dokumentarfilm

8. August 2018

Zuhause an den Empfängern Fernsehhinweis: Kulenkampffs Schuhe von Regina Schilling

Von Bert Rebhandl

Kulenkampffs Schuhe

© ARD

 

Am 9. November 1978 kollidieren im Zweiten Deutschen Fernsehen zwei Termine. Die Sendung Dalli Dalli wird zum 75. Mal ausgestrahlt, aber es ist auch der 40. Jahrestag des Novemberpogroms 1938. Hans Rosenthal, der Moderator von Dalli Dalli, ist Jude. Er würde an diesem Tag lieber nicht moderieren. Aber die Sendeanstalt besteht auf dem Termin. Nach der Show wird Nacht und Nebel von Alain Resnais gezeigt. Für die Filmemacherin Regina Schilling eine entscheidende Erfahrung: «Nach diesem Film schaue ich anders auf die Welt.»

Nun hat sie diesen anderen Blick zurück auf die Zeit gerichtet, die vor diesem Eintrittsmoment in ein nicht mehr kindliches Wirklichkeitsverhältnis lag: auf die Zeit, in der Deutschland eine «Fernsehfamilie» war, auf die Zeit, in der ihr Vater einer von vier Männern in ihrem Leben war. Die anderen drei waren Hans-Joachim Kulenkampff, Hans Rosenthal und Peter Alexander. Drei Showmaster, mit denen Deutschland durch die Jahre des Wirtschaftswunders ging.

Der Film Kulenkampffs Schuhe ist vieles zugleich: eine Geschichte der Nachkriegs-BRD im Spiegel ihrer Samstagabendliturgien, eine Familiengeschichte im Zusammenhang der kollektiven Geschichte, eine Krankengeschichte als Symptombild gesellschaftlicher Überanstrengung, und eine Geschichte von einer Geschichte, die nicht vergeht: «und sie werden nicht mehr frei», das stellt Regina Schilling als Motto hinter die Lebensläufe der vier Männer, denen sie andere Biographien in Exzerpten hinzufügt, zum Beispiel die des Mannes, der jahrelang den Butler in Kulenkampffs Show gespielt hatte, und der in all dieser Zeit das Geheimnis gehütet hatte, dass er weiterhin Nazi war.

Kulenkampffs Schuhe ist ein Archivfilm in doppelter Hinsicht: das private Familienarchiv der Schillings trifft auf die bundesdeutschen Medienarchive. Jede einzelne Sekunde in der Montage ist interessant, es gibt großartige Nebensächlichkeiten wie einen Auftritt von Fassbinder bei Rosenthal, oder einen Film, in dem Horst Tappert einen von Preisliberalisierungen gebeutelten Drogisten spielt (mit einem grotesk unterkühlten Pathos) – der (früh verstorbene) Vater von Regina Schilling war Drogist, sie war die zweite Tochter, die als Baby nicht gleich genug Gewicht zulegte, es bedurfte einer speziellen (Marken-)Milch: Aponti-Schwarzwaldmilch. Es sind die Jahre, in denen Deutschland auf legale Drogen kommt: Buerlecithin war auch bei uns immer im Haus (ich gehöre zur gleichen Generationskohorte, nur Kulenkampff habe ich nicht so mitbekommen, da machen schon ein, zwei Jahre viel aus).

Die Gesellschaftsgeschichte dieser Jahre ist vielfach geschrieben worden, man findet sie bei Böll, bei Friedrich Christian Delius, und natürlich bei Hans-Ulrich Wehler. Kulenkampffs Schuhe ist im Vergleich dazu eine Randnotiz, die aber in der Verdichtung von 90 Minuten im Grunde hundert Jahre Deutschland erzählt. Regina Schilling vollzieht dabei auch eine Bewegung, auf die man den Titel der Show von Robert Lembke anwenden könnte: Was bin ich?

Sie ist ein Kind unter denen, die «zuhause an den Empfängern» saßen, und die irgendwann lernten, dass die Signale der guten Laune auch geheime Botschaften enthielten. Diese geheimen Botschaften legt Kulenkampffs Schuhe offen: es sind Spuren einer Geschichte, die ihren traumatischen Kern nie verleugnet hat. Man musste nur lernen, genau hinzuhören, genau hinzuschauen. Das sind Lektionen des Kinos, Lektionen, die mit Resnais beginnen, und die nun zu einem großartigen Film über einen Zusammenhang geführt haben, über den Deutschland nie hinweggekommen ist: Papas Fernsehen.

Kulenkampffs Schuhe von Regina Schilling am 8.8.2018 um 22.30 im Ersten