fid marseille 2023

13. August 2023

FID Marseille 2023 Neun Filme

Von Bert Rebhandl

"Tempiabo Pyharegua" (Night Work) von Christian Bagnat und Elvira Sanchez Poxon

Tempiabo Pyharegua (Night Work)

© FID Marseille

 

Monisme (Riar Rizaldi) IDN 2023

Vulkane müssen beobachtet werden. So ist das auch beim indonesischen Merapi auf Java, mit dem sich Wissenschaftler im Schichtdienst beschäftigen. Riar Rizaldi betreibt in Monisme auch Vulkanforschung. Für ihn ist das indigene und mythologische Wissen mit dem der exakten Naturwissenschaften gleichwertig, er inszeniert sogar Szenen, mit denen er die Geisterwelt sichtbar macht, die hinter oder unter dem Merapi existiert. Er widmet sich aber auch den Auseinandersetzungen, die in dieser Gegend geführt werden – brutale Handlanger schützen die Interessen von Bergbaufirmen, hinter denen letztlich – so heißt es – der (korrupte) Staat steht. Der Fülle der Themen entspricht die Vielfalt der künstlerischen Strategien des Films: Begriffe wie Dokument und Fiktion werden noch einmal anders problematisch, wenn man von unsichtbaren Wirklichkeiten ausgeht. Konkretes Bildmaterial von Ausbrüchen des Merapi ist ein Anker, eine investigative Videojournalistin hingegen scheitert eher. Die künstlerische Recherche von Rizaldi übergreift alles.

 

Background (Khaled Abdulwahed) D 2023

Zwei Stimmen aus dem Off, dazu verschiedene Typen von Bildern: Blicke auf Fassaden und Dachlandschaften, unspezifische Außen- und Landschaftsräume in Deutschland, private Fotos. Die krächzende, hustende Stimme eines alten Mannes, der Arabisch spricht, gehört dem Vater des Filmemachers. Er lebt in Syrien, vor 60 Jahren war er als Student in Deutschland, in der DDR. Was er damals erlebt hat, neue kulturelle Erfahrungen zum Beispiel mit Mozarts Entführung aus dem Serail oder Feste mit vielen anderen internationalen Studenten, wird von Fotografien begleitet, die nun der Sohn hat. Der ist auch zu hören, er lebt in Deutschland (die Berliner Firma Pong hat koproduziert), er möchte den Vater zu sich holen. Er filmt die digitalen Bildbearbeitungen, die er vornimmt, er versetzt den jungen Mann, der sein Vater damals war, in andere Kontexte (ein Bild von Dresden ist wichtig, auch in Merseburg war Saadallah Abdulwahed, und in Eisenhüttenstadt findet der Sohn die Schule von damals). Ein spröder, intimer Film, der den Raum zwischen Syrien und Deutschland weit öffnet, fast unüberwindlich zu machen scheint. Auch ein Abschied deutet sich an, die Wiederbegegnung muss der Film montieren.

 

Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin (Martha Mechow) D 2023

Eine junge Frau namens Flippa fährt nach Sardinien, weil sie von dort eine Nachricht von ihrer Schwester Furia bekommen hat, die sechs Jahre davor verschwunden war. In einem Mutter-Kind-Resort trifft sie auf eine Gruppe von Frauen und Kindern, die dort einen autonomen Raum haben (und auch eine Art Hexen-Leitbild, wird einmal angedeutet). Junge italienische Männer sitzen manchmal mit am Tisch, dann wird auch über die Natur der Frau diskutiert, in sanften Tönen. Den Film gab es davor als «Filmshow», er geht also aus einem Diskursereignis hervor, und muss immer noch viel Sprachmaterial tragen: aus dem Off verschiedene Stimmen, die Mutter von Flippa und Furia identifiziert sich anscheinend mit der Gottesmutter Maria (konkret auch mit einer Statue, die aus einer Kirche entführt wird, und der das Jesuskind amputiert wird); Mythologica (zum Beispiel über den Eros) werden literarisch verfremdet oder verarbeitet (gelungen, wie ich finde). Flippa muss für sich den «heterosexuellen Knoten» lösen, das geht zumindest einmal für den Moment auf Kosten einer denkbaren Beziehung zu einem jungen Mann namens Vicky. Stilistisch schillert der Film zwischen Urlaubsguerillakino, Theorie-Improv und verhuschten Gags. Werde ich mir sicher noch einmal genauer anschauen, gefiel mir sehr gut.

 

Nouveau Monde (Nicolas Klotz & Elisabeth Perceval) F 2023

Auf der Insel Ouessant in der Keltischen See vor Westfrankreich hat Jean Epstein den Film Finis Terrae gedreht. Klotz/Perceval besuchen zum Centenarium die Insel, ihre Landschaftsaufnahmen machen den Film im Wesentlichen aus. Dazu kommt Diskurs: Kinderstimmen unterhalten sich darüber, ob Metalle bluten können, ein Dialog, der implizit gegen Exkraktivismus geht. Grundsätzlicher sind Überlegungen über die Bilder (images), über deren Allgegenwart (mehr Bilder als Plastik in den Ozeanen), über Bilder im Krieg mit den Menschen, da ist eine Menge von dem Pathos drin, das im Französischen irgendwie leichter tolerabel scheint. Ein «Deserteur» durchstreift die Insel und deklamiert etwas auf Italienisch. Interessant ein Günther Anders «unterschobener» Experimentalfilm Hiroshima est partout (ich kannte das nur als Text), eine Montage ungefähr zur Hälfte. Nouveau Monde bewegt sich auf Spuren von Godard (die Tonspur) und Straub/Huillet, vor allem aber steht er in der Tradition der Revolutionspoetiken von Klotz/Perceval selbst.

 

Of Girls (Wendelien van Oldenborgh) NL 2023

Schiebetüren eröffnen «sehr flexible» Verbindungen zwischen Räumen. Dieser Hinweis in einem der ersten Sätze lässt sich wohl auch auf die Weise beziehen, wie Wendelien Van Oldenborgh (in einer Arbeit, die auch als Zwei-Kanal-Installation gedacht ist, in Auftrag gegeben vom Museum of Modern Art Tokio) zwischen zwei japanischen Schriftstellerinnen einen offenen Raum schafft. Yuriko Miyamoto und Fumiko Hayashi, beide 1951 gestorben, beide werden hier von Gruppen gelesen und diskutiert, während die Kamera durch entsprechende Räume gleitet (die Hayashi Fumiko Memorial Hall in Tokio, die Kanagawa Prefectural Library in Yokohama, ...). Themen werden angesprochen, gestreift, verbunden: lesbisches Begehren, die Nuancen des Übersetzens (im Japanischen haben die Frauen an manchen Stellen mehr agency, im Englischen gibt es Momente, in denen sie mehr victimized wirken), japanische Kolonialgeschichte (Fumiko Hayashi schrieb eine Geschichte: Borneo Diamonds, sie war als Teil der japanischen Kolonialherrschaft vor Ort, ihre Leserinnen suchen nach Indizien für ihre politische Haltung), «warme» Brüste (also solche, die schon Mutterschaft erlebt haben, Milch gegeben haben), Kommunismus in Japan (noch) nach dem Krieg. Wendelien van Oldenborgh wird einmal kurz erwähnt, als Niederländerin im Kontext mit Borneo. Die Lesekreise bestehen aus Vertreterinnen der queeren Szene, Kunst und Theorie und Historiographie werden angesprochen, Möglichkeiten zu Identifikationen. Das Prinzip des Films ist aber vor allem, dass zwischen den Bezugsfeldern (zwei Autorinnen, aber auch Japan/Westen, Japanisch/Englisch, Lesen/Forschen, ...) ein fragiles («flexibles») Gebilde entsteht, ein (filmischer) Raum eben, in dem Vieles (in Ansätzen) gleichzeitig präsent sein kann, ohne expliziert werden zu müssen.

 

Geology of Separation (Yosr Gasmi Mauro Mazzocchi) IT/F 2022

Migration und Flucht sind prominente Themen im Dokumentarfilm der vergangenen Jahre. Vieles hat man schon gesehen oder kann man wissen: wie Menschen auf Gespräche mit den Asylbehörden vorbereitet werden, wie und wo sie (nicht) arbeiten, wie die Angekommenen nicht ankommen sollen oder dürfen. Geology of Separation könnte man als einen kontemplativen Dokumentarfilm zum Thema sehen, am Beispiel zweier Männer, einen sieht man einmal eine geschlagene Viertelstunde einfach durch Paris gehen, die Bilder wie der ganze Film in Schwarzweiß, ein Mann, der da ist und wahrgenommen wird, als wäre er es nicht. Diese im engeren Sinn dokumentarischen Szenen werden ergänzt oder kontextualisiert durch künstlerische Überarbeitungen, in denen das Motiv von Pangäa (der Urkontinent vor der geologischen Drift, die zu den heutigen Weltteilen führte) mit der Landschaft der Alpen (die natürliche Barriere hinter dem Mittelmeer) verschränkt wird. Diese als elegische Zwischenspiele ausgewiesenen Teile laden den Film mit einem Weltgemeinschaftspathos auf. Theorie von Elsa Dorlin und Jean-Christophe Goddard fügen eine weitere interpretative (und für den Film auch methodologische) Ebene hinzu: die Regisseure sprechen insgesamt von einer «geologischen» Montage.

 

La Force Diagonale (Annik Leroy Julie Morel) BEL 2023

Zweieinhalb Stunden, die (für meine Begriffe doch ein wenig zu lose) auf freier Assoziation beruhen: es geht um vier Menschen, die in unterschiedlicher Weise mit Schwierigkeiten oder Traumata umgegangen sind (eine Straßenbahnfahrerin aus Sarajewo zum Beispiel). Und es geht um Hannah Arendt, die auf ihrem Weg in ihr Exil in den USA Erfahrungen machte, die heute Menschen machen, die nach Europa zu fliehen versuchen. Vielleicht würde eine genauere zweite Sichtung mehr von dem deutlich machen, was mir beim ersten Mal doch alles eher nicht klar wurde. Erstens: warum genau Hannah Arendt, neben dem natürlich unabweisbaren Umstand, dass sie zu vielen wichtigen Themen der Gegenwart etwas gesagt hat? Hier wird das zusätzlich unklar dadurch, dass nicht wirklich klar wird, was das Thema des (schwarzweißen, schön gefilmten) Films ist, außer eben die großen Themen der Gegenwart. Eine Performerin / Tänzerin verkörpert schließlich in der zweiten Hälfte auch noch Hannah Arendt, die schließlich vor allem zu einer Botschafterin einer Parole wird: nicht mitmachen.

 

Tembiapo Pyharegua (Night Work) (Christian Bagnat Elvira Sanchez Poxon) ESP 2022

What remains of us is pieced together during the night, heißt es in einem Insert zu Beginn, dazu sind Fotografien von Yokei Yoshiyuki zu sehen: Schwarzweiße nächtliche Szenen mit hervorgehobenen Figuren, wie gestreift von Licht, Menschen in zärtlichen Umarmungen an Baumstämmen, vielleicht auch Sexarbeit, Cruisen. Die Nacht hat nur einen Gott, heißt es weiter. Es folgt ein Gemälde mit den schlafenden Jüngern im Garten Gethsemane, wo Jesus vor seinem letzten Tag eine Krise hatte. Es folgt das Bild einen Papageis, dazu die Information, dass Humboldt aus Südamerika einen mitbrachte, der die Sprache eines ausgestorbenen Stammes sprach. Dieses Motiv (exotische Vögel als Trophäe für spanische Herrscher wie Karl V) ist eines von vielen weiteren, das danach auf die paraguayanische Community in der spanischen Stadt Cuenca bezogen wird. 2015 bis 2022 wurde der Film dort gedreht, auf Grundlage eines längeren gemeinsamen Prozesses, der dazu geführt hat, dass manche Szenen Aspekte von Inszenierung haben. Andere sind deutlich dokumentarisch, allerdings durch Ton und Montage verfremdet, wie die lange Feier zum 15. Geburtstag des Mädchens Divina. Ein Mann erzählt von der Sehnsucht nach der Mutter, und von der Jungfrau von Caacupé, die er auch unbedingt wiedersehen möchte. Der Film ist wohl selbst die Nachtarbeit (ich musste natürlich auch an Pedro Costa denken), in der ein Bild entsteht, das eine «geheime» Community (die auch Guarani spricht, und erst in zweiter Linie Spanisch) halb dokumentarisch, halb phantasmatisch, halb elegisch Gestalt annehmen lässt.

 

De facto (Selma Doborac) Österreich 2023

Zwei Männer, zwei Schauspieler sprechen über Gräueltaten in Zusammenhängen, die historisch unspezifisch bleiben, es geht um eine verallgemeinerte Täterperspektive, Ex-Jugoslawien, Nationalsozialismus, vielleicht sogar Islamischer Staat könnte man dahinter erkennen. Es geht um Extremsituationen, in denen Menschen Gewalt über andere Menschen haben, und darum, was Menschen in solchen Situationen machen und was diese Situationen auch mit ihnen machen («vollkommene Zügellosigkeit» ist einer der Effekte). Die beiden Männer, die beiden Berichterstatter, nehmen beide eine distanzierte Position zu den «Orgien» der Grausamkeit ein, der eine, verkörpert von Christoph Bach, eher aus einer Art hygienischen Distanz, der andere, Cornelius Obonya, deutlich aus einer elitären Position, er hat auch eine ausführliche Passage, in der er Vernunftargumente bemüht. Der Film ist lang, die beiden Darsteller wenden sich an eine Person hinter der Kamera, man kann ihre Auftritte lesen wie Zeugenauftritte, sie tragen aber einen geschriebenen Text vor, in dem Selma Doborac zusammengeführt hat, was sie zum Thema recherchiert hat. Nach rund zwei Stunden legt sie den Drehort offen: einen klassizistischen Pavillon an einem Waldrand, einen Ort der Ruhe und der Zivilisation, es wird Nachmittag, es wird Abend. Das Bild bricht sie allerdings mit einer harten Nummer auf der Tonspur am Ende. Ich bin mir nicht sicher, was mit der Verallgemeinerung oder mit der Anthropologisierung (Andrisierung?) der Sprecherposition gewonnen wird – oder anders gesagt: worauf will De facto hinaus, das nicht eben wiederum (wie in Entstellung auch bei ihren beiden Sprechern) eine Art Grusel über das Männer- und Menschengeschlecht in einer problematischen (unhistorischen) Generalität wäre?