iffr 2023

2. März 2023

IFFR 2023 Acht Filme

Von Bert Rebhandl

Sri Asih

Sri Asih von Upi Avianto

© IFFR

 

On the Field of God in 1972-73 | Judit Elek | Ungarn 1974

Istenmezenje ist ein Dorf im Nordosten von Ungarn, nahe der Grenze zur Slowakei. Als Judit Elek dort hin kommt, um das Leben vor allem einiger junger Frauen zu dokumentieren, findet sie starke Traditionen vor. Fast alles dreht sich darum, die Töchter zum frühen Schulabschluss hin heiratsfähig zu machen, durch eine Ausstattung mit Möbeln und Bettwäsche. 16 ist das gesetzliche Heiratsalter, das in manchen Fällen fast schon für zu hoch gehalten wird. Die älteren Frauen tragen alle Kopftuch. Die meisten Männer arbeiten in einer Mine. Elek führt Interviews, oft ist sie mit der Kamera aber auch nahezu unsichtbar, einmal „belauscht“ sie geradezu ein Gespräch zwischen Mädchen, die in einer Erntepause in einem Feld liegen; oder sie filmt aus dem Hintergrund das Geturtel von Ilonka (Ilus) und Laci, die einer Sängerin zuhören, die von anderen Möglichkeiten als denen im Dorf singt: «my heart is a wandering gypsy». Die Beziehung der beiden wird nicht gutgeheißen, dabei macht Laci deutlich, dass er auf eine Ausstattung von Ilonka pfeifen würde, ein Nachthemd reicht. Dieser jungen Liebe stellt Elek die Halbwaise Marika gegenüber, die einen «Männerberuf» ausübt und studieren möchte. Darum geht es im Kern des Films: wie eine zeitlose Ordnung durch eine andere abgelöst wird, in der individuelle Ansprüche sich durchzusetzen beginnen. Bei Marika auch im Zeichen der Tragödie ihres Vaters, der sich wegen eines Streits im Dorf erhängt hat. Elek schließt mit einer Schulabschlussfeier, bei der ein Chor einen seltsamen Text vorträgt, der nebenbei Mädchen ihren Weg vorschreibt: «bride today, woman tomorrow».

 

Under the Hanging Tree | Perivi Katjavivi | Namibia 2023

Christina, eine Frau aus der Stadt, muss zu Ermittlungen in einer einsamen Gegend, in der zuerst gar nicht so klar ist, was eigentlich los ist. Einmal liegt ein Tierschädel vor dem Haus einer Deutschen namens Eva, die immer noch kolonialherrschaftlich lebt. Ein markanter Baum dient als Orientierungspunkt – hier hängt eines Tages Gustav, Evas Mann. Hier hingen einst Herero, die von den Deutschen auf diese Weise zum Zeichen ihrer Gewaltherrschaft gemacht wurden. In der lokalen Mythologie ist der Baum positiv besetzt (er verbindet Himmel und Hölle, heißt es einmal). Perivivi John Katjavivi erzählt langsam, stark auf Stimmungen, schräge Kadragen, tollen Sound setzen. Er ruft auch zahlreiche Genremotive auf, das ungleiche Ermittlerduo, die Selbstzweifel, ja fast Identitätskrise der Hauptfigur, zum Ende hin ein deutliches Schauermotiv, als sich Eva als eugenisch inspirierte «Hexe» erweist. Die Kolonialgeschichte Namibias und das nationale «Eigene» werden hier sehr interessant mit der offenkundigen Cinephilie des Regisseurs (im Q&A sprach er von Noir, Bresson und Slow Cinema) verbunden. Muss ich noch einmal konzentriert schauen.

 

Power | Mátyás Prikler | Slowakei 2023

Bei einer Treibjagd wird ein junger Mann erschossen. Ein heikler Fall, denn es waren hochrangige Politiker anwesend. Ein junger Ermittler, der zu Beginn bei einer Untersuchung erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat, wird in die Provinz entsandt, nicht so sehr, um den Fall aufzuklären, als nach einer akzeptablen Version zu suchen. Denn was tatsächlich vorgefallen ist, ist bald klar. Prikler aber will eben auf mehr hinaus: auf das Funktionieren der Macht in einem kleinen europäischen Staat. Er stellt also Figuren auf unterschiedlichen Ebenen (einen Spitzenpolitiker mit grüner Agenda, eine Lokaljournalistin, die Schwester des Opfers, den Vorgesetzten des Ermittlers, einen vierschrötigen Waldbesitzer) zueinander in Beziehung, in immer wieder auch ein wenig gesuchten Einstellungen, man sieht die Regiehand doch deutlich bei der Arbeit. Ein düsteres Bild von der Slowakei entsteht dabei auch in Resonanz zu den Dingen, die man über das Land aus der Zeitung weiß: eine fragile Zivilgesellschaft kämpft gegen einen tiefen Staat. Prikler zeigt diese «Tiefe» auch als regionale Schichtung von Stadt und Land.

 

Memories of a River | Judit Elek | Ungarn 1989

1882 im ungarischen Grenzgebiet zu Österreich. Die Familie von Dávid Herzskó lebt von der Schafzucht und von der Holzfällerei. Nach einigen etablierenden Szenen beginnt die Flussfahrt, Dávid mit zwei Begleitern auf einem Floß, zuerst geht alles normal, wenngleich das Unternehmen von Regeln begleitet wird, die Unheil vermeiden helfen sollen. Man rechnet also mit Gefahr. Bald finden sie eine Frauenleiche im Wasser, gehen an Land, lassen sie eine Weile liegen (während ihr Krähen die Augen aushacken), begraben sie dann, müssen sie aber exhumieren, nachdem ein lokaler Beamter auftaucht. Dieser hat sich Dávid gegenüber schon davor an einer Szene an einem Dorfbrunnen bei einem kurzen Landgang als Antisemit zu erkennen gegeben. Daheim waren jüdisches und christliches Leben noch halbwegs ungestört nebeneinander verlaufen, die Prologszene allerdings war schon ein Pogrom (auch an den Schafen). Die Flößerjuden werden mit dem Vorwurf konfrontiert, die Wasserleiche wäre eine junge Frau, die sie getötet haben sollen, um Blut für den Pessachteig zu bekommen (ein alter Topos des Judenhasses). Dávid gesteht unter Folter, er wird zum Verräter an seinem Volk. Der zweite Teil widmet sich dann dem Gerichtsverfahren, in dem die Mordanklage aufwändig unterfüttert wird, bis Dávid im Zeugenstand seine Aussage widerruft – unter dem Schutz eines Gerichtswesens, das hier positiv (habsburgisch?) konnotiert ist. Dafür spricht auch eine Synagogenszene, in der Elek ausdrücklich darauf Wert legt, dass für den Kaiser gebetet wird. Und erste Warnzeichen lässt ein Jude noch mit dem ambivalenten Satz von sich abstreifen: «sie müssen ja doch die Streichhölzer bei mir kaufen». Am Ende steht ein Auswanderungsanwerber nach Amerika, Passage von Fiume aus, doch Dávid will nicht gehen, es zieht ihn wieder auf den Fluss. Da kann man schon nicht mehr viel anders als an 1944 denken.

 

Sri Asih | Upi Avianto | Indonesien 2022

Die Geburt einer indonesischen (javanischen?) Superheldin. Eine romantische Szene vor einem ikonischen Vulkan endet mit dessen Ausbruch (CGI-Spektakel!), in der Folge kommt das Mädchen Alana vorzeitig zur Welt, und wächst dann als Waise auf. Als Teenager wird sie in ihre wahre Bestimmung initiiert: sie ist dazu ausersehen, in einem kosmischen Kampf gegen die Feuergöttin für das Gute einzustehen. Das Böse wird recht direkt mit Immobilienentwicklung und genereller mit gentrifizierender Moderne in eins gesetzt, verkörpert durch einen Tycoon, der die Politik in der Tasche hat. Die Leute hingegen, die in Shantytowns und uneindeutigen Besitzverhältnissen leben, dienen als billige Beute für ein metaphysisches Ritual, bei dem es 1000 Menschenopfer braucht. Da hat Alana aber schon ihre kleine Koalition geschmiedet, unter anderem mit einem Nerd aus dem Waisenhaus, und bald hat sie auch das passende Kostüm, um die Aufgaben einer Superheldengöttin wahrzunehmen. Grundlage ist ein Comic aus den 1950er Jahren, die Spezialeffekte sind vergleichsweise bescheiden, aber eindeutig satisfaktionsfähig, und wie ich lese, gibt es auch schon einen größeren Zusammenhang: das Bumilangit Cinematic Univerese (BCU), das der MGC (Marvel Global Dominance) regionale Mythologie entgegenschleudert.

 

Kira & El Gin | Marwan Hamed | Ägypten 2022

Eine post- und antikolonialer Blockbuster aus Ägypten, der die Geschichte des Freiheitskampfs ausgehend von einem Massaker im Jahr 1906 bis in die 1920er Jahre erzählt: Der Filmtitel bezieht sich auf die beiden männlichen Hauptfiguren, den Arzt Ahmed Kira, der eine Widerstandszelle leitet, und den anfänglichen Tunichtgut Abdel Qader alias El Gin, der erst begreifen muss, dass er sich es als „dog of the English“ zu gemütlich macht. Er muss auch erst seine Drogensucht loswerden (er liebt den „dust“, kann aber bald von sich behaupten: «the gin/djinn is clean»). Die Gruppe rund um die beiden Helden ist aber größer, und sorgfältig ausbalanciert: eine koptische Christin aus Oberägyptin ist wichtig, auch ein Jude, in jeder Hinsicht geht es darum, ein vorfundamentalistisches, ökumenisches Ägypten zu zeigen, das gegen die Briten kämpft. Der Gang der Ereignisse ist durch die historischen Fakten eingegrenzt, es läuft also nicht auf ein triumphales Ende hinaus, die Unabhängigkeit liegt nur am hinteren Horizont des Films. Davor setzen sich die Briten (verkörpert durch einen sadistischen Offizier, die Logiken der Plakativierung sind ähnlich wie in dem indischen RRR) noch einmal durch, und es gibt auch einen echt schockierenden negativen Moment kurz vor dem Ende, als nämlich die Koptin Dolat (Hind Sabri) von ihrem Bruder erschlagen wird, weil sie in der Stadt die Ehre der Familie verletzt hat. Die lange Reihe der Intrigen, Attentate und Hinterhalte endet schließlich in Istanbul in einem gründlichen Showdown. Gedreht wurde übrigens vor allem in Ungarn!

 

Le Spectre de Boko Haram | Cyrielle Raingou | Kamerun 2023

Im Nordkamerun steht das tägliche Leben unter dem Druck von jederzeit zu gewärtigenden Angriffen der Terrororganisation Boko Haram. Soldaten sollen für Sicherheit sorgen, ihre Aktivitäten, die in diesem Film zu sehen sind, leuchten nicht immer ganz ein (ist es wirklich nötig, jederzeit mit gefechtsbereitem Gewehr hinter Hausecken zu kauern?). Der Film erzählt von den Umständen am Beispiel von einigen Kindern, ein Mädchen, das als positives Beispiel gelten mag (erfolgreicher Schulbesuch), zwei Jungen, die für die vielen Probleme stehen, die es gibt (Eltern bei einem Anschlag verloren, Driften oder auch Verschlepptwerden über die Grenzen zu Nigeria). Der Film sucht eine Nähe zu den Kindern, die oft untereinander allein bei ihren Gesprächen gezeigt werden. Man bekommt einen guten Einblick in die lokalen Verhältnisse (die Schule, in der man mehr lernt als nur den Koran, betreiben die Christen auch gegen religiöse Skepsis der Muslime). Das Verhältnis zu den Streitkräften (der Film wirkt ziemlich embedded) und überhaupt der Antiterrorkampf bleibt aber unterbelichtet, ebenso die Rolle des Regimes, das in Kamerun herrscht. Mehr Politik hätte dem Film nicht geschadet. Die Jury vergab trotzdem den Tiger Award 2023 dafür.

 

Drawing Lots | Zaza Khalvashi | Georgien 2023

Ein Hinterhof in der georgischen Schwarzmeerstadt Batumi. Die Leute leben eng zusammen, schauen einander in die Wohnungen oder auf den Balkon, einer, ein alter Grantler, hat vier Kameras installiert und schaut auf einem Schirm zu. Die Bilder sind elegant, immer wieder auch ungewöhnlich komponiert, tiefenscharf, in einem hochauflösenden Schwarzweiß, das die Haut skulptural werden lässt. Die visuelle Qualität des Films ist auffällig. Fragmente von Geschichten werden erkennbar, einmal taucht ein Mann namens Gaga auf, der im Gefängnis war, und einen alten Raubüberfall anspricht, von dem vielleicht noch irgendwo jemand Beute versteckt. Der Teenager Zuriko verehrt eine schöne junge Frau, die aber schon doppelt so alt ist wie er, und einen brutalen Boyfriend hat. Eine Weile sieht es so aus, als hätte Zuriko sich ihretwegen das Leben genommen, so ernst ist die Sache aber nicht. Das Lotteriespiel des Lebens, auf das der Titel verweist, wird im Hof auch als Brettspiel gespielt. Zaza Khalvashi verwebt Einsamkeiten und Einzelschicksale, zugleich wird aber auch ein Gemeinschaftsgeist erkennbar, es gibt irgendwann eine Hochzeitstafel, am Schluss sitzen dann aber wieder alle sehr individuell als Publikum in einem Konzert. Schöner Film.