dokumentarfilm

28. Februar 2010

Bettgeflüster Über Wiegenlieder von Johann Feindt und Tamara Trampe

Von Bert Rebhandl

Wiegenlieder

© Zero One Film

 

Eine Frage, die eigentlich eine Zumutung ist: «Können Sie sich an das Lied erinnern, das Ihre Mutter Ihnen zum Schlafengehen gesungen hat?» Die Frage, die Tamara Trampe verschiedenen Menschen stellt, um den Dokumentarfilm Wiegenlieder in Gang zu bringen, gehört auf jeden Fall nicht in den öffentlichen Raum. Sie ist intim, sie führt mitten in die Grundbedingungen von Identität, sie zielt auf eine Erfahrung von Geborgenheit (oder deren Mangel), die ein ganzes Leben prägen kann. «Ich war bei meiner Geburt ja nicht beteiligt, ich bin nur das Produkt», sagt Detlef Jablonski, der anfangs im Park auf einer Bank sitzt und Gitarre spielt, erst allmählich erfahren wir mehr von ihm. Menschen stammen von Menschen ab, aber nicht immer steht Kindheit im Zeichen von Liebe und Geborgenheit.

Tamara Trampe und Johann Feindt untersuchen in Wiegenlieder in einer Collage dieses widersprüchliche Verhältnis des Geworfenseins in die Welt. Sie entwickeln einen losen erzählerischen Faden. Protagonisten wie Detlef Jablonski, der im Gefängnis zur Welt kam, wo seine Mutter einsaß, oder ein junger Mann namens Santos treten in Erscheinung. Der Komponist Helmut Oehring wuchs mit taubstummen Eltern auf, heute erarbeitet er die Aufführung einer großen Tonkomposition. Der tschetschenische Exilpolitiker Apti Bisultanov ist durch traumatische Erfahrungen von seiner «reinen» Kindheit getrennt.

Hier gibt es ein Verbindungsmoment zu dem Film Weiße Raben (2005) von Johann Feindt und Tamara Trampe, in dem es um russische Soldaten geht, die in Tschetschenien in einem verbrecherischen Krieg gekämpft haben und über den ich damals in der FAZ schrieb: «Die Filmemacher haben die Protagonisten durch das ,Komitee der Soldatenmütter Rußlands’ gefunden. Sie haben mit drei, vier jungen Männern engen Kontakt bekommen, und aus diesen Porträts erwächst die Gewalt dieses beinahe kontemplativen Films. Der 24jährige Kiril ist die zentrale Gestalt. Zu Beginn sind es nur seine Briefe, die aus dem Off gelesen werden und einen ersten Eindruck davon geben, was es für einen 18jährigen bedeutet, mit einer Spezialeinheit in den Kaukasus geschickt zu werden. Er gerät in Gefangenschaft, schafft es nach einigen Wochen aber, zu fliehen. In Moskau wird er zum Alkoholiker, schliesslich folgt er am hellichten Tag einem neunjährigen Mädchen in die Wohnung, verschafft sich Zutritt und zwingt das Kind und dessen Zwillingsbruder, sich mit ihm einen Pornofilm anzusehen, während er sich an ihnen vergeht. Alle diese Ereignisse sind kontingent, insofern sie zwar als eine Reaktion auf die Erfahrungen im Krieg erscheinen müssen, aber eben auch eine individuelle Verarbeitung der Ereignisse darstellen. Johann Feindt und Tamara Trampe haben Kiril zum letzten Mal gefilmt, bevor er eine fünfzehnjährige Haftstrafe antreten mußte. Die Großaufnahme dieses nun wieder nüchternen jungen Mannes, der von den Briefen des Beginns durch Ereignisse getrennt ist, die buchstäblich im Dunkeln liegen, der aber noch als der Schreiber derselben erkennbar ist, ist der stärkste Moment.»

Man muss vielleicht Weiße Raben gesehen haben, um mit der besonderen Tonart von Wiegenlieder umgehen zu können, mit dieser dünnhäutigen Form von öffentlicher Exponierung persönlichster Umstände. Es kommt selten vor, dass Filme ganz eigene Bedingungen für sich schaffen. Wiegenlieder ist ein Beispiel dafür – hier existieren Seifenblasen und moderne Musik ganz problemlos nebeneinander, das Wunder der Gebürtigkeit und die Abgründe der Ungeborgenheit erschließen sich in einer kaleidoskopischen Form.

Wiegenlieder läuft in Berlin ab dem 25.02.2010 u.a. im fsk