dok leipzig 2019

30. Oktober 2019

Ohnmachtspolitik Ein Leipziger Lehrstück

Von Matthias Dell

Das Forum (Marcus Vetter) © Pierre Johne (courtesy of DOK Leipzig)

 

Am Montag wurde das 62. Leipziger Dokumentarfilmfestival eröffnet. Gezeigt wurde Das Forum, Marcus Vetters Versuch einer Introspektion des Davoser Weltwirtschaftsforums. Ein geeigneter Eröffnungsfilm, weil er süffig und zugleich globalbedeutsam daherkommt (Der erste Film in 50 Jahren der dort drehen durfte!), und tatsächlich auch ein paar Einblicke liefert: wie Macht miteinander redet; wie Aung San Suu Kyi die informelle Weltaußenpolitik, die WEF-Gründer Klaus Schwab gern betreiben würde, ablehnt mit dem Hinweis auf die lange Anreise und das Problem mit Klimaanlagen in Hotels; wie Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro auf einem Get-Together hinter den Kulissen sich als Sozialdesaster entpuppt, um das der sich darum ereignende Small-Talk einen Bogen macht. Oder, wenn er (wie Al Gore und die Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan) Bolsonaro adressiert in Sachen Amazonas-Bewahrung, vor eine Wand aus Unverständlichkeit und Ignoranz läuft.

Weil Das Forum dann aber doch nicht wirklich bei den Hinterzimmergesprächen dabei sein konnte, bleibt der Film dramaturgisch unentschieden – ist Klaus-Schwab-Portrait, protokolliert das scheinbare Nebenher des Procederes (wer welches Geschenk bekommt, den höher angesehenen Kristall oder die minderwertigere Kuhglocke; was man U2-Bono schreibt und auf welchem Briefpapier Angela Merkel angesprochen wird) und zeigt TV-Bilder und virale Hits (Rutger Bregmans «Avoiding Taxes»-Rant).

Bemerkenswerter am Montagabend war allemal, dass die scheidende  Festivalleiterin Leena Pasanen bereits ihren Nachfolger begrüßte: Christoph Terhechte soll ab 1. Januar 2020 der neue Leiter von DokLeipzig werden. Dabei entschied erst am Mittwochnachmittag die Leipziger Ratsversammlung über die Beschlussfassung, die der Aufsichtsrat des Dokumentarfilmfestivals ihr vorgelegt hatte.

Man kann Pasanens «very warm Welcome» lediglich ‹unglücklich› finden – in Zeiten, in denen rechtsradikale Parteien sich aus Realitätsfetzen Weltbilder zusammenzimmern, in denen es verschwörungstheoretisch gegen das Untereinander der Etablierten geht, ist diese Form von humoriger Selbstversicherung problematisch. Dafür kann Terhechte nichts, dessen Fame sich, auch insofern war der Eröffnungsfilm gut gewählt, auf die Leitung des Berlinale-Forums (2001-2018) gründet.

So ist das launige «Hallo» Indiz für ein tiefer liegendes Problem. Denn mit Terhechte wird nach Claas Danielsen (2004-2014) und Pasanen (2015-2019) erneut keine Ostdeutsche Leiterin des einzigen Filmfestivals von Belang, das nicht in Westdeutschland oder Berlin angesiedelt ist. Auch hier könnte man, 30 Jahre nach dem Mauerfall, weniger picky auf Herkünfte gucken, wenn das Filmfest München, die Hofer Filmtage oder der Max-Ophüls-Preis ganz selbstverständlich von Ostdeutschen geführt würden. 

Vielmehr verlängert so die Wahl des neuen Leiters von DokLeipzig aber eine strukturelle Unwucht im Vereinigungsprozess in die Gegenwart. Das zeigt sich schon in der Entscheidungsfindung. Die Pasanen-Nachfolge war ausgeschrieben, es gab 25 Bewerbungen, die von der Auswahlkommission gemeinsam mit einer städtischen Beratungsgesellschaft, die fürs Bewerbermanagement verantwortlich war, gesichtet wurden. Sechs Kandidaten wurden zu Vorstellungsgesprächen eingeladen.

Die Auswahlkommission bestand einerseits aus den sechs Ratsversammlungsmitgliedern, die den Aufsichtsrat von DokLeipzig bilden (je ein Abgeordneter pro Fraktion von SPD, CDU, Linkspartei, Grüne, AfD und den Freibeutern, einem Zusammenschluss aus FDP und Piraten) sowie der Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke (Linke) und einem Beirat mit nur beratender Funktion.

Dieses Gremium wiederum setzte sich zusammen aus Heino Deckert (Filmproduzent), Claas Danielsen (Mitteldeutsche Medienförderung), Daniel Waser (Ex-Zürcher Filmstiftung) und Donata von Perfall (Direktorin Documentary Campus). Oder anders gesagt: aus drei Westdeutschem und einem Schweizer. Natürlich können auch Westdeutsche (Männer) und ein Schweizer kluge Ratschläge für die Zukunft des traditionsreichen Leipziger Filmfestivals geben. Aber wie monokulturell diese Runde gecastet ist, zeigt sich schon an dem Umstand, dass mit Danielsen, der seinerzeit den Documentary Campus verließ, um bei DokLeipzig Chef zu werden, und Perfall, die damals dort schon gearbeitet hat, wo sie heute amtiert, zwei aus ähnlichem Holz Geschnitzte mitmischen durften – Münchner Vernetzungen, die nun bei kulturpolitischen Entscheidungen in der sogenannten Heldenstadt gefragt sind. Anders gesagt: Hätte es um der schönen Vielfalt Willen nicht eine von beiden getan? Und hätte es dem Gremium nicht gut zu Gesicht gestanden, wenigstens eine Person dabei zu haben, die noch aus dem Diesseits der Mauer weiß, was Leipzig vor 1990 bedeutet hat? Und die Dokumentarfilm nicht nur wirtschaftlich, sondern als Kunst begreift?

Es dauert mich ja auch, im Jahr 2019 die Heulboje solcher Zurücksetzungen zu geben (Auch weil von anderen, noch karger repräsentierten Formen des Deutschseins, schon gar nicht die Rede ist). Aber mindestens genauso langweilig ist es, dass im nächsten Jahr aus Anlass von 30 Jahren Deutscher Einheit oder irgendeiner Wahl medial und politisch wieder total besorgt gefragt werden wird, was denn schief läuft zwischen Ost und West, dass Teile von Ost glauben, den Rattenfängern von der AfD hinterherrennen zu müssen (die in ihrer Führungsstruktur das ganze Einheitsdilemma absurderweise selbst doch nur versinnbildlicht: alle ausm Westen), weil man selbst nicht vorkommt.

Die Leitung von DokLeipzig wäre in diesem Sinne eine Form von Teilhabe. Ein prominenter Ort, an dem eine differente Lebenserfahrung aus der Einheit etwas anderes machen könnte als die Anpassung an westliche Standards. Denn wenn es womöglich heißt, es habe keinen geeigneten Bewerber aus dem Osten gegeben, dann ist ein Problem, wie sich durch die Entscheidung für Terhechte zeigt, dass sich eine solche Eignung schlecht entwickeln kann, wenn sie keinen Platz zur Entfaltung bekommt, weil der vom westdeutschem Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht besetzt ist (das «Qualitäts»-Argument, das in jeder Quotierungsdebatte keinen Bock auf Diversität hat).

Ein anderes Problem ist, dass Eignung durch eine Wahl, wie sie das monokulturelle Beratergremium abbildet, immer nur westdeutsch definiert ist. Woher sollen Leute, die erfolgreich Karriere in den für sie üblichen Strukturen gemacht haben, die Fantasie nehmen, dass das auch anders gehen könnte? Gerade hier wird offensichtlich, dass es natürlich nicht um einzelnen Personen geht, sondern um all das, was unhinterfragt am Blick auf die Welt und den sogenannten Professionalismus eingeschleppt wird in solche Entscheidungen: Herkunft, Sozialisation, Bubbleismus, eindimensionale Lebenserfahrungen. Dabei wären die Jahre mit Pasanen, die intern und in der Kommunikation nach außen nicht die beste Figur gemacht hat, geeignet gewesen, um die Grenzen von «Qualität», Professionalismus und Vernetzung westlicher Prägung zu erkennen.

Das eigentlich Fatale bei der Entscheidung für den neuen DokLeipzig-Leiter aber besteht in der Tatsache, dass mit Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke eine Leipzigerin Herrin des Verfahrens war, die dazu noch in der Linkspartei ist. Wenn es schon hier an Bewusstsein für die Wichtigkeit von Repräsentation mangelt, wo soll man sie dann finden? Statt in den Spielräumen, die eine Kulturbürgermeisterin hat, nach einer originellen ostdeutschen Besetzung zu suchen, kapituliert Jennicke mit der Entscheidung vor der Dominanz des Bestehenden.

Als es um die Berlinale-Leitung ging, stand die Beauftragte für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters (CDU) vor einer vergleichbaren politischen Aufgabe. Grütters designte sich eine kleine Auswahlkommission zurecht (sie selbst, Björn Böhning von der SPD, damals noch im Berliner Senat, und Mariette Rissenbeek von German Films). Am Ende gelang Grütters das Unding, der Presse und Öffentlichkeit unterzujubeln, mit Rissenbeek jemanden aus der Kommission in die Berlinale-Spitze zu schicken, die eigentlich nach geeigneten Kandidatinnen suchen sollte. Ein paar Tage vor dem Termin, an dem die Entscheidung für Rissenbeek als Geschäftsführerin verkündet wurde, war durch eine geschickte Indiskretion bereits durchgedrungen, dass Carlo Chatrian neuer künstlerischer Leiter werden würde – ein Festivalintendant und Cineast, auf den alle große Stücke halten, weshalb die Presse schon einmal freudetrunken kommentieren durfte. Und entsprechend die Rissenbeek-Personalie allenfalls in Nebensätzen als etwas merkwürdig markierte, weil man sich die Chatrian-Begeisterung selbst nicht schlecht reden wollte.

Man kann und muss auf einer Ebene an Grütters' Vorgehen viel kritisieren. Auf der anderen Ebene aber, und zwar auf der, auf der die Musik spielt, ist der Rissenbeek-Stunt ein Beispiel für abgezockte und geschickte Machtpolitik. Einen Bruchteil davon hätte man Skadi Jennicke gewünscht. Aber so geht das «very warm Welcome» für die nächsten Jahre eben Christoph Terhechte.