locarno 2010

19. August 2010

Locarno 2010

Von Lukas Foerster

Teil V

Das Bild ist eines von James Benning. Es bewegt sich, aber nur ein bisschen. Ein sehr klassisches Bild ist es eigentlich außerdem. Vertikale und horizontale Strukturen teilen es in 9 ungefähr gleich große Zellen, das Bildzentrum ist als cadrage in der cadrage gerahmt. Hier, im Bildzentrum, geht fast durchgängig ein wilder Funkenregen nieder. Außerdem werden, so scheint es (Einzelheiten sind nicht erkennbar), auf zwei parallel verlaufenden Schienen stehende Lastzüge beladen. Alle paar Minuten ertönt eine Klingel. Dann bewegt sich einer der Zügen ein wenig nach vorne, auf die Kamera zu. Außerdem laufen gelegentlich Männer in Anzügen durchs Bild und von rechts kommt Rauch. James Benning hat das Bild im Duisburger HKL-Stahlwerk aufgenommen und Pig Iron betitelt. Auftraggeber ist das koreanische Jeonju Festival, das jährlich drei Regisseuren eine Digitalkamera in die Hand drückt und sie damit anstellen lässt, was sie damit anstellen wollen. Neben Benning waren dieses Jahr noch der Kanadier Denis Côté und der Argentinier Matías Piñeiro mit dabei, aber die beiden anderen Beiträge haben es schwer nach Bennings Bild.

Der Regisseur selbst bezeichnet sein Bild als eine «dramatic narrative». Irgendwie ist es tatsächlich eine und zwar ebenfalls eine ziemlich klassische. Denn ganz klassisch gibt es am Anfang ein Equilibrium, dann eine Störung und schließlich, als sie beseitigt ist, wieder ein Equilibrium. Der nächste Lastzug steht schon bereit.

***

Der Film kommt aus China, heißt Karamay und ist sechs Stunden lang. Karamay ist eine Stadt im Nordwesten Chinas. Gegründet wurde sie in den Fünfziger Jahren neben einem frisch erschlossenen Erdölfeld. Ökonomisch hat sich die Stadt, angetrieben vom Öl, herausragend entwickelt und kann durchaus paradigmatisch stehen für den scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg Chinas zur in nicht allzu ferner Zukunft weltweit bedeutendsten Wirtschaftsmacht. Mitten in Zentralasien ist eine Boomtown entstanden, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf ist inzwischen das höchste des Landes.

Gleichzeitig ist der Name Karamay in China unauslöschlich verbunden mit einer unverarbeiteten nationalen Tragödie. Am 8. Dezember 1994 fanden während einer offiziellen Zeremonie zu Ehren einiger Funktionäre der kommunistischen Partei im Freundschaftstheater, einem einst in Zusammenarbeit mit der UdSSR errichteten stalinistischen Prachtbau, 324 Menschen, darunter 288 Schulkinder, den Tod. Einige Vorhänge auf der Bühne waren in Brand geraten und da die Notausgänge bis auf einen verriegelt worden waren, brach eine fatale Massenpanik aus. Gleichzeitig wurden die Schulkinder angewiesen, auf ihren Stühlen zu bleiben, und den Funktionären bei der Flucht den Vortritt zu lassen.

Karamay setzt auf dem Friedhof der Stadt ein, auf den Tag genau 13 Jahre nach dem Unglück. Die Kamera nähert sich den Grabsteinen einiger Opfer und fokussiert jeweils eine kleine Fotografie des/der Toten. Einige Angehörige der Opfer sind zum Friedhof gefahren, um der Opfer zu gedenken und ihnen kleine Geschenke zu hinterlassen. Der restliche Film besteht dann hauptsächlich aus Gesprächen mit diesen Hinterbliebenen.

Die Stadt Karamay selber filmt der Regisseur Xu Xin nach dem Beginn auf dem Friedhof fast gar nicht mehr, sie taucht lediglich in stilisierten Standbildern zwischen einzelnen Interviewpassagen auf. Statt dessen platziert er seine Kamera in Wohnzimmern. Die Mutter, der Vater oder manchmal auch beide Eltern eines Opfers sitzen auf Sofas oder Sesseln und sprechen in die Kamera. Manche reden über den 8.12.1994 selbst, andere über das, was danach passiert ist.

Denn erst die Ereignisse nach der Katastrophe haben den Film Karamay hervorgebracht, nötig gemacht. Nach ersten Entschädigungszahlungen und halbherzigen Ermittlungen, die lediglich einige kurze Haftstrafen für nachrangige Funktionäre zur Folge hatten, versuchte der chinesische Staat, das Ereignis aus dem offiziellen Gedächtnis zu entfernen. Für die Opfer des Brandes wurden bis heute keine Totenscheine ausgestellt, Petitionen der Eltern der Verstorbenen wurden ignoriert, die engagiertesten Hinterbliebenen wurden kurzzeitig inhaftiert und von ihren Arbeitgebern drangsaliert (in der Ölstadt Karamay sind Arbeitgeber und Lokalregierung praktisch identisch und auch die Probleme, die aus dem engen Zusammenhang zwischen Industrie und Staat entstehen, tauchen zwischendrin immer wieder auf in den Gesprächen).

Dem letzten Interviewpartner räumt Xu Xin die meiste Zeit ein, über eine Stunde. Der Mann, auch er Vater eines in den Flammen umgekommenen Jungen, redet noch über ganz andere Dinge als die anderen Eltern. Zum Beispiel über die Obrigkeitstreue der Chinesen, die Schuld habe an der Tragödie und die er bis zu Konfuzius zurück verfolgt. Außerdem legt er vor der Kamera die Ergebnisse einer, so scheint es zumindest, jahrelangen Recherche offen und weist sehr artikuliert das Versagen ganz unterschiedlicher Akteuer nach, die an der Katastophe mitschuldig sind.

Xu Xin nimmt sich in allen Interviews extrem zurück. Seine eigenen Fragen sind im Film nicht zu hören, er lässt sein Gegenüber frei sprechen, behält auch einige Momente der Sprachlosigkeit im Film. Und er bewegt die Kamera nicht, er behält das einmal gewählte Setup bei, auch wenn sich eine Person einmal aus dem Bildraum entfernt. Die Interviewten behalten dadurch eine Form von Kontrolle über ihr eigenes Bild, die sie in vielen anderen Dokumentarfilmen nicht besitzen.

Schon die Interviews alleine sind äußerst beeindruckend, gleich mehrmals zeichnet der Film extreme Gefühlsausbrüche auf, deren Intensität kaum auszuhalten ist. Doch Karamay ist nicht nur ein Interview-, sondern auch ein Found-Footage-Film. Xu Xin schneidet zwischen die Erzählungen Videobilder. Das sind einerseits Aufzeichnungen chinesischer Fernsehbilder aus den Tagen und Wochen nach dem Vorfall; die Opfer werden dort mit zunehmendem zeitlichen Abstand von der Parteirhetorik immer weiter marginalisiert, aber in einer zeitnahen Reportage lässt sich auch der Kameramann des Staatsfernsehens noch von den Ereignissen überwältigen, der mechanische Blick wandert wild und unkoordiniert durch die abgebrannte Theaterhalle. 

Vor allem aber hat Xu Xin Zugang erhalten zu einer ganzen Reihe von home movies. Das Feuer im Theater selbst ist auf diesen zwar nicht dokumentiert (entsprechende Bänder wurden, das legt der Film nahe, von den Behörden konfisziert), ansonsten aber fast alles: Der Einmarsch und die Tänze vor dem Brand, die Versuche der Anwohner, während des Brands die Türen zu entriegeln, der misslungene Feuerwehreinsatz, der Abtransport und (in furchterregenden Bildern) die Aufbahrung der Leichen, schließlich die Beerdigung. 

Karamay präsentiert ein visuelles Archiv, dessen genaue Untersuchung einige der offenen Fragen klären könnte; dessen bloße Existenz aber vor allem nicht ohne Folgen bleiben kann. Als 1977 in Yili, einer anderen Stadt im Nordwesten Chinas, bei einer ähnlichen, aber noch verheerenderen Katastrophe, 694 Menschen starben, behielt die Parteimaschinerie die Fäden in der Hand. Außer der Zahl der Todesopfer ist heute fast nichts mehr über das Ereignis bekannt. Die Toten von Karamay werden - und das ist den Interviewten tatsächlich gelegentlich ein kleiner Trost - nicht so schnell vergessen werden.

Man kann dem neuen Festivalchef Olivier Père nur dazu gratulieren, dass er den Mut aufgebracht hat, Karamay trotz seiner Länge im Hauptwettbewerb des Festivals zu platzieren. Und man kann nur hoffen, dass die Jury diesen Mut - und natürlich erst recht den Mut des Films - mit dem Goldenen Leoparden belohnen wird.

Teil IV

Wenn ich mich bisher eher abschätzig über den diesjährigen Wettbewerb geäußert habe, ist es jetzt Zeit, Abbitte zu leisten. Denn es gibt in ihm einen französischen Film namens BAS-FONDS, der alleine viel, viel Schlimmeres (zum Beispiel einen gesamten Berlinale-Wettbewerb) rechtfertigen würde. Ein recht kurzer Film ist BAS-FONDS, nur 68 Minuten ist er lang. Und er ist (mindestens ein kleines) Wunder.

Die zierliche, in ihren Filmen zunächst stets erst recht unscheinbare Isild le Besco ist bekannt vor allem als Schauspielerin und als solche ebenfalls in Locarno vertreten (in Benoît Jacquots AU FOND DES BOIS, der das Festival eröffnete). Sie dreht jedoch auch eigene Filme. BAS-FONDS ist, die mittellange Dokumentation LE MARAIS mitgezählt, ihr vierter Film.

Drei Mädchen in einem Haus. Wie sie da hin gekommen sind, wird man erst später erfahren und auch dann nur ein bisschen. Gleich am Anfang Blut auf und Blut in der Toilette. Sie lungern auf dem Sofa herum, beschimpfen sich und die Welt, bewerfen sich mit Essen, eines, das dickste und kräftigste, brüllt am laufenden Band, eine andere, die jüngste und zierlichste, spricht im gesamten Film kaum einen Satz, der nicht das Wort “Arsch” enthält. Im Fernsehen laufen Pornos, auf dem Fernseher steht ein Dildo. Einen Hund gibt es auch; und ein altes Gewehr. Die Wohnung wird verwüstet, aber auch wieder aufgeräumt. Die Essensreste werden zusammengefegt, der Dildo zurecht gerückt, die Brüllende kommandiert, die anderen beiden führen aus. Den bürgerlichen Reflex bekommt man nicht so schnell raus aus den Körpern, er geistert durch die karg bis gar nicht eingerichteten Zimmer. Unbefangen, aber nicht im geringsten voyeuristisch streift die Kamera durch diese Räume und verteilt ihre Aufmerksamkeit gleichmäßig auf die drei jungen Frauen.

Drei Mädchen: Magalie, die Brüllende, deren Schwester Marie-Steph, die Zierliche und Magalies Bettgefährtin Barbara, die Blonde. Am Anfang der Alltag: Ladendiebstahl, kleine Raubüberfälle, Besäufnisse, Ravioli im Haar, grobe Pornopixel füllen die gesamte Leinwand. Die drei leben außerhalb der kollektiv verbindlichen Ordnung und haben diese durch eine eigene ersetzt, eine, die manchmal nicht weniger repressiv ist.

Dann passiert, was passieren muss: Es ist wieder mal nichts zu essen da, die drei ziehen in Barbaras Auto los und nehmen das Gewehr mit, ein Überfall auf eine Bäckerei eskaliert immer weiter und so lange, bis sich aus dem Gewehr ein Schuss fällt und der Bäcker blutüberströmt am Boden liegt. Anschließend geht es erst einmal wieder zurück in die Wohnung, es gibt Versuche, das alte Leben wieder aufzunehmen. Aber schnell merkt man, dass daraus nichts wird. Die Machtverhältnisse haben sich verschoben, zu Lasten von Barbara. Die beginnt eine Affäre mit einem wenig appetitlichen, vollbärtigen Mann. 

Und bald darauf ist das gemeinsame Leben in der Wohnung ziemlich abrupt beendet. Was dann noch folgt, ist eigentlich nichts anderes als ein langer, vielstimmiger Nachhall. Ein Nachhall, der manchmal zur Abstraktion tendiert (Magalie madonnengleich vor schwarzem Hintergrund), mal vorsichtig und zögernd den Blick frei macht auf einen möglichen Alltag nach dem freiwilligen Ausstieg. Ein etwas zu langer Nachhall vielleicht, mag sein; und stellenweise auch ein irritierend katholischer, aber insgesamt ist doch auch dieser Nachhall super und vor allem: frei von jedem Falsch. Er verdammt nicht und erteilt keine Absolution, aber er besteht darauf, dass Urteile gefällt werden müssen. Der Film ist vorher, als sie sich für ihre eigene Welt entschieden hatten, ganz mit den Mädchen gewesen und er trägt mit ihnen die Konsequenzen dieser Wahl. 

BAS-FONDS ist eine einzige Wucht. Die Bilder sind einfach, roh, frei von falschem Kunstwillen und darin erinnert der Film tatsächlich manchmal an Virginie Despentes’ und Coralies BAISE-MOI, mit dem er früher oder später verglichen werden wird. Auch BAISE-MOI ist ein toller Film, aber BAS-FONDS ist, glaube ich, noch einmal um einiges besser. Weil Isild le Besco nichts und niemand instrumentalisiert. Nicht die Gewalt, nicht den Sex und schon gar nicht ihre Schauspielerinnen.

Alle drei Hauptrollen sind besetzt mit Laiendarstellerinnen. Valérie Nataf ist als Magalie die Entdeckung des Films, wo nicht gleich des Festivals. In jeder Szene, in der sie aktiv wird, strahlt sie eine unbändige Energie, der man sich nicht nur nicht entziehen kann; man weiß schlichtweg nicht, wie man sich verhalten soll zu ihren manischen Wutausbrüchen, zu dieser unbedingten Negation eines jeglichen Sozialen, der nicht verhandelbaren Ablehnung nicht nur von Konvention, sondern auch von Kommunikation. Die Realismuskonventionen fürs Schauspiel sind aufgehoben, diese Magalie ist nicht einfach eine weitere trotzige Heranwachsende, mit der man sich gefahrlos für die Dauer eines Films identifizieren (oder gar in sie einfühlen) könnte. Es gibt keinen middle ground, nicht für Magalie, nicht für diejenigen, die sie anschauen. Wenn sie aufhört zu wüten, muss sie zur für den Zuschauer ebenso unnahbaren Heiligen werden. Erst war sie zuviel in der Welt, am Ende ist sie es gar nicht mehr.

Teil III

Die diesjährige Retrospektive ist Ernst Lubitsch gewidmet und damit zwar nicht ganz so spektakulär wie die Anime-Leistungsschau im vergangenen Jahr, aber ebenso ergiebig. Organisiert wurde sie von Joseph McBride, einem amerikanischen Cinephilen (im typischen, graubärtigen amerikanische-Cinephilen-Look), dessen einführende Kurzvorträge angenehm gelassen daherkommen.Wenn man in Locarno dieser Tage vormittags großartiges MGM-Spektakelkino wie THE MERRY WIDOW (1935), die selten gezeigte Stummfilmfarce SO THIS IS PARIS (1926) oder auch eine deutsche Version von CARMEN(1918, Pola Negri außer Rand und Band) sieht und nachmittags im Wettbewerb doch wieder nur auf die verschiedenen Realismusausformungen trifft, dann hat diese harsche Opposition etwas Tragisches. Und man kommt nicht daran vorbei zu bemerken, wie wenig von dem verspielt exzessiven, humanistisch maximalistischen Kino, für das einst Namen wie Lubitsch, Ophüls und Sternberg standen, in den Filmen der Gegenwart übrig geblieben ist.

Eine Wiederentdeckung im größeren Stil verdient hätte das Melodram THE MAN I KILLED akaBROKEN LULLABY. Gedreht wurde der Film 1931, als der Tonfilm jung war und sich dem Bild noch nicht vollständig aufgeprägt hatte. Die ausgedehnte Eröffnungsmontage könnte einem Stummfilm entstammen: Paraden während der französischen Siegesfeier nach dem ersten Weltkrieg gehen über in brutale Schlachtenszenen. Donnernde Kanonen, Hände am Gewehrabzug, dazwischen dann plötzlich stilisierten Momentaufnahmen eines Gottesdienstes. Der Gottesdienst ist zu Ende, die Kirche leert sich. Nachdem sich die Kirche geleert hat, zoomt die Kamera auf die beiden einsamen, gefalteten Hände Lionel Barrymores auf der ansonsten menschenleeren Kirchenbank. Barrymore spielt einen französischen Weltkriegsveteranen, der den einen deutschen Soldaten, den er im Nahkampf getötet hat, nicht vergessen kann. Er macht sich auf in das Dorf im Nachbarland, in dem dessen Eltern und Verlobte wohnen. Zunächst hat er lediglich vor, um Vergebung zu bitten und danach schnell wieder abzureisen.

Der Plot selbst ist nicht sonderlich interessant und läuft auf eine ziemlich verlogene Variante von Völkerverständigung hinaus. Beeindruckend und nicht nur ein bisschen creepy ist an dem Film das Deutschlandbild, das Lubitsch da 1931, kurz vor der Machtübernahme Hitlers, zeichnet. Lubitsch, der Regisseur, der in den Zwanziger Jahren von der UFA nach Hollywood ging, nur um dort wieder und wieder artifizielle Ersatz-Europas im Studio nachzubauen, erträumt sich hier für einmal sein Europa nicht als unmögliche Utopie einer Vergangenheit, die nie existiert hat. Auch das Dorf in THE MAN I KILLED ist zwar ein fein gearbeitetes Hollywood-Studioset, voller pittoresker Details und nicht wenigen Anachronismen. Gleichzeitig aber haben die engen, düsteren Gassen etwas Klaustrophobisches. Keine fröhlich ornamentalen Menschenmassen wie in Lubitschs Kostümfilmen, dafür ewige Observation, verschämte Blicke hinter dichten Vorhängen. Selbst den wenigen Gags, die sich Lubitsch nicht verkneifen kann, eignet etwas Paranoides: Wenn das sich den Regeln des Genres gemäß formierende deutsch-französische Liebespaar durch die Gassen spaziert, treten die neugierigen Hausfrauen nach draußen und lösen dabei ihre jeweilige Türklingel aus. Der Sparziergang ist begleitet von einer Melodie des Vorurteils und der Denunziation. In einer besonders eindrucksvollen Szene stellt Lubitsch außerdem sehr glaubhaft und lebensnah den ganz normalen deutschen Stammtischrassismus nach.

Schon im Schützengraben findet Barrymore eine Beethovenbiografie, die der getötete deutsche Soldat mit aufs Schlachtfeld gebracht hatte. Dessen Familie verkörpert in ihrem mit Kulturgütern aller Art vollgestopften Haus die jämmerlichen Überreste eines klassischen Bildungsbürgertums, das eingesperrt ist in die Relikte der Vergangenheit; wohnhaft in Geisterhäusern, die wiederum beleuchtet werden von Straßenlaternen, die früh gelöscht werden. Das Ressentiment, das jedem Winkel dieses winkelreichen Hauses entströmt, widerspricht dem arg tränenseligen, falsch versöhnlerischen Finale aufs entschiedenste. Und so kann man THE MAN I KILLED, einen Film, der zum Zeitpunkt seines Entstehens vom Zweiten Weltkrieg nicht umsonst weniger weit entfernt ist als vom Ersten, mit dem er sich vorderhand auseinander setzt, kaum anders als prophetisch nennen, auch wenn am Ende doch noch einmal Hausmusik gemacht wird.

***

Interessantes Gegenwartskino finde ich eher in den Nebenreihen als im Wettbewerb. Und eher in kurzen und mittelangen, denn in langen Filmen. Ein Programm der Sektion "Fuori concorso" zeigt zwei essayistische Stadtfilme von Thomas Comerford, einem Experimentalfilmer und Musiker aus Chicago, sowie von Thom Anderson, der spätestens seit LOS ANGELES PLAYS ITSELF der Filmwelt ein Begriff ist, oder zumindest sein sollte. Sein neuer Film ist für mich schon jetzt einer der Filme des Jahres und ergänzt dieses magnum opus auf eigenwillige Weise.

***

Doch zunächst Chicago. Comerfords THE INDIAN BOUNDARY LINE folgt den nicht mehr vorhandenen Spuren eines Grenzverlaufs zwischen indianischem und weißem Territorium. Bis vor einigen Jahrzehnten erinnerte immerhin noch ein Straßenname in Chicago an eben diese Indian Boundary Line, inzwischen heißt sie Rogers Boulevard, nach dem Pionier Philip Rogers. Comerford beginnt seinen Film mit einer Split-Screen-Passage entlang dieser Straße. Die 8mm-Bilder sind, wie die 16mm-Aufnahmen, die später folgen, auf digitale Trägermedien umkopiert. Entmaterialisierte analoge Artefakte befremden den Betrachter, mehrmals überschwemmen grell leuchtende Pixelwellen den gesamten Bildraum.

Unterschiedliche Stimmen lesen aus dem Off historische Erlebnisberichte von Indianern und Siedlern, Geschichten von brutaler Landnahme, von Vertragsbruch, von fortgesetzter Ausbeutung. Eine andere Stimme – vielleicht die Comerfords selbst – liest gelegentliche die exakten Koordinaten des Kamerastandorts vor. Dazu Bilder von Kindern, die in Parks spielen, von Ameisen auf Bäumen, von verrosteten Gedenktafeln. Unvermittelt springt der Film zwischen verschiedenen Jahreszeiten hin und her, aber die Vergangenheit ist nicht mehr einzuholen. Selbst die liebevoll gezeichneten Karten, die jede neue location einführen, sind nicht historisch, sondern extra für den Film hergestellt. Eine bedrückende Rückkehr zu einer frontier, die schon lange keine mehr ist und die ohnehin stets nur von einer Seite respektiert worden war.

GET OUT OF THE CAR, der zweite Film des Programms, ist lebensfroher, auch wenn Thom Andersons Verhältnis zu Los Angeles vermutlich kaum weniger kritisch ist als das Comerfords zu Chicago. Das halbstündige Werk ist Andersons erste filmische Arbeit seit LOS ANGELES PLAYS ITSELF und existiert ausschließlich – einst Gang und Gäbe im Avantgardekino, heute eine Rarität – auf 16mm. Während der kurzen Einführung erklärt der gut aufgelegte Anderson erst, dass es inzwischen eigentlich unmöglich sei, eine vernünftige 16mm-Kopie herzustellen und anschließend, dass es ihm natürlich dennoch gelungen sei.

Der Titel wird gleich in der ersten Einstellung laut ausgerufen und kann als Aufforderung verstanden werden, den Sicherheitsabstand aufzugeben, den der Autofahrer zu seiner Umwelt aufrecht erhält. GET OUT OF THE CAR ist ein Film für Fußgänger und Anderson hat ihn sich als ein solcher, während langer Passagen durch seine Heimatstadt (und gelegentlich auch durch andere Ortschaften) erlaufen. GET OUT OF THE CAR besteht ausschließlich aus recht kurzen, unbewegten Einstellungen, begleitet von einem wilden Soundrack, der hauptsächlich R'n'B und Jazz der 50er und 60er, sowie die Musik mexikanischer Immigranten aus den 90ern sampelt. Dazwischen mischen sich gelegentlich englische und spanische Sätze, die direkt während der Dreharbeiten von zufällig anwesenden Passanten gesprochen werden. Einer fragt Anderson gleich zu Beginn, warum er die Rückseite einer Werbetafel filmt. "It's kind of a film about absence", lautet die Antwort. 

Obwohl jede einzelne Einstellung einen Ausschnitt des urbanen Raums framet, taucht kein einziger Mensch auf in dieser eigenwilligen City Symphony, selbst Autos sieht man höchstens gelegentlich als Spiegelungen in Fensterscheiben. Nur einmal halten zwei Hände schwarz-weiß-Fotos alter, nicht mehr existenter Gebäude vor die Kamera. Statt dessen filmt Anderson Los Angeles als einen Raum der wild wuchernden Zeichen. Die häufigsten Motive sind abblätternde Werbeplakate, trashige Neonreklamen und durchgeknallte Graffiti. "Art Project – Please Respect" steht meterhoch auf einer halb verfallenen Betonwand. Anderswo bewirbt ein stilisierter Sylvester Stallone "Rambo's Tacos", wieder anderswo tragen Brathähnchen einen Ringkampf aus. Oft montiert Anderson geschickt im Bild selbst und findet heraus, wie sich die einzelnen Artefakte gegenseitig kommentieren und in die Haare geraten.

Manische Selbstreflektionen einer modernen Millionenstadt. Eigentlich könnte der Film auch heißen: "Los Angeles Plays Itself – This Time for Real". Wieviel Stadtsoziologie und -geschichte in dieser Bilderflut enthalten ist, kann freilich nur erahnen, wer Los Angeles lediglich aus der Ferne kennt. Ein längerer Kommentar Andersons zu seinem Film bietet erste Anhaltspunkte und ist auch ansonsten unbedingt lesenswert. Zu beschwingten Klängen katalogisiert Thom Anderson die Artefakte eines enthemmten, aber nicht gerade selbstsicheren Kapitalismus. Eines Kapitalismus, der außerdem von innen unterwandert wird, von einer Zeichenproduktion, die aus seinen Registern stammt, aber nicht mehr in seinem Sinne produktiv gewendet werden kann. Die Euphorie, die aus GET OUT OF THE CAR spricht, ist jedoch keine, die diese Zeichenzersetzung ernsthaft als gesamtgesellschaftliche Utopie feiern möchte. Sie entzündet sich stets nur an ganz konkreten Orten und Bildern: "Is this a strip club or a parking garage? Either way, it's a beautiful building."

Teil II

Der Hinterkopf einer brünetten, laufenden Frau in Großaufnahme. Einige Haare kleben im Nacken, die restlichen sind zur Seite gestrichen. Sie läuft, die Kamera läuft hinter ihr her. So nah ist sie an dem Kopf, dass man nicht wirklich ein Gespür gewinnt für das Verhältnis der Frau und ihrer Bewegung zum Raum, den sie durchquert. Dieser Raum ist eine Stadt, die bleibt im Bildhintergrund und leicht unscharf. Vermutlich bewegt sich der Träger der Kamera auch zu Fuß und man weiß nicht immer so genau, ob die kleinen Unsicherheiten und Wackler im Bild von Unsicherheiten im Gang der Frau oder im Gang der kameraführenden Person herrühren. Die ungleichen Rhythmen der beiden Läufer dynamisieren das Bild, tragen eine Spannung ein.

Man kennt dieses Bild. Solche oder so ähnliche Bilder sind im Festivalkino, spätestens seit ROSETTA der Dardennes an der Tagesordnung. Besonders exzessiv tauchen sie zum Beispiel auch in Lodge Kerrigans KEANE (2004) auf, einem interessanten Versuch, Schizophrenie filmisch zu fassen. In Locarno ist dieses Jahr ein 18-minütiges neues Werk des Regisseurs namens RETURN TO THE DOGS zu sehen. Der Film wurde, ebenso wie zwei mit ihm aufgeführte, weniger interessante Kurzfilme von Joachim Lafosse und Bertrand Bonello von einem Theater im Pariser Vorort Gennevilliers (das schwule Paradies aus HOMME AU BAIN, siehe den ersten Teil des Festivalberichts) in Auftrag gegeben. Es scheint sich bei RETURN OF THE DOGS allerdings in erster Linie um eine Art Kurzfilmauskopplung aus Kerrigans neuem Spielfilm REBECCA H. zu handeln, der in Cannes dieses Jahr größtenteils auf Unverständnis gestoßen ist, den ich jetzt aber unbedingt sehen möchte.

RETURN TO THE DOGS besteht fast ausschließlich aus dem oben beschriebenen Bild. EIne Frau bewegt sich durch eine Stadt, die vielleicht Gennevilliers ist, vielleicht aber auch eine ganz andere. Die Kamera klebt ihr die ganze Zeit fast buchstäblich im Nacken. Nur ein, zweimal wendet sie ihren Kopf so weit zur Seite, dass ein Teil ihres Gesichts sichtbar wird. Vielleicht ein Zweitter aus Wahrnehmungs- und Affektbild: Der dauerpräsente Straßenlärm, die visuellen Reize der Urbanität, die kleinen Schocks des Zu-Fuß-Gehens: Der Film registriert all das und zentriert es auf einen vereinzelten Menschen. Aber dessen Gesicht, das die Sinnesreize aufnimmt und als Ausdruck verarbeitet, bleibt unsichtbar, dem Film verschlossen. RETURN OF THE DOGS ist die Art kleines Wunder, die man in Kurzfilmprogrammen sucht und viel zu selten findet. Kerrigan macht nicht viel. Er nimmt ein Bild, das man nur allzu gut zu kennen glaubt, das schon lange zum Klischee geronnen schien. Und er stelt das Bild frei, führt es zu seinem logischen Endpunkt, macht es neu und in mancher Hinsicht überhaupt erst, lesbar. Der Film endet mit einer Pointe, allerdings mit der denkbar banalsten und deswegen denkbar besten.

***

Noch einmal Gennevilliers also. Und noch einmal Mumblecore. CYRUS, die im ersten Bericht erwähnte Komödie, macht dieser Spielart des US-amerikanischen Indiefilms wenig Ehre. Ein ganz anderes Kaliber ist COLD WEATHER von Aaron Katz. Schon, weil der Film in jeder Einstellung ein Bewusstsein hat für die eigene Bildhaftigkeit - und CYRUS in keiner einzigen. So wenig haben Katz’ stets sorgfältig kadrierte, wunderschön ausgeleuchtete Bilder mit den beliebigen Zooms der Duplass-Brüder zu tun, dass man sich schwer tut, zwischen beiden Filmen einen Zusammenhang zu konstruieren - und sei es auch nur über einen schwammigen Begriff wie Mumblecore, der wohl eher eine Generationszusammenhang kennzeichnet als irgend etwas anderes.

Ein wenig verhält sich der Film zum älteren Mumblecore-Kino, wie sich Thomas Arslans IM SCHATTEN zur Berliner Schule verhält. So rückhaltlos wie Arslan nimmt Katz das Genrekino allerdings nicht an. Es geht ihm eher um Infiltration und Unterwanderung. COLD WEATHER versucht auf interessante Weise, das dezidiert realistische, dabei manchmal doch etwas betuliche slice-of-life-Milieustudien-Slacker-Befindlichkeits-Kino, das er und Kollegen wie Andrew Bujalski in den letzten Jahren prägten, mit Thrillerelementen zu verunreinigen.

Der Film spielt in Portland, Oregon. Das kalte, frische Klima der Stadt schlägt sich in klaren, oft leicht bläulich schimmernden Bildern in einer ähnlichen Weise nieder, wie sich die gemütliche Hitze Austins letztes Jahr in den warmen Farben von Bujalskis BEESWAX niedergeschlagen hatte. Zunächst sind die zusammen wohnenden Geschwister Doug und Gail nur zwei weitere etwas unsicher vor sich hin lebende junge Menschen, wie es sie nicht nur im amerikanischen Gegenwartskino zuhauf gibt. Doug hat gerade sein Studium abgebrochen und begonnen, in einer Eisfabrik zu jobben, Gail ist erfolgreich im Beruf, aber sozial isoliert. Gleich eine der ersten Szenen zeigt ein gemeinsames Abendessen mit den Eltern, das Gespräch dreht sich um Karriereperspektiven.

Bald tauchen zwei weitere Figuren auf, Dougs Exfreundin Rachel, die auf Besuch in der Stadt ist und sein Arbeitskollege Carlos. Eine Weile fließt der Film ruhig vor sich hin: Brettspiele, whale watching, DJ Night, ein kurzer tracking shot durch die ihre Angestellte nicht allzu sehr vom Produkt ihrer Arbeit entfremdende Eisfabrik, ein langsamer Zoom auf einen Wasserfall. Der Film weigert sich beharrlich, die kleinen schiefen Blicke und spitzen Bemerkungen in ein dramaturgisches Korsett zu pressen.

Das Drama kommt statt dessen von außen. Plötzlich ist Rachel spurlos verschwunden. Die anderen drei machen sich auf die Suche nach ihr und finden sich bald wieder zwischen geheimnisvollen Pick-up-Trucks, Geldkoffern, Cowboys und Erotikmagazinen. Ausgerechnet an Sherlock Holmes orientieren sich Doug, Rachel und Carlos bei der Suche. “Sherlock’s the man!” meint Carlos. Doug beginnt sogar, Pfeife zu rauchen. 

Das eigentlich überraschende an dem Film ist, dass Katz gleichzeitig das Genre dennoch ernst und beim Wort nimmt. Ein ökonomischer, rhythmischer Soundtrack begleitet die Ermittlungen, die unter anderem in einen labyrinthischen Lagerkomplex führen, dessen neondurchflutete Kälte eigentlich kein Ort des Mumblecore ist. Das Myterium, dem die drei Freunde auf die Spur kommen, ist kein Teil ihrer Teilzeit-Slacker-Welt, es bleibt ihrem Leben äußerlich, trotz Sherlock-Pfeifen und konspirativen Sonnenbrillen. Es geht um eine Erfahrung von Alterität, die freilich erst einmal nicht allzu viele Folgen zeitigt. Aber dass es gut ist, sie gemacht zu haben, spüren auch Doug und Gail am Ende in ihrem Auto auf einem leeren Parkdeck. Aus dem Autoradio dröhnt Death Metal.

Teil I

Wieder in Locarno. Der Sommer, der in Deutschland wohl schon wieder vorüber ist, wird in der Südschweiz, wo selbst McDonald-Filialen nicht daran vorbei kommen, ein wenig mediterranes Ambiente zu simulieren, noch nicht so bald zu Ende gehen.

Da ich letztes Jahr nie eine Filmvorführung auf der Piazza Grande, der riesigen Freiluftbühne im Zentrum Locarnos, besucht hatte, habe ich das dieses Jahr gleich am ersten Tag nachgeholt. Dem Hauptdarsteller des Films, John C. Reilly widmet das Festival dieses Jahr eine Hommage. Ein Programmteil, der dem neuen künstlerischen Leiter Olivier Pères (vorher »Quinzaine des Réalisateurs« in Cannes) sehr am Herzen zu liegen scheint – völlig zurecht natürlich. Pères hat für das Festival tatsächlich auch STEP BROTHERS ausgewählt, die bislang letzte und vielleicht radikalste Zusammenarbeit Reillys mit Adam McKay und Will Ferrell. Man bekommt also noch einmal die Möglichkeit, mit anzusehen, wie Reilly und Ferrell den Catalina Wine Mixer aufmischen.

Auf der Piazza allerdings lief gestern leider nicht STEP BROTHERS. Sondern CYRUS, eine amerikanische Dramedy aus dem Niemandsland irgendwo zwischen Indie und Mainstream: Ausführende Produzenten sind unglaublicherweise Ridley und Tony Scott, das ungenaue Framing und die hässlichen Zooms stammen eher aus der Indie-Ecke. 

Reilly gibt einen dauerdepressiven Enddreissiger, der seit Jahren an den psychischen Spätfolgen einer gescheiterten Ehe laboriert und erst wieder Hoffnung schöpft, als er Molly (Marisa Tomei) kennen lernt. Deren Sohn wiederum gibt dem Film den Titel und wird von Jonah Hill (in diesem Fall genau der richtige Ausdruck:) verkörpert. Cyrus und Molly haben, das merkt man schnell und daran arbeitet sich der Film bis zum absehbaren Ende ab, eine etwas sonderbare Beziehung, die noch sonderbarer wird, sobald Reilly beginnt, die Mutter-Sohn-Bindung infrage zu stellen.

Da können sich Hill und Reilly noch so viel Mühe geben: In CYRUS steht nichts auf dem Spiel, weil weder die Figuren, noch der Film auch nur einen Hauch von Neugier besitzen. Alles beginnt und endet im linksliberalen Post-Bürgertum, das sich eine Welt außerhalb seiner selbst gar nicht mehr vorzustellen in der Lage zu sein scheint.

Man kennt das leider nur zu gut: Die Männer sind selbstmitleidige Nervenbündel, die Frauen reine Projektionen ohne einen Hauch eigener Subjektivität, die ewig gleichen Wunscherfüllungsfantasien des Indiekinos: Mädels, die außen etwas verschroben sind, die aber doch in ihrem Inneren nichts als Verständnis haben für die Schrullen der Jungs und nur darauf warten, diese bemuttern zu dürfen. Auch das unterscheidet uninteressante Indie- von interessanten Mainstreamkomödien: In ersteren ist jede Demütigung, jede Härte immer schon eingeklammert und eigentlich bereits durchgestrichen durch die erlogene Versöhnung, die unweigerlich auf sie folgen wird.

Ich weiß nicht, ob Christophe Honores HOMME AU BAIN ein sehr viel besserer Film ist als Cyrus. Aber auf jeden Fall ist er ein um ein vielfaches wagemutigerer. HOMME AU BAIN könnte, soweit er überhaupt den Weg ins reguläre Kinoprogramm finden, wieder einmal einer der Filme sein, die die Grenzen des dort Zeigbaren ausloten und ein wenig verschieben.

Emmanuel – bullig, dunkel, tätowiert – ist bei Omar – schnurrbärtig, hager, nicht ganz so dunkel – eingezogen. Erst ein voyeuristischer Blick im Bad, dann eine Vergewaltigung auf dem Sofa. Ein Stock weiter oben wohnt ein alter Dandy, der einmal an beiden jungen Männern Interesse gehabt hatte, der jetzt aber zu Emmanuel meint: »Du bist Kunst. Aber schlechte Kunst. Du bist Kitsch.«

Ort ist Gennevilliers im Nordosten von Paris, Emanuelle und Omar wohnen in einem gewaltigen Betonklotz, auch ihre Nachbarn sind fast ausschließlich arabische und afrikanische Migranten. Nach der Vergewaltigung ist Omar erst einmal weg. Emmanuel braucht allerdings nur über den Hof zu laufen, schon hat er wieder einen Neuen im Bett. Mindestens einen. Omar ist derweil auf einer Amerikareise mit einer befreundeten Regisseurin (die, nebenbei bemerkt, nicht viel Kluges zu sagen hat über das Kino) und macht sich mithilfe seiner Videokamera – deren defizitäre Bilder immer wieder und programmatisch gleich in der allerersten Szene in den Film eindringen – an einen Filmstudenten ran, in dem er ein Al-Pacino-Double zu erkennen glaubt.

HOMME AU BAIN macht einfach so, scheinbar ohne viel darüber nachzudenken, die Pariser Banlieus – und New York gleich noch mit dazu - zu einem einzigen, utopischen schwulen Raum, in dem weder Rassismus noch Homophobie auch nur ein klein wenig existent sind. Man darf natürlich davon ausgehen, dass gerade die Nonchalance des Films sein Programm ist, aber dennoch verwundert erst einmal die Selbstverständlichkeit, mit der Honore seine Figuren in dieser Welt, die vieles ist, aber keine realistische Beschreibung eines Orts in der Welt, platziert und ihnen anschließend mit der Kamera auf die nackten, dunklen Leiber rückt. Der Sex ist mal sehr explizit, mal nicht ganz so sehr und irgendwann auch nicht mehr nur schwul.

Man kann vieles an HOMME AU BAIN aussetzen. Nicht nur sind manche der Episoden, in die der Film mit zunehmender Laufzeit immer mehr zerfällt, doch allzu spekulativ; auch die Art, wie Honore Diskursfetzen (z.B. Sarkozy, Pädophilie in der katholischen Kirche) über seinen Film verteilt, ohne ihnen auch nur irgendein ernsthaftes Interesse entgegen zu bringen, irritiert. Ein Gespräch über die französische Rechte hat in diesem Film exakt denselben Stellenwert wie ein hipper Popsong auf der Tonspur. Das hat durchaus etwas Berechnendes.

Vieles an HOMME AU BAIN wirkt skizzenhaft, nicht wirklich ausformuliert. Und gerade da, wo er in eine etwas solidere Form gerinnt, zum Beispiel in einigen elektronisch vertonten Montagesequenzen, überzeugt der Film am wenigsten. Besser ist der Film, wenn er sich selbst ins Wort fällt, wenn er sich unterbricht und weiter, zum nächsten Bild hastet und die Welt, auf die er blickt, als eine unfertige stehen lässt, als eine Utopie, von der man spürt, dass sie zerfallen würde, wenn man sich zu sehr auf sie einließe, die aber als Utopie durchaus ihre Berechtigung hat