tiff 2018

8. Oktober 2018

TIFF 2018 Toronto International Film Festival: 26 Filme

Von Bert Rebhandl

The Wild Pear Tree (Ahlat Agaci)  (Nuri Bilge Ceylan)

Sinan hat gerade die Schule abgeschlossen und bereitet sich auf die Prüfung vor, die ihn zum Lehrer machen soll. Das würde wohl auch bedeuten: Verschickung in den Osten. Aus der westlichen Küstenstadt Canakkale kehrt er in die Heimatstadt Can zurück. Sinan hat ein Buch geschrieben, nun sucht er Geld, um es drucken lassen zu können. Von seinem Vater, der sich mit Pferdewetten ruiniert, kann er nichts erwarten. Der (angehende) Grundschullehrer (und naive Intellektuelle) Sinan wird für Ceylan zu einer Sondenfigur in einer Türkei, die sich unübersehbar islamisiert. Höhepunkte sind zwei Gespräche: einmal trifft Sinan auf die schöne Hatice, kurz bevor sie von ihren Eltern in eine Ehe mit einem älteren Juwelier weggesperrt wird, einmal trifft Sinan auf den lokalen Imam (der hat noch einen Kollegen dabei), zu dritt und zu Fuß gehen sie vom Stadtrand in das Cafe, das Gespräch ist zugleich religionsphilosophierend und charakterkomisch. Meisterwerk.

Long Day’s Journey Into Night (Di qiu zui hou de ye wan) (Bi Gan)

Ein Neo-Noir, bei dem ich von Anfang an den Überblick verloren habe. Das berühmte Ondit über The Big Sleep, dass am Ende nicht einmal mehr die Filmemacher wussten, was genau Sache war, nahm ich hier einfach einmal als Lizenz zu einer freischwebenden Aufmerksamkeit, die mit starken atmosphärischen Szenen aus einem typisch postschwerindustriellen, apokalyptischen China belohnt wurde: die letzte Stunde ist in 3D und eine durchgehend POV-Sequenz. Möglicherweise kam das Kino der Form eines Traums nie näher als in dieser faszinierenden Bewegung.

Core of the World (Serdtse mira) (Natalya Meshchaninova)

Egor, ein junger Mann, «verloren und verwirrt», ist als Hilfskraft auf einem abgelegenen Hof in einem der westlichsten Winkel Russlands (nahe der Grenze zu Lettland und Weißrussland) untergekommen. Sein Chef ist Nikolai, dessen alleinerziehende Tochter Dasha entwickelt (vielleicht auch aus Mangel an Alternativen) allmählich Gefühle für Egor. Eine Gruppe von «Grünen» taucht auf, sie wollen die Füchse sehen, die hier für Schaukämpfe gezüchtet werden. Die dramatischen Zuspitzungen sind nicht die stärksten Momente des Films, eher schon überzeugt die Schilderung des Alltags: Menschen, die vom Leben nicht viel erwarten, suchen irgendwie nach einem Halt, bleiben aber misstrauisch, vor allem gegen sich selbst. Am Ende geht Egor buchstäblich (nicht notwendigerweise auch im übertragenen Sinn) vor die Hunde.

Borders (Gräns) (Ali Abbasi)

Tina, eine schwedische Zollbeamtin, hat einen besonderen (Geruchs-)Sinn für illegale Angelegenheiten. Sie riecht sogar Kinderpornographie auf einer Speicherkarte. Zuerst nimmt man sie nur für eine besondere Frau, hässlich und eben ein bisschen animalisch, was die Kamera auch betont, wenn sie die Lippen hochzieht, die Zähne zeigt und zu schnüffeln beginnt. Dann trifft sie eines Tages auf einen, durch den sie sich als eine besondere Kreatur begreifen lernt: Vore ist ein Troll, ein Transgenderwesen, auf den Tina mit einer Art Erektion reagiert. Die beiden Hauptdarsteller tragen den Film, der auf eine nicht unriskante Weise sexuelle Differenzen mit der Menschtiergrenze (und den Übergriffen auf kindliche «Unschuld») durcheinanderbringt. Als skandinavischer Nachtmar aber schon sehr einprägsam.

Sunset (Napszállta) (László Nemes)

Mit derselben, problematisch-virtuosen Hinterherundmittendrin-Methode wie in seinem Todeslager-Film Saul Fia folgt Nemes hier einer jungen Frau durch Budapest in der Goldenen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg: Irisz Leiter wird pointiert eingeführt, sie kommt aus Triest und sucht Arbeit in einem noblen Hutmachergeschäft, einem Traditionsladen, an dem ein paar Geschichten hängen, unter anderem auch die von Irisz selbst, und dazu ein eigenartiger Schauderplot, eine Art KuK-Feuillade ohne Fantomas. Ich saß in der dritten Reihe und sah alles in Steilansicht, muss da also noch einmal auf Augenhöhe ran, aber auch schon so gab dieser prächtige Film eine Menge aufzulösen.

Fahrenheit 11/9 (Michael Moore)

Eine gute halbe Stunde geht Moore frontal auf Trump los (mit ein paar suggestiven Andeutungen über dessen inzestuöses Verhältnis zu Tochter Ivanka), dann kommt er aber auf den Punkt, der ihm eigentlich wichtig ist: Trump ist gar kein isoliertes Phänomen, sondern folgerichtig nach dem Opportunisten Obama, der es verabsäumt hat, den Gouverneur Rick Snyder so richtig zur Verantwortung zu ziehen. Snyder war für die «Wasserkrise von Flint» in Moores Heimat- und Weltnabelstadt Flint verantwortlich, blieb aber ungeschoren. Im Grunde ist der wie immer rasant geschnittene und mit einer aggressiven Tonspur versehene neue Film von Moore ein Revolutionsaufruf, bei dem immerhin offen bleibt, ob die versuchte Neuausrichtung der Demokratischen Partei (durch Justice Democrats und andere Linke) schon revolutionär genug ist.

The Factory (Zavod) (Yuriy Bykov)

Den Regisseur verfolge ich seit dem spannenden Durak (Der Narr), einer großen Parabel auf das in Mark und Bein korrupte Russland (der Narr merkt, dass ein Wohnhaus im Begriff ist, einzustürzen, und trifft auf Verantwortliche ohne Verantwortungsgefühl). Nun nimmt Bykow vergleichbare Verhältnisse mit einem harten Geiselnahmethriller ins Visier: in einer sowieso schon desolaten Fabrik soll endgültig der Betrieb eingestellt werden. Ein paar Männer, angeführt von einem kampferprobten Einzelgänger (Erfahrungen in Tschetschenien?), entführen den Besitzer. Ein Nervenkrieg beginnt. Mit viel Industrialgetöse erzählt Bykov von einer düsteren Welt, in der die duldsamen russischen Arbeiter immer die Rostkarte ziehen.

Putin’s Witnesses (Svideteli Putina) Vitaly Mansky)

Der große russische Dokumentarist Vitaly Mansky (Rodnye, 2016) hat vor fast zwanzig Jahren rund um die erste Amtsübernahme von Vladimir Putin ein Porträt gedreht, das er nun noch einmal aufgreift. Das Material von damals ist durchaus ambivalent, denn der junge Präsident tritt dort als Retter der Nation auf, als nachdenklicher Patriot, sehr reflektiert, was sein Erbe anlangt. Mansky rahmt dieses Material nun mit privaten Bildern aus dem Familienkreis, wo Putins Machtübernahme schon 1999/2000 als katastrophal empfunden wurde. Dazu kommen sehr interessante Aufnahmen aus den Familien Jelzin und Gorbatschow. Mansky arbeitet mit diesem Film seine «embeddedness» auf, bleibt dabei durchaus anfechtbar, hat aber einfach überragendes Material vorzuweisen.

EXT. Night (Ahmad Abdalla)

Ein junger Filmemacher namens Moe fährt mit dem Chauffeur Mostafa quer durch Kairo, um zu einem Schneideraum zu gelangen. Auf einem kleinen Umweg kommen sie in Mostafas Gegend, dort nehmen sie Toutou mit, die als Prostituierte arbeitet. Zu dritt geraten sie auf eine Odyssee durch die Stadt, die auf einer Polizeistation endet. Man lernt viel über die sozialen Umstände im heutigen Ägypten: auf Toutou beziehen sich alle irgendwie, zwischendurch steht sogar einmal eine Heirat mit Mostafa im Raum, der auf eine weinerliche Weise eine religiöse Männlichkeit vertritt. Moe steht für die liberale Intelligenz und die Freiheit der Kunst, ist aber auch an Konventionen gebunden. Spannend und aufschlussreich.

Le livre d'Image (Jean-Luc Godard)

Das «Buch des Bildes» sieht zuerst einmal einfach aus wie eine weitere Entfaltung der Themen und Methoden von Histoire(s) du Cinéma oder Film Socialisme. Die Collage ist also auch viel zu dicht, um ihr nach einem Sehen auch nur in Ansätzen gerecht werden zu können, andererseits begreift man, dass das nicht wirklich für eine philologische Lektüre gedacht ist (das Bild mit den Angaben am Schluss – eine Unmenge von Texten, Bildern, Tönen, Musiken – steht gerade einmal für zwei Sekunden). Erkennbar ist eine Weltgeist-Perspektive auf das 20. und 21. Jahrhundert, auf die Lebenszeit Godards und die Zeit des Kinos: seine (und unsere) großen Themen, das Kino und die Gewalt (der Vergesellschaftung), mit einem aus früheren Werken vorbereiteten Spezialinteresse für den arabischen Raum, mit einer langen (dann wohl doch philologisch zu rekonstruierenden) Sequenz über (das Emirat?) Dofa (Qatar?). Dem Schriftsteller Albert Cossery muss ich mich zuwenden. Das „Bilderbuch“ endet endlos, mit einem unverhohlenen Revolutionsappell – aber Revolution zu was? Spontaner Eindruck: Jahrhundertwerk.

Belmonte (Federico Veiroj)

Der Film El apóstata von Federico Veiroj aus Uruguay war 2015 einer meiner TIFF-Favoriten. Mit der Geschichte des Malers Belmonte bleibt Veiroj bei seinem seltsamen Humor und vor allem bei seinen Antihelden. Belmonte ist als Vater, als Sohn, als Liebhaber, als Künstler nirgends so richtig dabei, man kann seine Distanziertheit aber auch verstehen, denn er lebt in der seltsamen Welt der Bildkompositionen seines Regisseurs (in einer besonders denkwürdigen Szene trifft Belmonte seinen Bruder in einem Pelzdepot). Die Tochter Celeste wäre ein Anker im richtigen Leben, aber davon kriegt Belmonte nur das mit, was sich in seine Uneigentlichkeit übersetzt. Lakonisch, letztendlich auch ein bisschen unbehaglich bei aller Komik.

Se rokh (3 Faces) (Jafar Panahi)

Der Anfang ist ein bisschen merkwürdig, mit einem Handyvideo von einem Mädchen, das seinen Selbstmord filmt. Das Motiv: sie wäre gern Schauspielerin geworden, steckt aber in einem abgelegenen Bergdorf. Das Video kommt via Telegram-App zu einer bekannten Schauspielerin in Teheran, die sich mit Panahi auf den Weg in das Dorf macht, um herauszufinden, ob das Mädchen ihnen nur einen Streich gespielt hat. Diese typische Geschichte für die Verhältnisse des neueren iranischen Kinos (man denke an Kiarostamis Und das Leben geht weiter, aber auch an Close-up) wird zu einer hoch komplexen Sozialstudio, in der man auch viel (allerdings sehr verschlüsselt) über den Stellenwert von Kino und Fernsehen vor und nach der Revolution erfährt. Meisterwerk.

Widows (Steve McQueen)

Am Anfang gibt es einen Coup von vier Männern, der spektakulär scheitert. Zurück bleiben vier Verbrecherwitwen, von denen eine sich mit Schulden bei einem schwarzen Politiker in New York konfrontiert sieht: Veronica (Viola Davis) ist die zentrale Figur, sie rekrutiert eine Gruppe, um das letzte, nicht mehr realisierte «Projekt» ihres Mannes noch durchzuziehen, einen Heist bei einem anderen, weißen Politiker. McQueen beginnt mit einem Bild von zwei Menschen (sie schwarz, er weiß) vor weißer Bettwäsche. Danach ist alles von Rasse-Ambivalenzen durchzogen, vor allem die politische Intrige ist spannend und gegen die politisch-korrekten Klischees erzählt, insgesamt aber klebt dem Film der überall erkennbare Revisionismus (McQueen sucht geradezu nach Konventionen, die er brechen kann) doch überdeutlich dran.

Mafak (Screwdriver) (Bassam Jarbawi)

Nach vielen Jahren in einem israelischen Gefängnis kommt ein junger Mann namens Ziad in seine palästinensische Gemeinde zurück. Er hat große Schwierigkeiten, sich wieder zurecht zu finden, der «Schraubenzieher», von dem dem Filmtitel spricht, sind seine Kopfschmerzen. Eine junge Dokumentarfilmerin, die aus den USA (zurück)gekommen ist, versucht an Ziad heranzukommen, er zieht sich aber immer wieder zurück. Bassam Jarbawi individualisiert die Beziehungen zwischen Israel und den besetzten Gebieten in einer Figur, die de facto stellvertretend für eine kollektive posttraumatische Belastungsstörung steht, die das palästinensische Verhältnis zu Israel prägt.

Summer Survivors (Marija Kavtararadze)

In diesen litauischen Film bin ich nur hineingegangen, weil ich einen anderen, geplanten knapp versäumt habe. War dann aber sehr okay. Eine junge Frau fährt mit zwei Psychiatriepatienten von einer Anstalt in eine andere, wobei vor allem der extrovertierte Paulius die Grenzen zwischen psychologischer Gesundheit und Krankheit immer wieder unklar werden lässt. Tolle Landschaft.

Hotel Mumbai (Anthony Maras)

Am 26. November 2008 wurde Mumbai von einer Gruppe von Dschihadisten angegriffen, die eine Reihe von Anschlagszielen in der Stadt hatten. Der australische Thriller beschäftigt sich in erster Linie mit dem Geschehen in dem Luxushotel Taj Mahal Palace, in dem zahlreiche Gäste über viele Stunden auf Hilfe warten mussten. Dev Patel (Slumdog Millionaire) spielt einen Sikh, Armie Hammer einen reichen Engländer, in einem Club im labyrinthischen Inneren des Gebäudes findet eine Zufallsgruppe vorübergehend Zuflucht. Beste Figur ist Jason Isaacs in der Rolle eines schäbigen Russen. Interessant ist der durch und durch konventionelle Film in erster Linie, weil er eine südliche Perspektive auf den islamistischen Terrorismus eröffnet.

The Wind (Emma Tammi)

Zwei Paare und ein sinistrer Reverend in der amerikanischen Einschicht um 1800. Wenn es Präriegeister gibt, dann sind sie in diesem spröden Versuch eines Spukwesterns gut versteckt, vor allem zwischen Buchdeckeln, denn im Grunde geht die ganze Gefahr von ein paar archaischen Versen aus. Ich ging mit einigen Hoffnungen in diesen Genremix, war dann aber nicht überzeugt: vor allem die Ausstattung machte mir zu schaffen, irgendwie versuchte ich mir schließlich vor allem vorzustellen, wie die Welt in dieser Gegend vor zweihundert Jahren «wirklich» gewesen sein mochte, während in The Wind die Pfannen an der Holzwand einfach schon zu nahe an Martha Stewart sind.

Her Smell (Alex Ross Perry)

Einer der Höhepunkte des Festivals: Elizabeth Moss in einer Tour de Force durch drei Backstage-Szenen, dreimal vor einem Konzert mit einer Girlband, bei der sie die Frontfrau spielt. Becky Something, eine selbstzerstörerische Frau, die ihr ganzes Feld (Ex-Boyfriend, gemeinsames Kind, Manager, Angehörige und Bandmitglieder) in einen wilden Wirbel reißt, den Ross Perry mit einer eigentümlichen mentalen Tonspur noch verstärkt und zugleich auch sediert. Großartige Energie, dann wieder bukolische Melancholie. Auflösungserscheinungen und Sammlung. Rrrriot Cinema geht in Therapie.

Fausto (Andrea Bussman)

Bei diesem mysteriösen Essayfilm über einen Küstenabschnitt im mexikanischen Oaxaca musste ich – so geht es einem auf Filmfestivals mit der Konzentration – die ganze Zeit daran denken, dass ich gerne Patricio Guzmans El botón de nacar (2015) wiedersehen würde. Wenn ich ehrlich bin, könnte ich von Fausto nichts mehr aufschreiben, ohne ein wenig nachzulesen.

Shoplifters (Manbiki kazoku) (Hirokazu Kore-eda)

Eine Außenseiterbande. Im Zentrum steht eine alte Frau, die nicht allein sterben will. Ihr Haus ist fast versteckt, zwischen den institutionellen und sozialen Bezügen. Allmählich werde Zusammenhänge klar: die drei Generationen, die da täglich beim gemeinsamen Essen und auch sonst auf Familie machen, haben biologisch nichts miteinander zu tun, über die natürlich grundlegende Tatsache hinaus, dass sie zur Menschenfamilie gehören. Ein zugelaufenes kleines Mädchen bringt die Krise: ist das Refugium in Wahrheit eine Geiselnahme? Kore-eda mit einem Film, der dem Gleichmaß seiner großen Karriere eine thematische Zusammenfassung hinzufügt. Familie ist immer Gesellschaft.

Our Time (Nuestro tiempo) (Carlos Reygadas)

Größer als das Leben kann nur das Leben sein: Juan, ein Dichter, lebt auf einer Rinderfarm unter einem sehr großen Himmel mit seiner attraktiven Frau Ester und den Kindern. Juan ist ein Weltstar der Literatur, aber auch ein Cowboy. Ester beginnt eine Geschichte, ausgerechnet mit einem amerikanischen «horse breaker». Juan versucht, diese Geschichte irgendwie in sein Konzept einer offenen Beziehung zu integrieren. Reygadas spielt selbst die Hauptrolle eines Mannes am Rande der Lächerlichkeit, der wuchtig und mit großartigen erzählerischen Idiosynkrasien von dem Versuch erzählt, alles zu haben und zu leben, und zwar innerhalb (groß)bürgerlicher Formen von Besitz und Beziehung.

If Beale Street Could Talk (Barry Jenkins)

Jenkins verfilmt den Roman Beale Street Blues von James Baldwin, in einem eigentümlichen hohen Ton (durchsetzt von Jive), und mit einer musikalischen Begleitung, die mich an den amerikanischen Transzendentalismus denken ließ: Tish und Fonny sind ein Paar, sie ist schwanger, er ist im Gefängnis. Man hat ihn einer Vergewaltigung beschuldigt. Die Versuche, ihn zu entlasten, führen bis nach Puerto Rico. In erster Linie aber ist das ein Film über Stimmen und Sprache, über afroamerikanische Idiome, über eine Zärtlichkeit, die beinahe etwas Metaphysisches hat. Meisterwerk.

Meeting Gorbachev (Werner Herzog)

Selbst in einer im Grunde sehr konventionelle History-Doku kann sich Werner Herzog nur als Enthusiast zeigen: Von dem sichtlich schon altersschwachen Gorbi ist er restlos begeistert, die Fragen sind eher Suggestionen von Größe, als dass er etwas wissen will. Den Rest haben vermutlich die Rechercheure erledigt: natürlich ist das Material aus den Archiven spannend, gern hätte ich noch mehr Aufnahmen aus dem Geburtsort gesehen, und an die Parade der schnell hintereinander verstorbenen 80er-Jahre-Greise der KPdSU kann ich mich aus der Kindheit noch mit ausreichend Schauer erinnern, um bei diesem Film in jeder Sekunde auf Zack zu bleiben.

American Dharma (Errol Morris)

Das war gleichsam der Anti-Godard, ein jämmerlicher Aufschneider, der gern als konservativer Intellektueller eine Revolution herbeisudern würde: Stephen Bannon schafft es aber immerhin, Errol Morris lächerlich aussehen zu lassen. Der hat schon eine ganze Reihe von Interview-Filmen gemacht, in diesem Fall bringt er sich mit seinen Fragen stärker und ungeschützter als sonst ein, er kann Bannon aber natürlich nicht irritieren (der ist intellektuell nicht erreichbar, weil sturzdumm), und er legt ihm mit Schwarzweißausschnitten aus einem Gregory Peck-Film sogar noch die Landebahn für geistige Tiefflüge bereit. Peinlich von vorn bis hinten.

Roma (Alfonso Cuarón)

Ein Period Picture par excellence: Hundescheiße in einer Toreinfahrt, in die ein bald abwesender Vater seinen amerikanischen Superschlitten blechschädigend zu navigieren versucht. Eine bürgerliche Familie, bei der Cuarón sich auf ein indigenes Dienstmädchen konzentriert. Die Geschichte eines Verschwindens (der Vater ist Wissenschaftler, der Kongresse mit einer Geliebten auf Dauer setzt). Politischer Aufruhr durchquert persönliche Erinnerungen. Cuarón denkt schon damals an Gravity, es ist ein Gedanke, den ihm das Kino eingibt. Mein persönlicher Höhepunkt: einmal geht Cleo ins Kino, es ist ein überwältigend opulenter (digital nachbearbeiteter?) Palast mit Statuen neben der Leinwand. Es ist das Jahr 1971, es läuft aber ein europäischer Film aus den 60er Jahren, der in meiner Kindheit große Prominenz genoss: Die tollkühnen Männer in ihrem fliegenden Kisten, mit Gert Fröbe und Alberto Sordi. Habent sua fata Erinnerungen.

High Life (Claire Denis)

Robert Pattinson und Juliette Binoche fliegen durch den Weltraum. Außenaufnahmen sind wegen Dunkelheit nicht erforderlich, also ist das ein Studiofilm, in dem die Binoche einmal einen ziemlich verwegenen Begattungsakt mit einem Unwesen hinlegt. Die meiste Zeit aber ist Pattinson im Zentrum, häufig mit einem Kind. Irgendeinen intendierten Sinn gibt es möglicherweise, mir hat sich keiner erschlossen, das mag aber auch daran gelegen haben, dass ich schon an den Rückflug dachte, und an Mexiko, das Land, das sich auf dem TIFF 2018 am stärksten in meinen Horizont bewegt hat.