oiff 2017

29. Juli 2017

OIFF 2017 Odessa International Film Festival 2017: 13 Filme

Von Bert Rebhandl

Pretenders (Teesklejad) (Vallo Toomla)

Anna und Juhan machen Ferien in einem tollen Haus im Wald, zum Baltischen Meer sind es nur ein paar Schritte. Dort gibt es noch ein anderes Paar, Triin und Erik, aus ihrem Zelt tönt hässliche Musik. Mit diesen vier Figuren inszeniert Vallo Toomla aus Estland einen Psychothriller mit Elementen eines Reigens und mit Funny Games, die anders als bei Haneke aus dem Inneren der Beziehungen kommen. Je schöner der Urlaub sein soll, desto wichtiger ist es, im Haus einen Panic Room zu haben.

 

The Experts (Oleg Maslennikov)

Zwei Folgen einer ukrainischen Mainstream-Krimiserie sollten ein Beispiel für vertikales Erzählen geben: Die Spannung zwischen einer Ermittlerin (37 Jahre, alleinerziehend) und einem Forensiker (passendes Alter, alleinstehend) ist von Beginn an stark einschlägig. Ob die beiden wirklich zusammenkommen, wird sich später weisen, auf jeden Fall war die immer noch sehr traditionelle Geschlechterpolitik in der Ukraine das Interessanteste an den ersten beiden Folgen dieser Serie. Zum Beispiel in einer Szene, in der eine Frau einem Mechaniker gegenübersteht, der ihr eine überhöhte Rechnung präsentiert. Sie weiß sich nicht anders zu helfen, als «ihren Mann» anzurufen. Der hebt aber nicht ab, denn er ist nur ihr Geliebter, und hat gerade einen ehrgeizigen Plan mit seiner richtigen Frau. Die «falsche» Frau bezahlt die Rechnung.

 

Cold March (UdSSR 1987) (Igor Minaiev)

Traditionell ist die kleine Retro des Dovzhenko Center beim OIFF besonders interessant. Dieses Jahr lautete der Titel Tender Age. Filme mit Jugendlichen aus einer Zeit, in der die Ukraine noch nicht volljährig war, also aus der späten Sowjetunion. Cold March von Igor Minaiev erzählt von einer Berufsschulklasse in Odessa in den späten 80er Jahren. Jungmännerrituale, unmögliche Beziehungen (in einer Gesellschaft, die erstaunlich prüde ist), ein Ausflug zu einem Geschichtsort in Poltava. Die Sowjetunion sieht in den Studiobildern teilweise geradezu apokalyptisch aus. Nach der Vorstellung habe ich von Regisseur Igor Minaiv und zwei Veteraninnen des Odessa Film Studios vor dem Kinoteatr Rodina ein Foto gemacht.

© Bert Rebhandl

 

Hinter dem Schneesturm (Levin Peter)

Vor vielen Jahren kämpfte der Großvater von Levin Peter auf deutscher Seite in der Ukraine im Zweiten Weltkrieg. Nun ist er ein sehr alter Mann, der manchmal grässliche Schreie ausstößt. Woran erinnert sich jemand nach so langer Zeit, an der Grenze zum eigenen Tod? Levin Peters Dokumentarfilm ist eine Gratwanderung: Wie er auf seinen Protagonisten einspricht, das hat etwas Beschwörendes in einem doppelten Sinn, er will etwas retten, was ins Dunkel der Geschichte zurückzufallen droht. Der Lokalaugenschein in Mariupol löst nichts auf, bringt aber starke Momente des Geschichtsbewusstseins. Unvergesslich aber bleibt das Bild dieses alten Mannes, in dessen Hirn die Erinnerungen wüten.

 

Black Level (Valentin Vasyanovych)

Kostya, ein Fotograf in mittleren Jahren, lebt sein Leben und sagt kaum einmal was (wenn, dann hinter einer Scheibe, durch die wir nichts hören, und über sich die Regenschlieren ziehen). Nach einer Weile beginnt man sich in diesem sehr stilisierten Film zu fragen, ob das ganze wortlose Treiben einem Prinzip folgt, dann verliert diese Frage aber auch wieder an Bedeutung, denn irgendwann ist klar, dass es entweder nur um ein (spätes, erlösendes) Wort gehen kann, oder um gar keines. Am stärksten blieb mir ein topographisches Detail in Erinnerung: auf der untersten Ebene einer Tiefgarage hat Kostya noch eine Abstellkammer, in der es einen weiteren Keller gibt. Dass man in diesem Verlies Sex haben (wollen) kann, ist natürlich ein Statement, bei dem man sich fragen kann, ob es nicht zu sehr einem (ästhetisch) vorgefassten Befund entspricht. Das Ende aber ist in seiner Rätselhaftigkeit wieder stark.

 

The Strayed (Arkadi Nepitalyiuk)

Einmal von A nach B am Arsch der Welt: Ein junger Taxifahrer, der bei der «nerdigen» Lehrerin abblitzt (ihre Klassik-CDs spielen eine wichtige Rolle im Film), übernimmt einen Auftrag in das Dorf Pryputni (irgendwo zwischen Kyiv und Sumy). Viel mehr als diese Fahrt einer Frau mit ihrer Tochter zu der (Groß-)Mutter passiert gar nicht in The Strayed, die Natur ist überwältigend, aber die Probleme (alleingelassene Frauen, aggressive Männer) lassen sich mit guten Kartoffeln (oder gar einem Gartenzwerg) allein nicht lösen. Gedreht in dem russisch-ukrainischen Sprachmix Surzhyk, der in der englischen Untertitelung klingt wie Gettoslang.

 

Ar-Chi-Me-Di (UdSSR 1975) (Oleksandr Pavlovskyi)

Vier junge Leute in Odessa formieren sich als Band, und bald zeichnet sich ab, dass sie auf Tournee gehen könnten. Davor müssen aber noch ein paar Probleme gelöst werden. Der Schlagzeuger wird nur freigestellt, wenn er zur Arbeitsrationalisierung im Betrieb etwas beiträgt (was schließlich in einer sehr lustigen Szene schiefgeht). Liebe und Beruf, alles steht im Zeichen eines Kommunismus, der hier gar nicht totalitär wirkt, sondern einfach nur (damals schon) retro. Ein Kassenschlager aus der Sowjetunion, der sehr schön die realsozialistische Popkultur zeigt (meine Lieblingsszene: eine Band namens «Die Optimisten»).

 

The War of Chimeras (Anastasiia und Mariia Starozhytska)

Aus der Euphorie der Revolution der Würde auf dem Majdan heraus geht ein junger Mann in den Donbass – seine Freundin bleibt zurück und macht gemeinsam mit ihrer Mutter einen Film über die frühe Phase des Krieges in der Ostukraine. Die Aufnahmen von der Front sind «embedded», an einer Stelle werden russische Kriegsgefangene in einer Weise vorgeführt, die  schon das ganze Maß des Hasses erkennen lässt, der sich seither zwischen Russland und der Ukraine herausgebildet hat. Halb Home Movie, halb War Video, ist dieser Film eher ein poetisches Manifest als eine politische Reportage. Geht aber richtig nahe.

 

Falling (Maria Stepanska)

Szenen aus dem Leben zweier junger Leute von heute: Katya soll eigentlich mit ihrem Freund nach Berlin gehen, trifft aber kurz davor Anton, der sich aus der Welt in ein Haus im Wald zurückgezogen hat. Seine Geheimnisse enthüllen sich allmählich, zum Beispiel bei einem Besuch bei seiner Mutter, die offensichtlich ein Alkoholproblem hat. Eine große Schwermut liegt über diesem Film, der in all seinem Pathos aber nie thesenhaft wirkt, sondern so etwas wie eine verlorene Generation zeigt, die von der Energie des Majdan nichts mehr erkennen lässt.

 

Ocupatsyia (Mark Hammond)

Der geschichtspolitische Schlüsselfilm dieses Jahres: Im Odessa Film Studio wird 1971 ein Film über die Durchsetzung der bolschewikischen Revolution im Bürgerkrieg 1919 gedreht, dessen Botschaft sich als unvereinbar mit der sowjetischen Geschichtsideologie erweist, denn der Kommissar der KP erscheint hier als brutaler Fanatiker, während ein Bauernaufstand in der Region Cherkassy unverhohlen auf ein ukrainisches Nationalbewusstsein bezogen wird, das sich seit 2014 durch Abgrenzung von Russland neu konstituiert – die Sowjetunion dient dabei als Sündenbock. Eine junge Cutterin soll den Film umschneiden, und wird sich in ihren Gewissenskonflikten einer «geflüsterten Geschichte» bewusst, die hier quasipropagandistisch (und von einem weitgehend unbekannten Expat namens Mark Hammond) aufbereitet wird.

 

School # 3 (Georg Genoux, Lisa Smith)

Junge Leute aus Mykhailivkaya, einer kleinen Stadt unweit der heutigen Demarkationslinie zwischen der Ukraine und dem «autonomen» Donbass: Sie erzählen von ihrem Leben im Zeichen des Krieges. Viele Szenen sind von großer Unmittelbarkeit, das eigentliche Interessante sind aber die theatralisch geformten Auftritte, die wie Bühnendarbietungen oder auch Schulreferate wirken, in denen die Teenager aber sehr viel von sich zu erkennen geben, auf eine zugleich unmittelbare wie reflektierte Weise. Mein Lieblingsfilm dieses Jahr.

 

Ugly (Juri Rechinsky)

Der österreichische Produzent Franz Novotny saß bei der Pressekonferenz im weißen Anzug auf dem Podium und stellte den Regisseur Juri Rechinsky als «neuen Tarkowksi» vor. Damit greift er ein paar Solarisumlaufbahnen zu hoch. Die Doku Sickfuckpeople über Drogensucht in Odessa fand ich noch sehenswert, an der bemüht dekadent-morbiden Familiengeschichte von Ugly konnte ich nichts finden, wovon ich nach Hause schreiben müsste.

 

Pit No 8 (Marianna Kaat)

Ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2010, der als Special Screening lief, und den man eigentlich in einem Double Feature mit School #3 zeigen sollte. In dem Dorf Snizhne im Donbass arbeitet ein Junge namens Jura in den illegalen Kohleminen, die dort den Erdboden so unterwühlen, dass immer wieder Häuser teilweise einstürzen. Jura will eigentlich etwas lernen, aber er muss für seine kleinere Schwester sorgen, während die größere Schwester Ulyana auch irgendwie auf die Füße zu kommen versucht. Die Mutter säuft, der Stiefvater ist brutal, von dem Erbe des angesehenen Großvaters (wie von den relativ stabilen Verhältnissen der sowjetischen Versorgungsgesellschaft) ist nichts übrig. Schon damals wetterten Leute im Donbass gegen die NATO, während am Victory Day im Mai ein Gemeinsinn beschworen wird, von dem die Kinder sich nichts kaufen können. Mein zweiter Lieblingsfilm dieses Jahr ist in Deutschland auf DVD erhältlich, nämlich bei Deckert Distribution.