docaviv 2022

7. Juni 2022

DocAviv 2022 Geschichts- und Familienkino im Marc Rich Israeli Cinema Center

Von Monika Dommann

Anlässlich einer Gastprofessur am Cohn Institut der Tel Aviv University besuchte ich erstmals das International Documentary Film Festival DocAviv. Ich stieß bei meinem Besuch auf einen alten Bekannten: Der Veranstaltungsort ist nämlich das Marc Rich Israeli Cinema Center, Cinematheque Tel Aviv, benannt nach dem Erdölhändler Marc Rich, der 1974 in Zug (jener Stadt, in der Nähe des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin) seine Erdöl- und Rohstofffirma gegründet hatte, die u.a. durch das Umgehen von Boykottmaßnahmen gegen Iran und Südafrika berühmt und berüchtigt wurde. Dass er dann das iranische Öl u.a. an Israel verkauft hat, wurde mir erst jetzt klar.

Ich habe zehn Filme angeschaut und mich vor allem auf den israelischen Wettbewerb konzentriert. Als Historikerin saß ich dabei immer mit vier Augen in der Cinematheque. Jenen der Historikerin, für die das Kino auch ein Ort ist, um (gerade weil ich kein Hebräisch verstehe) mit Quellenmaterial zur Zeitgeschichte Israels in Berührung zu kommen. Und jenen der Cineastin, die in den vier angenehm gekühlten Kinosälen in Tel Aviv den aktuellen israelischen Dokumentarfilm kennenlernt. Die Filme wurden alle mit englischen Untertiteln versehen. Das Q&A war dann ausschliesslich in Hebräisch. Manchmal blieb ich einfach sitzen. Ich sah auf der Bühne (gerade auch im Vergleich zu entsprechenden Sektionen in Locarno, Berlin oder Nyon) viele Emotionen, Umarmungen und Tränen. Auf der Leinwand standen die Geschichte Israels (insbesondere jene seit der Unabhängigkeitserklärung von 1948) und Familiengeschichten im Zentrum. Meine Notizen zu meiner DocAviv 2022-Auswahl sind in chronologischer Reihenfolge geordnet.

 

Tantura von Alon Schwarz (Israel 2022)

Tantura rollt nochmals die juristischen und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Masterarbeitet vonTeddy Katz in den 1990er Jahren auf, der (hauptsächlich auf Basis von Oral History Interviews) argumentiert hatte, dass es im arabischen Dorf Tantura 1948 ein durch die Alexandroni Brigade verübtes Massaker an Arabern gegeben hätte. Er widerruft später in einem Gerichtsverfahren seine Aussagen, nur um in einem neuen Gerichtsverfahren zu versuchen, den Rückzug seiner Aussagen erneut zu widerrufen. Vergeblich. Im Film bestätigen einige alte Veteranen das Massacker vor der Kamera, während es andere verneinen. Alon Schwarz bringt neben ehemaligen Mitgliedern der Brigaden und Kindern der ehemaligen arabischen Bewohner:innen von Tantura auch die an den historischen Debatten beteiligten Historiker vor die Kamera. Teddy Katz war in den 1990er Jahren von der Universität Haifa die Wissenschaftlichkeit seiner MA-Arbeit abgesprochen worden.

An der Premiere von Tantura in der Cinematheque wurde der hochbetagte Katz in seinem Rollstuhl auf die Bühne gehoben, mit Blumen beschenkt und vom Publikum gefeiert. Offen bleibt, wie die israelische Gesellschaft ausserhalb der Cinematheque mit der Geschichte ihrer Kriege im Zusammenhang mit der Gründung des Staats Israel 1948 künftig umgehen wird. Ganz zum Schluss des Films deutet eine Bewohnerin einer nahegelegenen jüdischen Stadt, die als junge Frau in die Umgebung von Tantura gezogen war, einen möglichen Weg zur Anerkennung der eigenen Geschichte im Unabhängigkeitskrieg an – jenseits von verklärenden Mythen. Sie sehe das anders als ihre beiden Vorredner:innen: Sie sei kürzlich in Warschau gewesen und habe all die Gedenksteine gesehen, welche in Polen zum Gedenken an die ermordeten Jüd:innen errichtet worden seien. Wenn die israelische Armee in der ehemals arabischen Stadt Gräueltaten verübt hat, dann solle sich Israel doch dazu bekennen und ein Monument errichten. Der Film wurde mit dem Research Award ausgezeichnet.

 

 

© DocAviv

The Camera of Doctor Morris von Itamar Alcalay, Meital Zvieli  (Israel 2022)

Ein Vater filmt seine Familie – und versteckt sich dabei hinter der Kamera. The Camera of Doctor Morris, der den Hauptpreis für den besten israelischen Film gewonnen hat, basiert auf Homemovie-Footage des britisches Arztes Reginald Morris, der zufällig auf einer Reise mit dem Camper zusammen mit seiner Frau Ende der 1950er Jahre in Eilat gestrandet war, ein Spital aufbaute und seine Familie filmte. Die Nachfahren des Arztes stießen nach dem Tod des Arztes auf die umfangreiche filmische Hinterlassenschaft ihres Vaters und fanden in Itamar Alcalay und Meital Zvieli zwei Filmschaffende, die das Material mit dem Blick von außen hervorragend montierten, unterlegt durch Tonaufnahmen von Interviews mit den drei Kindern der Morris Familie im Voiceover.

The Camera of Doctor Morris ist eine berührende Familiengeschichte aus der Pionierzeit Eilats. Der Film gibt Einblicke in das britisch-jüdische Upper-Class-Leben zwischen der Wüste und dem Roten Meer, mit vielen abenteuerlichen Ausfluchten im Camper und Tauschbeziehungen mit Beduinen, welche die Familie um viele Tiere erweiterte. Ein regelrechter Zoo war da angewachsen im Garten der Morris’, mit den Tieren, die ihm die Beduinen im Sinai im Tausch gegen ärztliche Versorgung nach 1967 übergeben haben. Irgendwie auch ein britisches Empire Leben in Israel, das die Morris’ nach dem Ende des British Empire, mit grünem Rasen, Rosengarten und Partys mit Pop Music führten. Konsequent dann auch der Schluss, den Itamar Alcalay und Meital Zvieli gesetzt haben. Der Sohn filmt erstmals den betagten Vater kurz vor dessen Tod, der mit Sauerstoff versorgt in die Kamera schaut und verkündet: The Show ist over!

 

 

1341 Frames of Love and War von Ran Tal (Israel 2022)

Ran Tal sprach während eineinhalb Jahren mit dem berühmten israelischen Presse-, Militär- und Kriegsphotographen Micha Bar-Am und seiner Frau Orna Bar-Am. Orna Bar-Am hat sich neben ihrer Tätigkeit als Mutter, Hausfrau und Künstlerin auch zeitlebens um das Negativarchiv ihres Mannes gekümmert – und ist auch unüberhörbar die Gedächtnisinstanz von Micha Bar-Am in den Interviews. Auf der Leinwand sehen wir 1341 Fotos aus dem Archiv von Micha Bar-Am. 1341 Frames of Love and War ist ein hervorragendes Dokument der Zeitgeschichte Israels, vor allem weil Tal mit dem Paar ausführlich über einige Bilder spricht, die in die Weltgeschichte Israels eingegangen sind. Zum Beispiel über das Foto eines Soldaten an der Klagemauer währen des Sechstagekrieges, das die beiden nicht mehr ertragen. Den lässig über den Hals gehängten Patronengurt sehen sie heute als Symbol für die Verbindung von Religion und Macht.  Es kommt auch zur Sprache, dass Micha Bar-Am nur einen Teil seines Archives besitzt. Umfangreiche Bestände werden von der israelischen Armee unter Verschluss gehalten.

Ran Tal gelingt ein filmisches Porträt über ein Leben, welches das Projekt Israel photographisch begleitet hat, vom hoffnungsvollen Leben im Kibbuz bis zu Sabra und Schattila. Heute könnte Micha Bar-Am die von der Weltpresse begehrten Bilder sowieso nicht mehr schießen, erläutert seine Frau Orna Bar-Am. Es seien die palästinensischen Fotograf:innen, die nun näher dran seien. 1341 Frames of Love and War ist mit dem Preis für die beste Regie, dem Preis für den besten Schnitt und auch dem Preis der Kadar Foundation ausgezeichnet worden.

 

 

The Devil’s Confessions: The Lost Eichmann Tapes von Kobi Sitt und Yariv Mozer, (Israel, USA 2022)

Der vielleicht bislang teuerste israelische Dokumentarfilm (eine israelisch-amerikanische Dokumentation mit einem Budget von 2.34 Millionen Dollars) dreht sich um die lange verschollenen Tonbandaufnahmen von Gesprächen, die der Nationalsozialist Willem Sassen (ja – der Vater von Saskia Sassen, die auch im Film zu Wort kommt) nach dem Krieg mit Adolf Eichmann in deren Versteck in Argentinien geführt hatte. In den Gesprächen gibt er auch mit seinem Mitwissen an der Deportation und Ermordung der europäischen Juden an. Auf der Tonspur hört man die Stimmen von Eichmann und Sassen, im Bild sieht man die mit Schauspielern in Farbe nachgestellten Interviews. Ansonsten haben Kobi Sitt und Yariv Mozer so ziemlich alle Historiker:innen aufgeboten, die zum Eichmannprozess geforscht haben und noch verfügbar waren. Die zentrale Aussage des Filmes, der ab 7. Juni 2022 auch im öffentlichen Sender Kan’s Channel 11 in erweiterter Fassung als Dreiteiler gesendet werden wird, ist eine Kritik am Narrativ der Banalität des Bösen, aber vielleicht noch viel mehr auch an der Regierung von David Ben-Gurion, die kein Interesse daran gehabt habe, dass Gideon Hausner (der Chefankläger im Eichmannprozess) die Tonbänder verwendete. Ben-Gurion habe wegen Absprachen mit der Adenauer Regierung und Rücksichtsnahmen auf das Nachkriegsdeutschland (u.a. die Affäre um die NS Vergangenheit von Hans Globke) und wegen der israelischen Affäre um die mutmaßliche Beteiligung des israelischen Geheimdienstes Shit Ben bei der Ermordung von Rudolf Israel Kastner die Verwendung der Tonbänder verhindert, so zumindest insinuiert der Film. Insgesamt ein Blockbuster, der das Geld nicht wert ist. Als historisches und medienhistorisches Anschauungsmaterial trotzdem sehenswert.

 

 

© DocAviv

H2: the Ocupation Lab von Idit Avrhami und Noam Sheizaf (Israel, Canada 2022)

Der Film erzählt die Geschichte des äußerst gewaltsamen Konfliktes in Hebron, der sich um das Grab der Patriarchen seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hat, mit spannendem Footage und Interviews mit vielen Zeitzeugen (u.a. dem Befehlshaber der israelischen Armee und Mitglieder der NGO Breaking the Silence). Die Besetzung einer religiösen Kultstätte des Judentums, Christentums und des Islams 1967 und die anschließende jüdische Besiedlung führten zur Schaffung der Zone H2, einer jüdischen Enklave im Palästinensergebiet. Idit Avrhami und Noam Sheizaf legen dar, wie H2 im Kleinen den Israelisch-Palästinensischen Konflikt spiegelt und auch als Testlabor für Methoden der Besetzung (ethnische Säuberung und Vertreibung) dient. Das ist der härteste Film, den ich am DocAviv 2022 gesehen habe. Es lässt sich nach diesem Film nicht mehr so gut vergessen, dass Tel Aviv bloß 70 Kilometer von Hebron entfernt ist. Das Medium Film wird in H2: the Ocupation Lab als Beweismittel eingesetzt. Ein Akt des Widerstands, zu dem auch Palästinenser:innen greifen, etwa die Frau des palästinensischen Hochzeitsfotografen, die angefangen hat, die nächtlichen Operationen der israelischen Streitkräfte in ihrem Hauses zu filmen und auf Social Media zu teilen. Doch auch die Gegenseite hat aufgerüstet. Zum Schluss zeigen die beiden Regisseur:innen, wie palästinensische Buben lachend in die Handykameras der Soldaten blicken. Die Soldat:innen erstellen Aufnahmen für die neue Gesichtserkennungssoftware, die von den israelischen Streitkräften verwendet wird.

 

 

Children of Peace von Maayan Schwartz (Israel 2022)

Der Erstling von Maayan Schwartz, der selbst in Neve Shalom aufgewachsen ist, erzählt die Geschichte des 1970 gegründeten Friedensdorfes, das zwischen Tel Aviv und Jerusalem gelegen ist. Im Zentrum steht die Primarschule, wo bis heute arabische und jüdische Kinder gemeinsam von arabischen und jüdischen Lehrer:innen und Kindergärtner:innen unterrichtet werden. Der Film zeichnet keinen Friedenskitsch, dafür hatten die vielen Medienberichte, welche das Dorf international begleitet hatten (samt hohem Besuch von Hillary Clinton etc.) schon genügend gesorgt. Die permanente mediale Begleitung hat bei ehemaligen Schüler:innen auch dazu geführt, dass sie auf Distanz zu Neve Shalom gingen.

Children of Peace besteht aus Footage (privates Material und Medienberichte) und Interviews mit ehemaligen Schüler:innen, welche auf die Widersprüche und die Konflikte des einmaligen Friedensprojektes eingehen. Es handelt sich um einen persönlichen Film, auch über die Wiederannäherung und die Rückkehr des Regisseurs nach Neve Shalom zusammen mit seinem kleinen Sohn und seiner Frau – nach den gewaltsamen Zusammenstößen in jüdisch-arabischen Städten wie Jaffa, Haifa und Akko im Frühling 2021, wie der Film zum Schluss andeutet. Die vielleicht eindrücklichste Szene im Film ist während dem Memorial Day gedreht. Während die Sirenen ertönen und die israelischen Schüler:innen wohl draußen stillstehen, erklärt die arabische Lehrerin den arabischen Schüler:innen mittels eines 10 Shekel Stücks die israelisch-arabische Tragödie. Die arabische Nakba (Katastrophe) sei die Rückseite des israelischen Memorial Days.

 

 

The Artist’s Daughter, Oil on Canvas von Margarita Linton und Yaniv Linton (Israel 2022)

The Artist’s Daughter, Oil on Canvas wurde am letzten Tag nochmals im Tel Aviv Museum of Art gezeigt.  Dort passte er perfekt hin. Es handelt sich um den formal sehr geglückten Versuch einer filmischen Annährung von Margarita Linton an ihren aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel ausgewanderten berühmten Künstler-Vater. Der Film unterläuft die Genre-Erwartungen der Zuschauer:innen und dokumentiert mit den filmischen Mitteln des Reenactments, der Fiktion, der Dokumentation und des Interviews, die unmöglichen Versuche einer Annäherung an einen Abwesenden. Und er ist auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wie sich Künstler:innen und Kunst greifen lassen. The Artist’s Daughter, Oil on Canvas wurde mit dem Preis für den besten Debut Film ausgezeichnet.

 

Eine Auswahl an Filmen wird bis Ende Juni 2022 noch auf der Webseite von DocAviv gestreamt