viennale 2014

5. November 2014

Viennale 2014

Von Nikolaus Perneczky

Teil III

Am inklusorischen Titel gemessen ist das umfangreiche Special zu den Revolutions in 16mm sehr avantgardelastig ausgefallen. In manchen Fällen dürfte das mit widrigen Restaurationsnormen zu tun haben: Von John Cassavetes’ auf 16mm gedrehtem Shadows etwa, den Ko-Kuratorin Katja Wiederspahn gerne als Independent-Beispiel dabei gehabt hätte, seien nur mehr 35mm-Kopien im Umlauf. Agitprop und Drittes Kino kamen nur am Rande vor; Werbe- und Industriefilme gingen ganz leer aus. (Die Abwechslung versprechenden Schwerpunkte zum Amateur- bzw. Sexfilm habe ich beide verpasst.) Revolutions in 16mm nähert sich dem Schmalfilmformat in (wie es im Katalogtext heißt) «zwölf eigenen, vielfach provokanten Kapiteln», wobei Kriterien der Repräsentativität und thematischen Kongruenz in den Hintergrund treten durften. Kein Antikanon ist dabei herausgekommen, sondern eine Reihe von oft (wenn auch nicht stets) bestechenden Filmkonstellationen in genealogischer oder begriffskritischer Absicht.

Ein bisschen ratlos hat mich die eine oder andere Auswahl schon zurücklassen, meist aber auf interessante Weise. Dass Leslie Thorntons Oh China Oh, eine textbasierte Exotismus-Dekonstruktion, die ganz ohne äußerliche Wirklichkeit auskommt, unter dem Label «Radikale Ethnographie» lief, wie übrigens auch Chick Strands Artificial Paradise, eine (nur dem Titel nach kritische) Berauschung an der Oberflächenstofflichkeit mexikanischer Körper und Textilien, hat mir nicht einmal als gezielte Provokation so richtig eingeleuchtet. Schon interessanter die Entscheidung, den kanadischen La lutte (Wrestling) von 1961 an den Anfang dieser alternativen Genealogie zu stellen, einen Film, der (inspiriert von Roland Barthes’ Mythologies) nach der Kontinuität von Ritus und Mythos in der modernen Gesellschaft fragt und Antworten in der Welt des Wrestling findet. Im Graubereich zwischen Wettbewerbssport und darstellender Kunst angesiedelt, ähneln die konventionalisierten moves der Wrestler (aber auch die Reaktionen des Publikums) Ritualhandlungen. Schauringen wird als Spiel kenntlich, das seine eigene Wirklichkeit hervorbringt: Die Schlägereien, die im demographisch erstaunlich durchmischten Publikum ausbrechen, sind durchaus echt. La lutte geht in der ethnographischen Verfremdung des bekannten Gegenstands jedoch nicht auf. Nachdem er seine leitenden Thesen in einem Voice-over losgeworden ist, verlegt sich der Film aufs Beobachten, das in der atmosphärischen Einflusszone des Rings anscheinend nicht anders als teilnehmend zu haben ist. Besonders schön sind die Einblicke, die der Film gewährt in eine Zeit, als Wrestling noch eine Art integratives Volksfest (und nicht lediglich Obsession männlicher Teenager) war – zumindest hält La lutte viele Bilder bereit, die an dieses romantische Wunschdenken appellieren: die selbstgemachten Kostüme, das Strickbesteck im Schoß einer Zuschauerin, die holprige Showmanship der Moderatoren («a fine specimen of manhood»).

Am radikalsten unter den versammelten 16mm-Ethnographen ging Mark LaPores A Depression in the Bay of Bengal vor. Oft unbewegte Bilder von Arbeits- und Alltagsprozessen im Sri Lanka Mitte der 1990er, meist ohne O-Ton und von einer dämmerigen Schläfrigkeit unterspült, die sich zweimal kurz in Aufnahmen von Schlafenden vergegenständlicht, ansonsten aber ungreifbar bleibt. Der Bürgerkrieg ereignet sich in Radioansagen über Bombenattentate der Liberation Tigers: die einzige Instanz gesprochener Sprache in diesem Film überzieht die Bilder mit einer latenten Bedrohung. Schläfrig und gefährlich: Wenn das bis hierher stark nach orientalistischen Klischees klingt, dann nicht ganz zu unrecht. Aber LaPore macht keine Aussagen über Denken und Fühlen der sri-lankischen Bevölkerung, sondern er gebraucht den filmischen Apparat als eine Art Trance-Technologie – wie Jean Rouch vor ihm, aber ohne dessen Beweglichkeit. Die Trance wird hier vielmehr durch einen unverwandten, reglosen Kamerablick induziert, versetzt mit willkürlich platzierten Schwarzblenden, die den für die Bewegungsillusion konstitutiven mechanischen Lidschlag der Kamera verlangsamen, um ihm einen neuen, eigenen Rhythmus aufzuprägen. Die Begegnung mit dem Anderen führt für LaPore stets zurück zum eigenen Bewusstsein; seine Bilder sind unhintergehbar mental images.

Ein anderes der zwölf Kapitel, das im Vergleich zu den radikalen Ethnographien aber nachgerade kanonisch rüberkam, gehörte dem First Person Cinema und Tagebuchfilm. Marie Menkens wunderschönes, über einen Zeitraum von 12 Jahren (1940-1962) entstandenes Notebook stand neben Gunvor Nelson und Dorothy Wileys Collagefilm Schmeerguntz aus der Mitte der 1960er Jahre – über Abfall, Ausscheidung und Misogynie in der amerikanischen Konsumgesellschaft – ein Film, dessen feministisch-verspielte Provo-Gesten, obwohl schlecht gealtert, mir und den übrigen Kinobesuchern großen Spaß gemacht haben. Am schönsten war Margaret Taits A Portrait of Ga, eine Miniatur über ihre Mutter auf den Orkney Islands, wo Tait auch aufgewachsen ist. Ga sagen die Enkel zu Taits Mutter; der Tochter gefällt das kindliche Diminutiv auch aufgrund der strukturellen Analogie zu den einsilbigen Einstellungen, in denen die Annäherung an die Mutter erfolgt. Stark farbige Porträtabdrücke sind das, von einer Farbigkeit, die das Verhältnis von Gestalt und Grund destabilisiert: Ga meint nicht die Mutter allein, sondern die Mutter in der Landschaft, die Mutterlandschaft.

Der englische Titel des 16mm-Programms Strukturalistischer und freier Film gefällt mir besser, weil er die wechselseitige Bezogenheit der beiden Poetiken einfängt, um die es den Filmen dieser Auswahl ging: «Structuralist and unstructured cinema». Larry Gottheims sublimer Fog Line ist eine einzige unbewegte elfminütige Einstellung. Auf weißem Grund zeichnen sich zwei geometrisch exakt gezogene schwarze Linien ab. Später steigt aus dem Weiß, das man inzwischen vielleicht als Nebel erkannt hat, eine vage organische Form auf: ein Baum, wie man noch später versteht, der in irgendeinem, noch nicht so recht einsichtigen räumlichen Verhältnis zu den beiden Geraden vom Anfang steht. Aus der totalen Vernebelung setzt sich langsam und intermittierend ein Tiefenraum zusammen, um kurz darauf, noch bevor man ihn so richtig durchschaut hat, wieder in die weiße Nulldimension zurückzufallen. Wesentlich strenger, im Ergebnis paradoxerweise aber umso lebendiger, verläuft Gary Beydlers Pasadena Freeway Stills. Ein Mann sitzt, uns frontal zugewandt, hinter einer Glasscheibe. Nur sein Oberkörper ist zu sehen, vor neutralem Hintergrund. In der Mitte des Kaders, ungefähr in Bauchhöhe, ist eine rechteckige Schablone an der durchsichtigen Scheibe angebracht. Darauf klebt der Mann Schwarzweißfotografien von einem anonymen Stück Freeway, über die Windschutzscheibe aus einem fahrenden Auto aufgenommen, wie sich allmählich, bei immer weiter beschleunigter Schnittfolge herausstellt. Die Pointe: In dem Maß, in dem die Bilderfolge sich zur kontinuierlichen Bewegung vervollständigt, zerfällt die ausführende Geste des Quasi-Projektionisten (wie er ein Einzelbild nach dem anderen auf die Scheibe klebt) in mechanisches Gestotter.

Eine erste Begegnung mit der US-amerikanischen Filmemacherin Deborah Stratman, die als eine von drei «Positionen des aktuellen, unabhängigen Kinos» (neben Kevin Jerome Everson und Dorit Margreiter) mit zwei neuen und einer älteren Arbeit zu sehen war. Schon etwas müde und suggestibel, war ich in genau der richtigen Geisteshaltung für Stratmans ziemlich tollen Essayfilm O’er the Land. Ausgangspunkt für den insgesamt sehr sprunghaften Film ist die Transzendenzerfahrung eines amerikanischen Piloten, dem im Jahr 1959 ein Notabsprung aus über 14000 Metern gelang, um auf dem Weg hinunter von einem gerade wütenden Gewittersturm erfasst und für 45 Minuten durch die Luft gewirbelt zu werden. Das erste Bild fingiert den Absturzort: auf einer Waldlichtung um einen kleinen Bombenkrater verstreute Flugzeugabsturzprops, aufsteigender Rauch. Wenn Stratman von der Schicksalhaftigkeit des amerikanischen Himmels erzählt, in einer Serie ungleichartiger, ineinander montierter Szenarien (von der apokalyptischen gun range bis zur fröhlichen Vogelgesangswissenschaft), dann ist die Möglichkeit des Crash nie weit entfernt. Ein Flugzeugkatastrophen(essay)film anderer Art ist der zum Dokumentarfilmsegment gehörige Parole de Kamikaze von Sawada Masa. Ein langes, langsames Gespräch mit dem 90-Jährigen Weltkriegsveteranen Hayashi Fujio, dem das Erinnern – an seine Zeit als (anscheinend provisorisch eingesetzter) Leiter einer Kamikaze-Einheit – sichtlich schwer fällt. Was er erzählt, muss dem Gedächtnis gegen innere Widerstände abgerungen werden, und dieser mühsame Vorgang ist das eigentliche Thema dieses ruhig und zurückhaltend inszenierten Films. Immer wieder setzt Hayashis Rede aus, und wir sehen ihm beim manchmal minutenlangen Nachdenken zu. Den totalitären Opferglauben seiner Jugend (Hayashi war gerade Anfang zwanzig, als er sich freiwillig zur Selbstmordstaffel meldete) schildert er dennoch deutlich und einprägsam. Sawadas geduldige Kamera behandelt das Gesicht des alten Mannes nicht als (präsentischen) Index der darin sedimentierten Geschichte, sondern als das (prozessuale) Affektbild einer beeinträchtigen Erinnerungstätigkeit.

Der junge israelische Regisseur Nadav Lapid, dessen Debütfilm Ha-shoter (Policeman) ich sehr gerne mochte, hat seinen sophomore effort ganz ohne sophomore slump absolviert: Haganenet (The Kindergarten Teacher) ist auf den ersten Blick geradliniger als der wandlungsfähige Policeman (auch in seiner sozialen Reichweite scheint er hinter den Vorgänger zurückzufallen), in Wirklichkeit braucht er nur etwas länger, um in Fahrt zu kommen und aus der Fassung zu geraten. An der Hand des Wunderknaben Yoav, dessen intensiver Darsteller Avi Shnaidman zum Zeitpunkt der Dreharbeiten tatsächlich erst fünf Jahre alt war, verschiebt sich der sozialrealistische Grundtonus des Films ins Wunderliche, schwingt sich kleinbürgerlicher Eskapismus auf zur romantischen Utopie. Yoav/Avis Motilität, etwa beim Anziehen eines T-Shirts, zeugt überall noch von kindlicher Unfertigkeit, zugleich ist er der Urheber ganzer Versballaden, die seiner Kindergärtnerin Nira, Amateurdichterin aus Leidenschaft, schlaflose Nächte bereiten. Nira gibt die Gedichte des womöglich genialisch begabten Yoav (sie gehen auf Nadav Lapids eigene Kindergedichte zurück) im Lyrikworkshop als ihre eigenen aus. Bald ist sie von der Idee besessen, nur ja keine von Yoavs Eingebungen zu versäumen. Von hier aus muss die Situation irgendwie eskalieren, das ist rasch klar, aber Lapid nimmt nie den geraden Weg. Weil eine Kindergartenklasse aus lauter Fünfjährigen nicht einmal filmisch zu bändigen ist, laufen die Kleinen immer wieder gegen die Kamera. Lapid hat diese «Anstößigkeit» aber auch auf den Rest der Erzähl- bzw. Objektwelt ausgedehnt. Gleich in der ersten Einstellung, einem over-the-shoulder shot von Niras fernsehendem Ehemann, rammt dieser seinen Ellbogen gegen die Kamera, die den Aufprall als merkliche Erschütterung registriert. In solchen (und ähnlichen) ästhetischen Transfers verwirrt und irritiert uns The Kindergarten Teacher, ohne darüber seine Konzentration zu verlieren. Eigensinnig und einmalig ist das, ein zweiter Film der Lust macht auf den dritten.

Nicht im regulären Spielfilmprogramm, sondern als Teil einer Werkschau zum algerischen Filmemacher Tariq Teguia, habe ich dessen neueste Arbeit gesehen, den hauntologischen Revolutions- und Reisefilm Thwara Zanj (Zanj Revolution). Geopolitisch ambitioniert, erstreckt sich der Film von Thessaloniki und Algier über Beirut und Basra bis nach New York, entlang dreier sich kreuzender Routen: eine junge Exilpalästinenserin auf dem Weg in das Land ihrer (nie gekannten) Herkunft, ein algerischer Journalist, der Recherchen zu einem historischen Sklavenaufstand anstellt, und drei Amerikaner auf der Suche nach Investmentmöglichkeiten im mittleren Osten. Die Amerikaner betreten den Kader (eine irakische Einöde, wo für den Cashflow und zur Hegemoniebildung ein Vergnügungspark entstehen soll) als Schießbudenfiguren aus der antiimperialistischen Mottenkiste, späterhin wird sich der Film aber wesentlich komplexere Bilder und Begriff davon machen, was Amerika (außer einer Weltmacht) noch so sein kann: Jackson Pollock (wobei, hatte da nicht auch der CIA die Finger im Spiel?), The Velvet Underground, Walt Whitman, das Gesicht von Elisabeth Taylor... In ihren Reisebewegungen ziehen die Figuren ein paar Verbindungslinien, aber diese Ansätze zu einem cognitive mapping des Mittelmeerraums (als gemeinsames Element von disparaten politischen Kämpfen) sind von einer großen Melancholie überschattet. Zanj Revolution ist vor dem arabischen Frühling gedreht; sein Flucht- und Kulminationspunkt sind die sozialen Proteste in Griechenland. Der historische Sklavenaufstand, den die Zandsch-Rebellen im 9. Jahrhundert gegen das Kalifat der Abbasiden führten, muss am Ende  in rotgetünchten Aufnahmen von Athener Straßenschlachten aufgehoben und erlöst werden. Im Einzelnen sehr schön, im Ganzen ziemlich überhoben.

Ein Ende mit Ford: Was mir noch einmal nachdrücklich aufgegangen ist bei diesem Wiedersehen, ist die zentrale Bedeutung, die bei Ford den Pferden zukommt. Ob im Monument Valley, in der arabischen Wüste oder auf den grünen Hügeln und am Strand vor dem irischen Dorf Inisfree (The Quiet Man) – überall ist die Existenzweise von Fords grenzgängerischen Protagonisten aufs Innigste mit der ihrer Reittiere verquickt. Ungezählte Pferde haben bei den Dreharbeiten zu seinen Filmen ihr Leben gelassen, im halsbrecherischen Galopp, beim Springen über meterhohe Hindernisse, in unkontrollierten, wilden Stampeden, die nicht gestellt sein können, fliehend, stürzend, mit einander oder mit der Kamera kollidierend: aberhundert Opfertode für das Kino, unter heutigen Drehbedingungen schlicht unvorstellbar – Gewaltakte, deren rohe Wirklichkeit grundlegend ist für ein Kino, das sich unentwegt am Topos einer die Gemeinschaft begründenden Gewalt abarbeitet. Daneben ist viel Zärtlichkeit und vertrauensvolle Intimität mit den Tieren. Um Ford (wie Monika Treut in einer Falter-Befragung zur ÖFM-Retro) aufgrund seines notorischen Pferdemissbrauchs rundheraus abzulehnen, muss man schon selbst Scheuklappen tragen.

Teil II

Julian Radlmaiers zweiter Langspielfilm Ein proletarisches Wintermärchen nimmt einige Fährten aus seinem Vorgänger (der letztes Jahr auf der Viennale gezeigten „suprematistischen Komödie“ Ein Gespenst geht um in Europa) wieder auf, ist aber weit weniger fragmentarisch und skizzenhaft geraten, vielgestaltiger und dennoch runder. Licht, Orte und Ausstattung tragen zum speziellen Modus des Films bei, einem ins Zeichenhafte gewendeten Realismus, der aus Versatzstücken der Gegenwart fiktive Vergangenheiten und mögliche Zukünfte zusammenstückelt. Drei georgische Gelegenheitsarbeiter werden von einer penetranten Subunternehmerin zur Reinigung eines Schlosses irgendwo vor den Toren Berlins motiviert, wo in den kommenden Tagen eine Ausstellungseröffnung stattfinden soll, im Beisein der ausführenden Künstler (ein von Carlos Bustamente angedeuteter Berliner Lokalmatador in Kooperation mit einem aufsteigenden Star nigerianischer Herkunft, wenn ich das richtig erinnere), von Spekulanten, Politikern und anderen Machthabern. Die drei Georgier, zwei junge Männer und eine Frau selben Alters, werden im Schloss abgeliefert und dort sofort von Lars Rudolph schikaniert, der als Hausmeister und Nachwendehals das Lob der Arbeit aus dem Staatssozialismus in den Spätkapitalismus verlängert. Die einzig adäquate Antwort auf diese Zumutung ist Arbeitsverweigerung, passiver Widerstand, Tagträumerei – und als erzählerisches Korrelat eine populäre, zwischen Heiligengeschichte, subversivem Sowjetschwank à la Radio Jerevan und politischer Utopie changierende Fabulierlust, der Ein proletarisches Wintermärchen bei jeder sich bietenden Gelegenheit nachgibt und -geht. Hatte ich schon erwähnt, dass in der Eingangshalle des Schlosses ein schwarzes Loch in der Luft schwebt – einerseits Exponat der in Vorbereitung befindlichen Ausstellung, andererseits abstraktes Bildelement, das einer anderen Ordnung der Dinge angehört als die Erzählwelt. Nicht dass diese in sich kohärent wäre: „Das hat mit unserer Situation doch überhaupt nichts zu tun“, lautet der Refrain, wenn das georgische Lumpenproletariat von einer seiner Gedankenfluchten in die Schlosswirklichkeit zurückkehrt.

Über einen Zeitraum von drei Jahren hat J.P. Sniadecki in chinesischen Zügen gefilmt. The Iron Ministry fügt die dabei entstandenen Aufnahmen so zusammen, dass ein einziger Zug daraus wird – eine einzige Bewegung, die das ganze riesige Land durchläuft. Von den hoffnungslos überfüllten und schlecht ausgestatteten Selbstversorgerabteilen der Bauern und Wanderarbeiter über den auch nicht eben geräumigen, aber immerhin regelmäßig gereinigten Mittelschichtswagon bis zur sterilen Business Class, wie man sie sich in einem Schnellzug der deutschen Bahn vorstellen könnte, erstreckt sich dieses realweltliche Pendant zur dystopischen Eisenbahnfahrt in Bong Joon-hos Snowpiercer. Wie letzterer, obschon mit den ganz anders gearteten Mitteln des Dokumentarfilms, funktioniert The Iron Ministry als allegorische Kompresse eigentlich weltumspannender Verhältnisse – und das obwohl (oder gerade weil) Sniadecki sich fast durchwegs dagegen entscheidet, die draußen verschwommen vorbeiziehende Volksrepublik ins Bild zu holen. Was im heutigen China vor sich geht, erschließt der Film stattdessen aus Beobachtungen und Gesprächen, die er auf seinem langsamen Weg durch die Abteile aufliest: Bauern, womöglich auf dem Weg zum Wochenmarkt, die bei voller Fahrt ihre Waren sortieren und für den Verkauf vorbereiten; Angehörige einer muslimischen Minderheit beim widerwilligen interkulturellen Dialog mit zwei gönnerhaften Han-Chinesen, die (staatsbürgerlich vor der Kamera sich überschlagend) die vorbildliche Minderheitenpolitik der KP rühmen; Studenten, die über den schwierigen Wohnungsmarkt klagen; eine politische Aktivistin im Einzelabteil, die sich auf die indianische Metaphorik des iron horse beruft, um die Folgen zu beschreiben, die der Einzug der Eisenbahn in Nepal hatte. Ein Freund beklagte nach dem Film, dass Sniadeckis Kamera nirgends verweilt; dass seine Aufmerksamkeit unter ständigem Zugzwang zu stehen scheint. Mir kam das auch so vor, aber eben auch als zum ästhetischen Konzept des Films gehörend, der in der noch jungen Tradition des in Harvard ansässigen Sensory Ethnography Lab steht. Sich den Vektoren, Perspektiven, Rhythmen ausliefern, die von der gefilmten Wirklichkeit ausgehen (ich glaube in Harvard sagen sie «situations» dazu); eintauchen, eins werden mit den die Kamera umgebenden/beinhaltenden Assemblagen aus Dingen, Tieren und (oft nachrangig) anderen Menschen – so oder so ähnlich lässt sich die Grundidee dieser neuen Ethnographie angeben. Wobei: Zwischen dem immersiven, überwältigenden GoPro-Kinoauge von Lucien Castaing-Taylor and Véréna Paravels Leviathan und der strukturalistischen Rigorosität von Stephanie Spray und Pacho Velez’ Manakamana – beides mit dem Sensory Ethnography Lab assoziierte Arbeiten – liegen Welten. Sniadeckis bisheriges Schaffen war irgendwo zwischen diesen beiden Polen verortet. The Iron Ministry geht nun aber ein paar entschiedene Schritte auf Leviathan zu (Sniadeckis in Zusammenarbeit mit Libbie Dina Cohn entstandenen People’s Park, der dem Vernehmen nach auch schon in diese Richtung tendiert, habe ich immer noch nicht gesehen). Die ersten Minuten bleibt der Bildkader schwarz, auf der Tonspur ein schwerindustriell-infernalisches Rumoren. Auf das blinde Dröhnen im Ursprung folgt eine veritable Geburtsszene. Zu nah dran an den Dingen, als das man distinkte Gegenstände erkennen könnte, öffnet der Film die Augen (oder ist es der Zug, der da dröhnend zu Bewusstsein kommt?) und wird dann eine Weile damit kämpfen, sich in dieser neuen, abweisenden Welt aus Lärm und Stahl zu orientieren. Auch späterhin kommt Sniadeckis Kamera den Dingen allzu nahe, verliert sie ihren ohnehin angestrengten Halt im euklidischen Raum. Mit dem Voranschreiten in die bessergestellten Zugabteile nimmt die Abständigkeit zur Welt dann immer weiter zu: The Iron Ministry will die (film)körperliche Inschrift sozialer Verhältnisse sein.

12 Dicembre ist ein zentrales Dokument der italienischen Nachkriegsära. Der agitatorische Dokumentarfilm (als Regisseur ist im Programm Giovanni Bonfanti angegeben; Lotta Continua hat produziert) handelt von dem Bombenattentat auf der Piazza Fontana am 12. Dezember 1969, das dem Anarchisten Giuseppe Pinelli angelastet wurde: Startschuss für die anni piombo, die italienischen bleiernen Jahre. Nach Polizeiangaben ist Pinelli drei Tage darauf aus einem Fenster der Polizeistation, wo er verhört wurde, in den Tod gestürzt; Jahre später konnten die Anschuldigungen gegen ihn als gegenstandslos erwiesen werden, der Verdacht fiel auf den faschistischen Ordine Nuovo (bis heute ist das Attentat rechtlich ungeklärt). In panoramatischer Breite schildert 12 Dicembre die politische Gewalt, die im Italien der 60er und 70er Jahre wütete. Die politische Perspektive, die vom direkten Nachspiel des Attentats bis zur Wohnsituation sizilianischer Arbeitsmigranten reicht und versucht, verborgene Kontinuitäten zwischen den verschiedenen Kampfplätzen zu vermitteln, ist die der produzierenden Lotta Continua. Den faschistischen Seilschaften (und ihren ausführenden Organen) geht es ebenso an den Kragen wie der arrivierten italienischen KP, auf die während der Arbeitskämpfe bei Fiat kein Verlass war. 12 Dicembre beschreibt die Zustände in ganz Italien und zieht daraus die Lehre(n) des Operaismus: Autonomie, Selbstorganisation von unten, Klassenkampf, zur Not auch bewaffnet. In seiner Form steht der Film dem (im Umfeld des Operaismus entwickelten) partizipativen Forschungsethos der conricerca nahe, ohne ihm ganz gerecht zu werden. Insofern 12 Dicembre die befragten Arbeiter weniger als Interviewpartner denn als Mitarbeiter an der Wirklichkeitsbeschreibung behandelt, ist er ein authentisch vielstimmiger Film. Den vielen Sprechern übergeordnet aber bleibt stets der übergreifende Bauplan, der ganz zu Beginn als Inhaltsverzeichnis (wie aus einer wissenschaftlichen Publikation) eingeblendet wird. “Nach einer Idee von Pier Paolo Pasolini.”

Ein Film, der einem nicht mehr aus dem Kopf geht: Sorg og glæde (Sorrow and Joy) von Nils Malmros, dem «best-kept secret of Danish cinema» (Olaf Möller im vorletzten Film Comment) und Urheber von «ten or eleven of the most sublime masterpieces of World Cinema» (nochmal Möller, bei der ansteckend enthusiastischen Viennale-Anmoderation). Vor Sorrow and Joy hatte Malmros, dem dieses Jahr in Rotterdam eine Werkschau gewidmet war, autobiografische Filme zu seiner Kindheit, Jugend und Adoleszenz gemacht. Sorrow and Joy erzählt von dem persönlichen Trauma, weshalb seine systematische Selbstforschung über ein gewisses Alter bisher nicht hinaus gekommen war. Im Gespräch mit dem Publikum beschrieb Malmros den intendierten Effekt als «kathartisch»; die organisch (d.h., aus dem Tagesgeschäft des filmemachenden Protagonisten erwachsend) selbstreflexive, zirkulär gebaute Erzählung weckt in Wirklichkeit aber viel verworrenere Gefühle. Um das leere, nicht darstellbare Zentrum jenes Winterabends im Jahr 1984 gebaut, als Malmros’ Frau in einer psychotischen Episode das gemeinsame Baby tötete, nähert sich Sorrow and Joy diesem Unerträglichen in Rückblenden, die vom Kennenlernen bis zur Tat und schließlich darüber hinaus führen: Gefluchtet ist der Film auf Fragen des Weiterlebens und der Möglichkeit von Liebe danach. Brutal unsentimental lässt uns Malmros auf sein Trauma blicken (eine Zuschauerin monierte im Q&A, dass nicht ausreichend geweint würde), im nüchternen Winterlicht und ganz ohne außerdiegetische Musik, zugleich uneitel und fern aller Selbstkasteiung, obwohl der Ich-Erzähler, auf den alle Ereignisse perspektiviert sind (wir sehen nichts, was er nicht auch sieht), mitunter durchaus narzisstisch und selbstinvolviert handelt. Dass er mit der aufreizenden 15-jährigen Hauptdarstellerin seines aktuellen Filmprojekts flirtet, will der Icherzähler sich selbst und uns gegenüber als kreative Notwendigkeit rechtfertigen, aber der Film weiß schon, dass mehr dahinter steckt. Ein bisschen erinnert der Tonfall des Films, für den Entzauberung und emotionale Intensität keine Gegensätze sind, an Karl Ove Knausgårds Min Kamp-Bücher – gut denkbar, dass die früheren Autobiopics von Malmros, von denen ich selbst leider noch keinen gesehen habe, in Serie etwas Ähnliches für das Kino leisten wie Knausgård für den Roman.

Aus den zahlreichen Kurzfilmprogrammen sei – recht launisch, aber irgendwie muss man sich ja behelfen – Johann Lurfs Twelve Tales Told herausgegriffen. Der junge Österreicher hat die animierten Firmenlogos der größten Hollywoodstudios (nebst einiger Subdivisionen wie z.B. Regency Enterprises) im Viertelsekundentakt ineinander montiert, zu einem stotternd überlaufenden Füllhorn kulturindustrieller Bezauberung. Noch auszumachen, obschon in konsequent verstümmelter Form, sind Gleitflugbewegungen, flirrender Feenstaub, Fließen entlang und Eintauchen in quecksilbrig schimmernde Oberflächen. Auch den Soundtrack hat Lurf dem Ausgangsmaterial entnommen und nach dem selben Kalkül wie die Bildspur rearrangiert. In einer Rezension für den Falter nennt Drehli Robnik das anschauliche Ergebnis dieser Rechenoperation „Glitch-Hop“ – und so eingängig-erratisch klingt es auch. Bleibend ist auch der Eindruck, den Antoni Pinents breitwandformatiger Grease-Verschnitt G/R/E/A/S/E in meiner Erinnerung und an meiner Hirnrinde hinterlassen hat. Pinent nennt sein Verfahren eine handgemachte „décollage“ und dessen Wirkung eine «(sub)version» des Orginals; höfliche Namen für diese noisige Materialschlacht, die der tanzenden und singenden Vorlage noch da Reverenz erweist, wo sie den Film förmlich aus dem Malterserkreuzgetriebe herausreißt.

Marie Voignier könnte man in Berlin von ihrem sehr interessanten Film zum Medienrummel um den Fritzl-Prozess her kennen, der 2010 im Rahmen der 6. Berlin Biennale zu sehen war. Für ihren neuen, mittellangen Tourisme international hat sie sich auf eine nordkoreanische Reisetour begeben. Nur solche Orte und Situationen kommen darin vor, die das Regime uns sehen lassen will (unter anderem: eine Vorzeigefabrik, deren Personal mit strahlenden Blaumännern und 20er-Jahre-Arbeitermützen angetan ist, viel schlimme Malerei und mehr Ehrendenkmäler als auf eine Kuhhaut gehen). Wie schon in Hearing the Shape of a Drum (wie der Fritzl-Film hieß) erweist sich Voignier einmal mehr als Virtuosin der Bild-Ton-Schere: Sie hat den bei der Reise entstandenen Aufnahmen den Ton entzogen – und dann nur Atmo und Geräusche nachsynchronisiert. Stimmen sind (außer als Gemurmel großer Menschenmengen) also keine zu hören, stattdessen sehen wir den Reiseleiterinnen (sie alle sind Frauen) beim folgenlosen Bewegen ihrer Münder und beim begleitenden Gestikulieren zu. Eine Szene ungefähr zur Halbzeit enthüllt die Inspiration für diese Form der Nachbearbeitung: Voignier besucht ein Tonstudio, in dem ein aktueller nordkoreanischer Spielfilm nachvertont wird. Kinofilme werden dort fast ausschließlich im 16mm-Format und ohne Originalton gedreht. Alles, was man hört, ist nachträglich hinzugefügt, weshalb der Ton vor allem aus einem besteht: Stimmen. Voignier invertiert also gewissermaßen diese Produktionslogik. Informationen über das Gesehene und Gesagte vermittelt Tourisme international in leise ironisierenden Zwischentiteln, aus denen man etwa erfährt, dass die Reiseleiter inhaltlichen Kontroversen mit den ausländischen Besuchern ausweichen, indem sie unermüdlich die (unkontroversen) Größen- und Gewichtsangaben der aufgesuchten Monumente rezitieren. Tourisme international verfährt nicht aufdeckerisch oder investigativ, sondern über ein geschicktes détournement der offiziellen Selbstbilder. Nicht «nie Gesehenes», sondern Unerhörtes.

Teil I

Über dem Eingang zum schwarz in schwarz ausgekleideten Saal des österreichischen Filmmuseums prangt ein Schriftzug: «Das unsichtbare Kino III». Der Name bezieht sich auf das gleichlautende Manifest des ÖFM-Mitbegründers Peter Kubelka; die römische Drei verweist darauf, dass es sich um den mittlerweile dritten Versuch handelt, Kubelkas gestrenges Raumkonzept zu verwirklichen, wonach das Kinodispositiv sich selbst und seine Verbindung zur Außenwelt so weit wie möglich zum Verschwinden bringen möge. Dazu gibt es nun, in der auf der anderen Seite der Kärntnerstraße (nur drei Gehminuten entfernt) gelegenen Spielstätte des Filmarchiv Austria, einen direkten Gegenentwurf. Das «sichtbare Kino», wie Geschäftsführer Ernst Kieninger den großen Saal des zum «Kinokulturhaus» umgebauten Metro-Kinos bei sich nennt, macht beides, die Projektortechnik wie den Kinosaal, durch eine Glasscheibe einsehbar (zumindest der Möglichkeit nach: noch spannt sich darüber ein dezenter Vorhang).

Soll man oder soll man nicht berichten von den Misstönen, welche die Eröffnung der diesjährigen Viennale begleitet haben? Vielleicht, ohne die niedrigsten der geäußerten Invektiven zu wiederholen, in der Form eines reader’s digest: Wie jedes Jahr um dieselbe Zeit feuert Festivaldirektor Hans Hurch polemische Breitseiten, um die mediale Aufmerksamkeit auf sich und sein Festival zu lenken. Diese Saison, zwei Jahre vor Ablauf seines Vertrags, hat sich der Tonfall jedoch merklich verschärft. Zwei Jeremiaden sind in knapper Folge erschienen: eine «Wutrede» in der Wiener Stadtzeitung Falter und ein Gastkommentar in der Zeitschrift profil als Replik auf einen Artikel von profil-Kulturchef Stefan Grissemann, der in kritischer Absicht Geschäftsstruktur und -gebaren des Filmarchivs sowie dessen Verflechtungen mit der Viennale durchleuchtet hatte. Die Filmkritiker der beiden Medien bezichtigt Hurch, «Sklavenseelen» geworden zu sein, die im Interesse des Filmmuseums agierten; dessen Leitung unterstellt er, sich vom ausgebauten Filmarchiv-Standort, der einen zweiten Saal und mehrere Stockwerke für Büros und Ausstellungsflächen umfasst, bedroht zu fühlen. Völlig grundlos, wie Hurch, der neben seiner Funktion als Viennale-Direktor auch einen Posten im Präsidium des Filmarchivs bekleidet, mit Unschuldsmiene betont. Rein kinoarchitektonisch kann man ihm da nur recht geben: Ans unsichtbare reicht das sichtbare Kino, das (weil unzureichend gegen den ebenfalls neu eröffneten Barbetrieb abgedichtet) auch ein hörbares ist, leider nicht heran.  

Aber reden wir über die Filme, zum Beispiel über Céline Sciammas Bande des filles, der in Cannes viele Fürsprecher gefunden hatte. Unmittelbar erschließt sich das vorwiegend positive Presseecho von damals nicht: Die erste Stunde des Sozialdramas aus den Pariser Banlieues verläuft strikt nach Drehbuch. In prägnanten Vignetten erschließt der Film das Leben und den Lebensraum (die Vororte Bagnolet und Bobigny) des schwarzen Teenagers Marieme, die sich aus Frustration über ihren stetig schrumpfenden Möglichkeitshorizont einer Mädchengang anschließt – so didaktisch jedenfalls schildert es der Film. Es folgen erste kleine Raubhändel an hilflosen Schulkollegen, Diebstahl und handgreifliche Auseinandersetzungen mit einer rivalisierenden Gang, die Sciamma – angestrengt zeitgemäß – in grobgepixelten Handykamerabildern verdoppelt. Bande des filles urteilt nicht, ist um Ausgleich bemüht; die Überschreitungen der Mädchen gegen das Gesetz oder die zivilen Gepflogenheiten sind immer schon aus dem sozialen Kontext heraus determiniert und also lückenlos lesbar: als Druckventil, Fluchtversuch, Widerstandsgeste. Nicht selten streift Sciamma an die Klischees des zeitgenössischen sozialen Realismus. Kann man an der obligaten, hundertmal gesehenen Tanzszene (hier: in einem extraterritorialen Hotelzimmer zu Rihannas «Diamonds») wirklich noch irgendetwas zeigen, sich gar «für einen Augenblick» vom Diktat der Erzählung bzw. der Erzählwelt freitanzen? Dass Sciamma um Probleme dieser Art weiß, deutet sich schon früh in vereinzelten Momenten an, die der ansonsten wirksamen Unmittelbarkeitsästhetik zuwiderlaufen: abgezirkelte Kamera-Figuren-Choreographien, Schlenker in Richtung Unschärfe und Abstraktion. Später kommt noch ein dramaturgischer Spezialeffekt dazu: Zweimal wähnt man sich am Ende von Mariemes Geschichte angelangt, entlassen in ein ostentativ offenes Ende, zweimal geht der Film trotzdem weiter, nimmt seine Protagonistin noch einmal Anlauf, um – wieder und wieder – hinzufallen. Diese prinzipielle Unabgeschlossenheit von Mariemes Existenzkampf, die etwas anderes als Offenheit ist, wird in der Schlusseinstellung von Bande des filles für die Ewigkeit eingekapselt: Ein Vorwärtstravelling drängt das weinende Mädchen aus dem Bild und rastet auf einem unscharfen Banlieue-Panorama ein. Anstelle der Credits aber tritt doch noch einmal Marieme ins Bild, gestochen scharf und selbstbestimmt. Soviel hat man bis hierher indes gelernt: Länger als nur einen Augenblick wird sie sich auch diesmal nicht halten können.

Jayueui onduk (Hill of Freedom), der neue Film des nach wie vor überaus produktiven Hong Sang-soo, ist mit 66 Minuten auch sein kürzester. Man wünscht sich, die Spielfilmnorm würde öfter auf diese Weise unterboten: Hill of Freedom ist trotz verwirrter und elliptischer Chronologie glasklar und geradlinig, ganz wie das leicht gebrochene Englisch, auf das der japanische Protagonist Mori zurückgreifen muss, um sich mit seinen koreanischen Mitspielern zu verständigen. Oft reicht diese reduzierte Sprache nicht hin, das eigentlich Gemeinte zum Ausdruck zu bringen, klar. Noch öfter aber entstehen Sätze von großer Schönheit und entwaffnendem Witz, tröstet das Wesentliche über den Verlust des Eigentlichen hinweg. Oder wie sonst soll man die seltsame Rührung beschreiben, die einen überkommt, wenn Mori erklärt, dass «Blumen» ihm „die Angst“ nähmen? Durcheinander gerät die Geschichte, weil der Brief, in dem Mori seiner koreanischen Geliebten von der vergeblichen Suche nach ihr berichtet, dieser aus den Händen fällt. Die aufgeklaubten Briefseiten liest sie in der falschen Reihenfolge; eine hat sie ganz übersehen, weshalb manches verbindende Teilstück der Erzählung bis zuletzt fehlt.

Zu Jordi Moratós Sobre la marxa musste ich mich von einem Bekannten überreden lassen. Die Aussicht auf einen (so stellte ich mir vor) außenseiterromantisch gestimmten Dokumentarfilm über einen verschrobenen Vertreter der Art brut, der in den Wäldern Kataloniens Baumhäuser und andere Skulpturen errichtet, war wenig verlockend. Tatsächlich führt Regisseur Morató seinen Helden Josep Pujiula, genannt «El Garrell», über ein mythologisierendes Gleichnis mit eso-kitschigen Abgleitflächen ein: Feuer und Wasser, klärt uns ein auktoriales Voice-over auf während die Kamera über sattgrüne Baumwipfel streift, seien die beiden entgegengesetzten, zugleich aber einander bedingenden Naturkräfte, aus denen alles Sein entsteht und vergeht. Zum Glück sind damit ganz handfeste Realitäten angesprochen: Garrell, ein gedrungener Mann um die fünfzig (zu Beginn des Films), sieht sich wiederholt genötigt, seine immer komplexer geratenden Holzkonstruktionen zu vernichten, zu welchem Zweck er sie – offenbar frei von Reue – ein ums andere Mal in Brand steckt. Auch wenn mit dem Regisseur bisweilen der feierliche Ernst durchgeht, bietet Garrell beständigen Widerstand gegen solche Vereinnahmung. Sein eigenes Projektionsvermögen ist ohnehin interessanter als das des Filmemachers. Morató tut gut daran, Garrells eigene Videoaufnahmen (an der Kamera: sein Neffe) ausführlich zu würdigen, die nicht in dokumentarischer Absicht entstanden, sondern eine Art Outsider-Genrekino darstellen: Inmitten seiner Bauten und in den umliegenden Wäldern, die – schöne Brechung – direkt an eine Landstraße grenzen, drehen die beiden eine ganze Serie von Low-fi-Variationen auf den Tarzan-Mythos. Wie Garrell, auf schlierigen Videobildern und nur mit Lendenschurz angetan, durchs Gehölz wieselt, ins Wasser springt und später, in «Son of Tarzan», den (von einem anderen Neffen gespielten) Nachwuchs instruiert, ist in seiner produktionsästhetisch durchkreuzten Naturromantik absolut unwiderstehlich und Grund genug, sich auf Sobre la marxa einzulassen.

Der wiederkehrende Viennale-Gast Pierre Léon ist diesmal mit einem «Zwischenfilm» vertreten: mit sehr bescheidenen Mitteln gedreht bzw. montiert (die Arbeit besteht zu großen Teilen aus vorgefundenem oder zu einem früheren Zeitpunkt gefilmten Material), im schöpferischen Intervall vor der Verwirklichung des nächsten geplanten Filmprojekts, das allerdings nie zustande kam. Ausgehend von einem Apollinaire-Gedicht, dass Léon (wahrscheinlich bei sich daheim) aufsagt, um sich im nächsten Moment seiner Kleidung zu entledigen, entwickelt sich Phantom Power in alle erdenklichen Richtungen, ohne dass die dabei leitenden Prinzipien je auch nur annähernd transparent würden: eine persönliche und esoterische Materialsammlung zwischen Tagebuch, Gedichtform und freier Fabulation, zugleich kitschig und spröde (wenn es das gibt). Es ist nicht einfach, diesen Film, der macht was er will, durchwegs auszuhalten oder gar zu lieben. Nicht viele Zuschauer sind bis zum Schluss geblieben. Der war dafür umso fulminanter: Eine nicht enden wollende Folge von Händen aus den Filmen Fritz Langs, nach Gebrauchsweisen, Objekttypen und  Einstellungsarten sortiert und dann neu konstelliert, zu einem Bilderstrom von gespenstischer Sogwirkung, als wären Christoph Girardet und Matthias Müller unter die Geisterbeschwörer gegangen.

Im Österreichischen Filmmuseum ist derweil John Ford (wie immer von außerordentlichen Filmkopien) zu sehen. Neben unzähligen gestandenen Meisterwerken laufen etliche Raritäten. Besonders angetan haben es mir bis jetzt das stumme Westernepos 3 Bad Men (1926) und der imperiale Wüstenwestern The Lost Patrol (1934). Im ersteren schlägt sich die historische Nähe zum wilden Westen in einer dreckigen, noch nicht klassisch verfestigten Western-Ikonologie nieder, die mich ständig an David Milchs HBO-Serie Deadwood hat denken lassen. Die vielbesungene Land-rush-Sequenz, in der hunderte Statisten wie vom Teufel geritten über die Prärie jagen, ist eine ganze Western-Mythologie für sich und schlägt den Bogen zum Bibelepos: Ein auf halber Strecke liegen gelassenes und von einem Cowboy im vollen Ritt aufgelesenes Findelkind wird im Zwischentitel als Moses angesprochen. The Lost Patrol überträgt das Wagenburgszenario in eine Wüstenoase, wo britische Truppen sich gegen «dirty arabs» zur Wehr setzen. So düster und bar aller Süßigkeit hat man Ford selten erlebt. Bis zum Showdown, der nach ein paar Sekunden auch schon wieder vorbei ist, bleibt die Bedrohung konsequent im Off. Aus welcher Richtung die Kugeln kommen, die einen nach dem anderen der verlorenen Patrouille aus dem Wüstensand pflücken, ist maximal unklar, das historische Setting ein kaum verhohlener Vorwand für proto-existenzialistische Seelenforschung in der (gefühlt unaufhörlichen) amerikanischen Nacht.