer Auftritt, der unfreiwillig vorführt, wie schnell eine notwendige Frechheit in eine überflüssige Pose umkippt. Lemke, Mann, so tolle Filme immer wieder, ich sag's mal auf Latein: Hätteste die Klappe gehalten, wärste ein Held geblieben.

Dritter Tag

Blicke, Zusammenstöße, magische Anziehung, Sex im Halbdunkel, weiß schimmernde Augäpfel in Nachtgrau: Bild an Bild reiht Marco Bellocchio am Beginn von Vincere, als eruptive Erinnerungen Ida Dalsers an ihre Zeit, die Tage, die Nächte, mit Benito Mussolini. Private und politische Geschichte nehmen sich nichts: beides tritt auf als eruptives Geschehen; Ereignisse, die sogleich in den Aggregatzustand des Bildkompositionsförmigen, der artifiziellen Montage zwischen Historie und Imagination übergehen. Mussolini, der nackt auf dem Balkon steht beim Ausbruch des Kriegs und im Gegenschnitt jubeln ihm aus den Archiven die schwarz-weißen Massen schon zu. Mussolini fordert Gott heraus und die Welt, zieht in den Krieg, ist plötzlich nicht mehr Sozialist, sondern Faschist, schläft mit Ida Dalser, der Ehefrau, die er später verleugnet, und Marco Bellocchio hat Sex mit den Archiven der historischen Erinnerung. Den Schrei der Ausbrüche auf der Leinwand nach der großen Oper im Hintergrund erhört er, nur zu gern.

In braver Historikermanier erklärt wird hier nichts. Alles ist ins Register des etwas alteuropäischen Kunstfilmbildüberschwangs gesetzt. Ein Knall, ein Pulverdampf, daraus torkeln die Menschen, oder auch: Sie tauchen auf aus dem Unbewussten der Geschichte, das Vincere lustvoll nach außen kehrt. Mussolini rumort als privates «Es» durch die Betten und als steinerner Gast durch die Bilder, als Mann, von dem Ida Dalser nie wieder loskommen wird; dann als Held nach dem Krieg in einer Kathedrale, in der im Film, der über den Köpfen gezeigt wird, Jesus stirbt, vom Kreuz abgenommen wird; Pietà. Alles Projektion, den Begriff der Psychoanalyse nimmt Bellocchio überaus wörtlich und darum läuft, als überhöhender Kommentar, als Archivstück, als Kurbel-Stummfilm-Kopulation von Einbildung und historischem Bildmaterial ständig ein Film: Chaplin, Jesus, Il Duce.

Die Historie spaltet sich: in private Wahnsinnsgeschichte und den mörderischen Faschismus, dessen Irrsinn zu Statuenbildern und Ducegebrüll sich monumentalisiert; die große Geschichte wird sichtbar und lesbar nur in der Fratze der privaten Verfallenheit der Verlassenen an den Mann, der sie aus seiner Biografie getilgt hat. Die Odyssee Ida Dalsers (und dann auch die ihres Sohns Benito Albino Mussolini) von einer Unglücksmanie und psychiatrischen Anstalt zu der andern, das unnachgiebige Beharren auf dem Realen, das in der verblendeten Arrondierung politischer Wirklichkeit zur nationalen Heldenlgeschichte keinen mehr schert. Bellocchio scheint nicht minder verrückt, nicht minder besessen als seine Heldin, hängt an den bebenden Lippen, den aufgerissenen Augen, dem zitternden Verlangen der Ida Dalser nach Anerkennung ihrer Existenz, nach Gerechtigkeit.

Vincere ist ein Film, der keiner Vernunft zugänglich sein will, der dabei das Historische keineswegs privatisiert (wie man denken könnte), sondern die Pathologien des Faschismus im Privaten (das so keines mehr ist, oder jedenfalls sehr viel mehr als nur das Private) kenntlich macht und sie dort mit Opernwucht und als Filmeinspielung und Irrsinnsstück zur Aufführung bringt. In der Methode ist das gar nicht so verschieden von Buongiorno, notte, obwohl es ganz anders aussieht. Bellocchio sucht filmische Korrelative, die das sich Ereignete nicht zeigen wollen, wie es gewesen und es damit verfälschen; sondern die es in Traum, Oper, Projektionsfetzen transformieren, um die Wahrheit genau dadurch herauszubringen. Wenn das in Vincere weniger gut als im sehr viel kontrollierteren Terrorismusfilm-Meisterwerk gelingt, dann hat das vor allem damit zu tun, dass diesmal die Bilder, die Bellocchio erfindet, dass die Bild- und Tontechniken, die er nutzt, immer wieder zu nah am gehobenen Arthouse-Kunstgewerbe liegen, das Vincere seinem Zuschnitt nach gerade nicht ist.

Alles an Ha Ha Ha ist vertrackt. Vor allem das Off. Treffen sich zwei Männer. Klingt wie ein Witz. (Ha Ha Ha). Der eine der beiden, Filmregisseur ohne Film, Professor ohne Professur (erklärt er einmal; ein Scherz?), ist auf dem Sprung nach Kanada. Man erzählt sich, was zuletzt so geschah. Diese Erzählung gibt dem Film einen Rahmen, Novellentechnik. Man sieht diese Männer nicht, vielmehr: nur als Fotos, schwarzweiß, später immer seltener, nur noch die Tassen, mit dem Alkohol; fast jedes Erzählstück endet mit einem freundlichen gegenseitigen «Prost» (oft über Bildern, die weiß Gott nicht dazu passen). Kurz und gut: Man betrinkt sich, wie man das in Hong Sang-soo-Filmen und auch in den in Ha Ha Ha erzählten Episoden ausgiebig eben tut.

Bilder, bewegte Kinobilder (wieder digital) sieht man nur vom erzählten Geschehen. Die beiden Erzähler wechseln sich ab, die Erzählstränge des Films auch, der das Erzählte verbildlicht. Es zeigt sich dabei aber ein verzwicktes medienontologisches Problem: Wie verhalten sich die Worte, die wir uns vorstellen müssen (denn die Bilder lösen die Worte aus dem Off regelmäßig ab; ebenso regelmäßig kehren die Worte gegen Ende jeden Abschnitts wieder), wie verhalten sich also die Worte der Erzählung zu den Bildern? Eine Ekphrasis-Frage, die von Ha Ha Ha unausdrücklich, und umso nachdrücklicher gestellt wird.

Sollen wir denken, dass das notgedrungen ins Detail gehende Bild (die «ganze» Wirklichkeit ist immer vollständig da) eine eins-zu-eins-Entsprechung der Worte ist, die Satz für Satz immer nur Explizites mit seiner Implikations- und Konnotationsumgebung präsentieren? Bilder sind viel expliziter als noch die genaueste textuelle Beschreibung, auf die es hier gar nicht ankommt – und das wird mehrfach auf sinnverwirrende Weise zum Rätsel: Einmal etwa erzählt der eine der beiden von einem Traum, in dem er einem historischen Kriegshelden begegnet. Nur an einen Satz aus dem Traum erinnert er sich noch (sagt er), dabei haben wir in der Bebilderung dieses Traums den ganzen Dialog mit vielen weiteren Sätzen (von denen manche an ganz anderer Stelle dann wieder auftauchen) gesehen. Später wird sehr konkret eine Adresse mehrfach genannt, die den Erzählern eigentlich auf die Sprünge helfen müsste: Wenn, ja, wenn sie tatsächlich wüssten, was sie erzählen. Man kann nur schließen: Sie tun es nicht. Der Film zeigt, sich von den Worten seiner Off-Erzähler zum Bild hin lösend, Dinge, die diese nicht wissen. Die Bilder des Films enthalten – Medienontologie psychoanalytisch gefasst – das Unbewusste der Worte in einer Fülle faktischer Konkretion, die dem Wissen der Erzähler verwehrt bleibt.

Daraus folgt: Ha Ha Ha ist ein Film über nichts so sehr wie jenes Wissensgefälle, das den Namen «dramatische Ironie» trägt und die partielle Blindheit von Handelnden benennt, die über die Zusammenhänge, in denen sie tun, was sie tun, nicht im Bild sind. In gewisser Weise geht es darum bei Hong auf der Handlungsebene immer, diesmal aber (auch; und wieder) in der und als Struktur eines Films. Das Ekphrasis-Problem ist nämlich nur der eine Teil. Der andere ist: eine Boulevardkomödie. Was passt, denn «dramatische Ironie» ist die Tragödie der Ahnungslosigkeit, die man am wirkungsvollsten als schlechten Witz spielt. Dazu bedarf es einer Bühne mit wenigen, regelmäßig wiederkehrenden Schauplätzen und es bedarf (im Theater) der Türen, die das Spiel von Begegnung und Verpassen regulieren.

An beidem, der Überschaubarkeit wie den Türen, mangelt es nicht. Ort der Handlung: eine Kleinstadt in der südkoreanischen Provinz. Hier versammelt Hong seine sehr typischen Hongfiguren. Drei erbärmliche Männer und drei Frauen, die teils (eine von ihnen) an einen der Männer fest attachiert, zum anderen, größeren Teil aber Verschiebefiguren sind. Wie stets bei Hong kommen bei diesem Wechselspiel die Frauen sehr viel besser weg als die Männer, die nicht passioniert sind, sondern passiv und dabei unter- und, je mehr Alkohohl im Spiel ist, desto oberschwelliger aggressiv sind. (Eine Möglichkeit, das Drama der Hong-Männer zu fassen: Eine Passivität, die sich zur Passion niemals aufschwingt, sich aber sehr gern in Worten damit verwechselt.) Alles ist in Ha Ha Ha geboten: ein ständig Psychopharmaka schluckender Depressiver, ein Dichter, der zuschlägt, ein Filmregisseur ohne Film, der nicht-handelnd handelt, dazu die Frauen, die (mehr, minder) gefangen bleiben in den Zusammenhängen, in denen die beiden Männer im Off von ihnen erzählen. Das ist im Detail kompliziert, in der Summe trostlos und immer wieder so böse wie lustig.

Der eigentliche Clou: Die Erzählungen der Männer überkreuzen sich, ohne dass die beiden das merken. Eine Komödie der ständigen Verfehlungen (in des Wortes Doppelsinn), die ihren Reiz eben dadurch gewinnt, dass nur einer diese Verfehlungen wirklich wahrnimmt, sieht und goutiert: der Betrachter. Ahnungslos bleiben die Männer aus dem und im Off wie im On, während sie an immer denselben Orten speisen, verkehren, trinken, sich und die anderen quälen und an sich und den anderen leiden. In den Dialogen wie gehabt Liebesschwüre, die nichts gelten, Vorschläge, an die der Vorschlagende selbst nicht glaubt, Bewegungen vor, zurück und im Kreis. Und virtuoser vielleicht noch als in früheren Filmen schiebt Hong Sätze und Dinge, Pflanzen und Worte (Pflanzen wie Worte), Hunde und Gedichte, Mütter und militärische Denominationen von einer Seite auf die andere, hin und her und auch im Kreis. Zwischen den beiden Erzählungen nichts als Spiegeltüren, durch die die Figuren in Unkenntnis ihrer genauen Verortung verkehren, in denen sich Muster teils sehr verzerrt, teils zur Wiederkennbarkeit entstellt, brechen, so lange bis die scheinbar getrennten Erzählungen sich zu einem Zusammenhang fügen, in dem alles es selbst und zugleich etwas anderes ist und spiegelt, in dem um sich ständig verschiebende Achsen wiederkehrende Orte, Gestalten, Motive gekippt werden.

Und nur zum Schein stehen die beiden Erzähler (bewegtbildlos, Stimme, Schwarz-Weiß-Foto, Off, Prost-Prost) daneben, dahinter oder darüber. In Wahrheit sind sie von Anfang an mitten im Wirbel der Verfehlungen und Verwirrungen, die sie erzählend anrichten, von denen sie zuverlässig weniger wissen als wir, die wir ihnen dabei folgen. Hong hintertreibt ihre scheinbar mächtige Position als Erzähler, indem er einerseits ins Bild Dinge fügt, die sie nicht wissen. Und zum anderen führt er sie eben vor als die sich besaufenden Deppen, die sie sind. Ins Schwarzbild des Schlusses hinein hören wir ihr Lachen. Es ist ihnen nicht vergangen, aber das Ha Ha Ha des Titels ist nicht das ihre, sondern das unsere: Sie haben wirklich nichts kapiert. Hinter dem Rücken der beiden Helden fügt sich dieser überaus vertrackte Film so zum Porträt jener besonderen Erbärmlichkeit, die darin liegt, dass einer sich für schlauer hält als er ist. Treffen sich zwei Männer: ein Witz.

Zweiter Tag

Heute kann ich es eher kurz machen, da zwei der drei Film, die ich gesehen habe, in CARGO schon behandelt wurden. Der erste davon ist Cold Weather von Aaron Katz. Lukas Foerster hat freundlich darüber geschrieben in seinem Locarno-Bericht und gemeint, der Film verhalte sich zur Mumblecore-Szenerie etwa so wie Im Schatten zur Berliner Schule als der Versuch, einen filmischen Autorenfilmkosmos zum Genre zu öffnen. Das ist so richtig wie instruktiv. Es macht aber in der Genredifferenz auch sehr klar, wie begrenzt, wie mikro der Mumblecore-Kosmos noch da bleibt, wo ihn einer seiner besten Vertreter zu weiten versucht. Und dass Katz etwas kann, ist keine Frage: Fast schon zu ausgesucht sind manchmal seine Bildkompositionen, es sind aber immer wieder hinreißende Stillleben darunter – eigentlich scheint das die Richtung, in der der Film am meisten verspricht. (Lauerte am anderen Ende dieser Bewegung nicht schon das internationale Kontemplationskino mit seinen sozialen Undefiniertheiten. Schwierig, das alles.)

Während Thomas Arslan sich Orientierung bei den Hardboiled-Post-Pulp-Klassikern der Sechziger holt (Richard Stark, Dan J. Marlowe) und die Berliner-Schule-Kälte so durch eine Kältelehre der Krimitradition eher noch einmal forciert, greift Katz auf die frühen Rätselkrimi-Veteranen E.W. Hornung und – natürlich – Arthur Conan Doyle zurück. Sein Held ist ein Detektions-Revisionist! Tatsächlich hat er Forensik studiert, aber nicht CSI ist sein Vorbild, sondern mit Sherlock Holmes der Armchair-Detective schlechthin. (Das aktuelle Äquivalent freilich ist Dr. House, Holmes als vollends ungemütliche Figur.) Nun fehlt in Cold Weather nie eine Spur wenigstens Ironie gegenüber dieser kriminalliteraturgeschichtlich rückwärtsgewandten Vergemütlichung der mikrokosmischen-Mumblecore-Welt. Und im Setting – Portland im Winter, Arbeit in der Eisfabrik, kalte Farben – unternimmt Katz den im Titel angekündigten Versuch, die Laberfilm-(kann man ja mal so übersetzen)-Betriebstemperatur so weit runterzukühlen, dass keine Nestwärme aufkommt.

In gewissem Grad will das gelingen. Andererseits erzählt Katz in die kühle Umgebung eine eher warme Mystery-Geschichte hinein. Es treten die Genreelemente verharmlosend eher als verscchärfend an die Stelle der mumblecoretypischen Konflikte, die die vier zentral gesetzten Figuren dafür bestenfalls andeutungsweise haben. Der Eintrittspunkt der Krimimotive (eine Frau ist verschwunden, ein Koffer voller Geld wird gestohlen) sind sehr reale Geldsorgen; genutzt werden diese aber doch vor allem als Sprungbrett für den Abflug des Drehbuchs in den Rätselkrimi, der dann deutlich das Kommando übernimmt. Mumblecore-Typisches wie Beziehungsbeichten bleibt im Hintergrund, kehrt gelegentlich, aber eher undramatisch, zurück, etwa als Pausenfüller gegen die Langeweile beim Stakeout. Das soll alles nicht heißen, dass Cold Weather nicht Spaß macht. Es scheint mir nur sehr die Frage, ob die Überführung des Befindlichkeitsdramas in eine in jeder Sekunde mit leiser Beobachterironie abgesicherte, noch so stilbewusst komponierte Fünf Freunde-Erzählung wirklich irgendwohin führt.

Los Labios (Ivan Lund, Santiago Loza) war, offen gesprochen, eine Qual. Kein wirklich misslungener Film und, moralisch gesehen, allemal ein grundguter. Nur ausgehalten habe ich ihn beinahe nicht. Drei Sozialarbeiterinnen/Krankenhelferinnen treten eine Reise an in die hintere argentinische Provinz, kommen unter in einem total verfallenen ehemaligen Krankenhaus und machen die Runde unter den unterprivilegierten Bewohnerinnen und Bewohnern der Gegend. Führen Befragungen und notdürftige Untersuchungen durch, verteilen Medikamente und kämpfen gegen die Widrigkeiten einer offensichtlich runtergekommenen Gesundheitsorganisation.

Los Labios liegt und bleibt irgendwo auf der Strecke zwischen Frauenporträt und Dokumentarfilm. Die Menschen, die die drei Frauen aufsuchen, spielen alle sich selbst. Was man sieht und spürt und doch zieht die Einbindung ihrer Schicksale in einen Spielfilm dem ganzen den Zahn. Nicht, weil sie instrumentalisiert würden, sondern weil der Film ihnen keinen Atem gibt, keinen Spielraum lässt: Kurz sitzen und stehen diese Menschen im Lichtkegel, der auf sie fällt, wenn die drei Frauen bei ihnen vorbeischauen. Dann war es das wieder. Diese Sondierung einer sozialen Situation macht stets Halt, bevor irgend etwas genaue Konturen gewinnt. Der Hintergrund dieser Leben, dieser Schicksale, wird kaum sichtbar und so bleiben sie, da kann die Kamera sich noch so sehr an ihren Körpern festsaugen, in fast beliebiger Manier unindividualisiert.

Genau so, könnte man argumentieren, ergeht es den drei Frauen: Sie lernen die Menschen, um die sie sich kümmern, kaum näher kennen. Das ist wahr - aber lässt sich die brutale Begrenzung einer Perspektive wirklich damit rechtfertigen, dass es auf der Welt sehr viele sehr begrenzte Perspektiven gibt? Die Konzentration der Filmemacher auf die drei Figuren führt im Gegenzug auch nicht sonderlich weit. Man sieht, wie sie krank sind, man sieht ihre Versuche, auch einmal Spaß zu haben, man sieht, wie sie einander die Lippen schminken. Das alles in vielen Handkamera-Closeups ihrer Gesichter, die die ohnehin schon überbetonte Beengtheit des Ganzen nur noch weiter forcieren, ohne dass wirklich eine ästhetisch überzeugender Entwurf daraus wird. Vollends enervierend: die als Kapiteltrenner eingefügte Gitarrenmusik. Ich habe grundsätzlich weder etwas gegen quasidokumentarische Sozialbeobachtungenn noch gegen adramaturgische Szenenabfolgen noch gegen körpernahe Handkameras: In der Kombination, in der Los Labios das versucht, dient es der Wahrheitsfindung aber so wenig wie es einen formalen Mehrwert gewinnt.

Bliebe noch Die Autobiografie des Nicolae Ceausescu, über den Simon Rothöhler im aktuellen CARGO-Heft alles Nötige sagt. Ein absolut sehenswerter Film, eine Bildstudie über die Mediokrität der Selbstdarstellung des Bösen, das Kommunismus-Remake von Harun Farockis kapitalismusbiografischem Ein Tag im Leben der Endverbraucher in der brutalen extended version, ein Denkmal für den sinnlosen Mut des Constantin Pirvulescu (hier seine Brandrede gegen Ceausescu auf dem Parteikongress von 1979, ohne Untertitel: aber man begreift alles, wenn man weiß, dass der immer wieder aufbrandende Beifahl sich gegen ihn richtet), ein Versuch über die kaum Mitleid erregende wachsende Einsamkeit des Langstreckendiktators, Videogramme einer Revolution – das Prequel, nicht zuletzt: der Blick auf die denkbar monumentalste Version der Ornamentierung der Masse beim Staatsbesuch Ceaucescus in Nordkorea. Man kann, sieht man bei den jeder Beschreibung spottenden Szenen aus Nordkorea, mit Menschen alles machen, auch Stadien vollschreiben und die Geschichte des kommunistischen Rumänien an die Wand malen, wenn die Macht nur total genug ist.

Erster Tag

Blicke aufs Meer: Im fast schon Dunkeln, im beinahe gleißend Hellen. Draußen, könnte im Drehbuch stehen. Dann geht es nach drinnen. Einem jungen Mann folgt die Handkamera durch schmale, windschiefe Gänge in einen Verschlag. Er ist dort mit einer Frau verabredet, es geht um Geld. Sie zeigt ihm, was sie hat und es ist sichtlich zu wenig. Noch kennt man den Hintergrund nicht, aber Ökonomie ist damit als Thema gesetzt. Einen anderen Hintergrund bietet der Vorspann. In Fernsehbildern und kurzen Einblendungen erfährt man von Killern, die mit heimlicher Duldung des Staates unterwegs sind, um ohne Recht und Gesetz in Vigilante-Manier Delinquenten (Dealer, Kleinkriminelle meist) zu liquidieren: In the last decade, over 814 people have been killed by state-sponsored vigilantes in the Philippines. Many of the victims were children.

Die Begegnung, die Engkwentro (englischer Titel Clash) im Titel führt, ist eine mehrfache: als Clash von Politik und Deprivilegierten, als Zusammenstoß eines Opfers mit seinem Mörder. Damit aber auch: die Zusammenführung des Allgemeinen, Abstrakten, der Zahl (814 people) mit dem Konkreten; einer vor Augen geführten individuellen Geschichte. In der Methode ist das didaktisch, aber auf so transparente Weise, dass nichts, wirklich rein gar nichts dagegen eingewendet werden kann. Es gibt diese Fälle, sagt Pepe Dioknos Videofilm (es ist unfassbarer Weise das Debüt eines 21Jährigen), und ich zeige euch einen davon.

Mit dem «medias in res», mit dem er den Hauptteil beginnt, auf den Handkamerabewegungen durch labyrintische Gänge eines Slums fast ohne Schnitt (scheinbar) und jedenfalls atemlos folgen, setzt Engkwentro ein Realismussignal. Gleich in einer der ersten Szenen, Richard im Gespräch mit seinem Vater, ist vom Gestank die Rede, später erneut. Es ist, als sollte man die als Immersionserfahrung entworfene Welt spüren können mit allen Sinnen: ausgefeilt bis ins letzte scheint auf völlig unaufdringliche Weise die an- und abschwellende Soundscape, die Kamera schnüffelt geradezu durch alle Ecken und Winkel, immer – fast immer – den Figuren auf der Spur wie ein (treibender, getriebener, liebender, hassender) Hund. Es formt sich, auch das wie nebenbei, eine dramatische Geschichte um Richard, der Geld auftreiben will, auf der Flucht vor nicht näher genannten Instanzen, der mit seiner Freundin Jenny-Jane ausreißen will nach Manila. Richards kleiner Bruder Raymond schlägt sich unterdessen auf die Seite einer feindlichen Bande.

Doch der Realismus ist künstlich, ohne deshalb notwendig aufzuhören, ein Realismus zu sein. Glasklar ist Engkwentro  zum einen in Formoppisitionen gebaut: Der kurze Prolog (dunkel/hell, draußen) wird im Hauptteil des einstündigen Films invertiert (hell/dunkel, drinnen); gegen die Ruhe des Beginns steht die rasante Handkamerahektik des Folgenden (mit einer kurzen Zäsur zwischen Hell und Dunkel, ein Schwenk in den Himmel, plötzlich der Mond). Auch und gerade die Tour de Force der Kamera durch die Slumgänge und Slumhütten, einmal sogar über die Dächer, ist in ihrer scheinbaren Schnittlosigkeit ein Mittel der hoch artifiziellen Erzeugung von Unmittelbarkeit. Als wäre sie eine weitere Schicht, sozusagen die Schmutzschicht an den Wänden dieser Welt, hört man immer wieder Auszüge aus der Rede eines Politikers, der die Vigilante-Gewalt fast zu rechtfertigen scheint.

Aber so real die Räume und Klänge und Ansichten des Slums scheinen, sie sind es nicht im naturalistischen Sinn einer vorgefundenen Wirklichkeit. Pepe Diokno hat neben einem tatsächlichen Slum die Kulissen errichten lassen, in denen er das konkrete Leben in didaktischer Absicht als wirkliches vorführt. Das ganze ist nahe an der Videoinstallation, forcierte Belebung des Thomas-Demand-Nachbaus einer Welt, deren Schrecken aus der Distanz, die Engkwentro in seiner Form gezielt sucht (aber nicht ausstellt), umso eindrücklicher vor Augen und Ohren stehen.

Ziemlich gegen Ende von Alex de Iglesias Film Balada Triste de Trompeta fällt der Dialogsatz: «Nicht wir sind verrückt geworden, unser Land ist verrückt.» Eine Allegorie, die glaubt, eine Leseanweisung dieser Art nötig zu haben – das lässt wenig Subtilität in der Gesamtkonstruktion wie in der Detailausarbeitung erhoffen. Und in der Tat ist Subtilität das letzte, was einem zur Beschreibung dieses wüsten Verhaus von einem Film einfällt. Auch sonst nicht viel Positives: Einmal, okay, fällt ein Hirsch so ziemlich vom Himmel, mein einziger Lacher. Sonst aber setzt de Iglesias auf Drastik, Vulgarität, Brachialslapstick in munterer Mischung. Und eine gehörige Portion Sadismus, das kommt dazu.

Was Balada Triste vor allem unangenehm macht, sind seine übermäßigen Ambitionen. Mit einem Prolog im Jahr 1937 und dem Haupthandlungsjahr 1973, nimmt sich de Iglesia gleich mal fast den kompletten spanischen Faschismus vor, die Jahre dazwischen werden in einer kurzen, oberflächlichen Bilderrevue zusammengefasst. Die Absicht war offenbar, in die Spätzeit des Franco-Regimes eine Liebesdreiecksgeschichte unter Zirkuspersonal dergestalt hineinzulesen, dass daraus für die Zeitdeutung und historische Analyse etwas erhellt. Es erhellt aber nichts, die Zirkusmetapher bleibt, so massiv sie auch ausgewalzt wird und bei allem Radau, den Balada Triste veranstaltet, stumm.

Per se ist die historische Wurstigkeit, zu der sich de Iglesia von den Inglourious Basterds sicher ermutigt gefühlt hat, noch kein Problem. Es ist der Umgang mit dem Kontrafaktischen, es ist das Gezielte am Bruch mit den historischen Realitäten, der zählt. In Balada Triste aber scheint alles egal. Totenschädel werden geschussert, Franco wird in die Hand gebissen und der Showdown nutzt die Franco-Kathedrale mit dem riesigen Kreuz von Cuelgamuros ziemlich genau so, wie Hitchcock den Mount Rushmore einst nutzte: als doch eher entpolitisierten spektakulären Kampfhintergrund. Angesichts solcher sinn- und verstandloser Geschmacklosigkeit ist es fast erfreulich, dass es immer wieder sehr lange dauert, bis sich das Drehbuch auf den historischen Zeithintergrund besinnt. Dazwischen werden der (böse) lustige und der (zunächst grundgute) traurige Clown (mit Bürgerkriegsfamilientrauma) in Konkurrenz zur begehrten Natalia, die bloße Chiffre bleibt, aufeinandergehetzt. Das schaukelt sich zum leider insgesamt auch sehr öden Eifersuchtsdrama mit körperlichen Versehrungen auf, wobei letztere, so genüsslich sie ausgemalt sind, über die Verhältnisse von Körper und Politik dann auch nichts zu sagen haben.

In Venedig wurde Balada Triste von nicht wenigen gefeiert und bekam, das ist ein wirklich sehr schlechter Witz, den Regie-Löwen. Auf sehr viel weniger Resonanz stieß Monte Hellman mit seinem Comeback-Film Road to Nowhere. Wenn man das Werk nun mit neu justierten Erwartungen sieht (also nicht auf ein Update des absurden Theaters in amerikanischen Genreformen hofft), blickt es zwar nicht als «fucking masterpiece», aber doch als faszinierend verspiegelter Film-im-Film-Film-Noir zurück. Der Plot ist kompliziert, aber eigentlich weniger kompliziert, als Hellman ihn – mit, ich denke, gutem Grund – macht. Eigentlich geht das ganze ungefähr so: Ein Regisseur dreht nach einer wahren Betrugsgeschichte einen Film Noir. Vor Ort, niedrig budgetiert, beraten von Kennern der Vorgänge. Er verfällt dabei auf eine Hauptdarstellerin (Shannyn Sossamon), deren Schönheit und Charme er schnell erliegt. Dass mit ihr etwas nicht stimmt, verdichtet sich im Verlauf vieler Vor- und Zurückblenden und in der langsamen Akkumulation weiterer Informationen zur Gewissheit.

Mit einer Rahmung – bzw. der Aufhebung eines Rahmens – beginnt der Film: Die Kamera zoomt auf einen Film, der auf einem Laptop zu sehen ist, sehr langsam, Millimeter für Millimeter, bis der Rahmen verschwunden ist: Wir sind in diesem anderen Film. Der Vorspann, der folgt, ist der dieses anderen Films, Road to Nowhere, Regie: Michell Haven. Road to Nowhere, Regie Monte Hellman, hat keinen (eigenen) Vorspann. Mit nicht nachlassender Lust an der Verwirrung kreuzt Hellman bis zuletzt hin und her, zwischen den Ebenen, ohne jede äußere Markierung; zwischen Einstellung und Einstellung, zwischen hier und da, liegt nie mehr als ein einfacher Schnitt. Erstaunlicherweise läuft das aber nicht auf ein postmodernes Spiel hinaus, das sich schnell erschöpfte. Eher versetzt einen (versetzte mich) die fortgesetzte Unruhe der Erzählung in einen hoch konzentrierten Wachtraumzustand.

Tatsächlich geht es Hellman einerseits sicher um eine aufreizend radikale filmische Epistomologie, die ihre Ansicht, dass ihn die Linearitätserwartungen des Publikums kreuzweise können, ohne Rücksicht auf Verluste ausstellt. Andererseits setzt er im Gegenzug zu dieser gesuchten Selbstreflexität aber auf Intensitäten und nutzt die Topoi des Film-im-Film-Genres weidlich dafür: Wieder und wieder sieht man Szenen in unterschiedlichen Takes, mal so und mal so. (Es kommt dazu, dass auch die Wahrheit des Geschehens nur in der Unschärfe eines solchen Take-für-Take ans Licht kommt. Und zwar so wie der Morgen ans Licht kommt, heraufdämmernd.) Das Ende, ein wiederum ganz langsamer Zoom auf das weichgezeichnete Gesicht der Protagonistin, ist kein Zufall: diese atemlose Nähe (zu einer Toten) sucht und findet Hellman (wie Theseus den Faden der Ariadne im Labyrinth) von Anfang bis Ende.

Vielleicht lässt sich der Plot schlüssig enträtseln; es blieben für Wahrscheinlichkeitskrämer allerdings bis zuletzt viele Fragen. Das aber ist nicht der Punkt. Weil es nicht um eineen Punkt, ein Irgendwo geht, an das dieser Film gelangen will. Wie der Titel schon sagt, und nicht nur der Titel. Wieder und wieder geht es (in Song-Einlagen, in einer Schauspielprobe) um eine sehr spezifische Situation: gefangen zu sein zwischen einem Vor und Zurück, ohne wirklichen Ausweg nach beiden Seiten. Ja, also doch Update des absurden Theaters, aber in unerwarteter Fraktalmanier. Und auch das Ende des anderen, literalen Roadmovies in Hellmans Filmografie, Two-Lane Blacktop, dieses Ende mit seinem schmelzenden Zelluloid findet, hier kurz vor Schluss, noch in einem kurzen, tatsächlich rahmensprengenden Kameraschwenk so etwas wie seine Entsprechung.

Dabei ist Road to Nowhere alles andere als ein Anachronismus. Darauf deutet schon der erste Zoom ins Innere des Films auf dem Laptop. Klares Signal: Dies hier ist durch und durch digitales Kino. Den Bildern sieht man das an. Gedreht ist das ganze mit einer in erster Linie für Fotos gedachten Digitalkamera (Canon 5D Mark II), die so klein ist, dass die Crew immer wieder unbemerkt an öffentlichen Orten drehen konnte. Ein produktionstechnischer Vorzug der digitalen Kameras aber verschwand dadurch wieder: Für jeden Take blieben nur die zwölf Minuten, denen die Flashspeicherkarte der Kamera Platz bietet. Die ganz eigenartige Anmutung dieser (keineswegs billig, aber entschieden digital wirkenden) Bilder wäre eine ausführliche phänomenologische Beschreibung wert.

Es würde dabei jedenfalls deutlich, dass kein Digitalfilm in seinen Bild- und Affekt- und Realismus- und Immersionsqualität dem anderen gleicht. Bei Pepe Dioknos Engkwentro, der im Kontext einer längst hoch spannend ausdifferenzierten philippinischen Digitalfilmkultur entstand, laufen das Abstrakte und das Konkrete zu einem Distanzrealismus zusammen. Und Monte Hellman liefert dagegen schon ausgefeilte Fotokameraspiegelreflexionen.