filmkritik

31. Dezember 2018

Realitätspartikel Die Zeitschrift Filmkritik vor 50 Jahren (3): Heft 12 1968

Von Bert Rebhandl

 

Das letzte Heft der Filmkritik aus dem Jahr 1968 steht im Zeichen des Jungen Deutschen Films. Schon im Magazin werden zwei Kurzfilme von Theodor Kotulla vorgestellt: Panek und Vor dem Feind. Klaus Hellwig (KH) hat sie sich angesehen, weil Kotullas erster Spielfilm Bis zum Happy End «bei den Mitarbeitern dieser Zeitschrift als umstritten gilt». Theodor Kotulla (ThK) wird vorn bei den Ratschlägen auch als einer dieser Mitarbeiter geführt, taucht aber mit keiner Bewertung auf.

Panek «könnte man als Kotullas Kurzfilm über sich selbst bezeichnen», schreibt Hellwig. Ich kann Panek leider nirgends finden.

Im Zentrum des Hefts steht ein großer Text von Enno Patalas unter dem Titel Die toten Augen. Er behandelt Filme von Alexander Kluge (Abschied von gestern im Vergleich mit Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos), von Hans Rolf Strobel und Heinz Tichawsky (Eine Ehe), und den schon genannten von Kotulla (Bis zum Happy End).

«In mir steckt ein Stück von diesen Filmen: weil sie das sind, was wir vor sieben oder zehn Jahren verlangt haben.»

Allerdings findet nur Abschied von gestern Zustimmung bei Patalas. Der Schlüsselbegriff für seine Kritik der «Filme unserer linken Rationalisten» ist «sinnliche Erfahrung». Rationalismus unterstellt er den genannten Filmemachern, weil sie von Vernunft und Sprache ausgehen. Ein bildhafter Vorwurf ist auf den Juristen Kluge gemünzt: «Die Kamera schleppt Realitätspartikel herbei wie Beweismittel zu einem Prozeß.» Vernunft ist ein «männliches Privileg», vor allem bei Strobel und Tichawskys Ehegeschichte sieht Patalas «eine gute Portion Misogynie».

Le bonheur von Agnès Varda dient als Gegenbeispiel: «Sie insistierte nicht, wie Stempel, Ripkens und Kotulla, auf der Scheinhaftigkeit der Reklamewelt – als stünde der Welt der Vermittlungen eine Welt der wahren Menschennatur entgegen! –, sondern machte dem Zuschauer bewußt, daß wir Vermittlungen als unser eigenes wahrnehmen und darin Hoffnungen, Trost, ja Glück empfinden.»

Patalas versucht, die Ideologiekritik der besprochenen Filme über eine bloße Veranschaulichung von Begriffenem (Begrifflichem) hinauszuführen – es gibt hier deutliche Analogien zu den Vorwürfen gegen Ingmar Bergman, die Frieda Grafe im Heft davor mit einem allerdings komplexeren unterstellten ästhetischen Manöver zu entkräften versucht hatte.

Es ist spannend, wie Patalas durch das Kino aus der großen Doxa von 1968 herauszufinden versucht, für die er die besprochenen Filme als Beispiele sieht: die Annahme, man wäre durch Rezeption der richtigen Theorie (oft nur: der richtigen Begriffe) schon im Bilde über die Wirklichkeit. Dagegen hält Patalas: sinnliche Erfahrung, Vermittlung, Entkrampfung des Verhältnisses zu Konsum und Mode («Eine Reise nach Italien ist zuerst einmal eine Reise nach Italien und nicht von vornherein ein Anlaß zur Konsumkritik – früh genug kann man merken, wie die Reisenden ihre Ideologie mitnehmen in die Ferien. Und die Beatlesplatte bereitet doch ein Vergnügen, auch wenn man beim Einkaufen und noch beim Hören einer Mode folgt.»), eine «erkennende Funktion» der Sinne, und schließlich: Körper.

«Der dialektische Sprung, mit dem die fiktive Anita G. und die wirkliche Alexandra Kluge immer wieder zu einer konkreten Person zusammenschnellten, so sehr die Arbeit auch den Charakter des Gemachten, Konstruierten eingestand, dieser Sprung fand für mich in den Artisten nicht statt.»

Der Text endet mit Pathos: «Nicht als Glücksversprechen hier und jetzt, nicht als Aufscheinen besserer Möglichkeiten im Konkreten, nicht als Schule unserer Fähigkeiten, solche Möglichkeiten zu erkennen, verstehen unsere Regisseure das Kino. Ihre Augen sind tot.»

Weiters im Heft:

Kotulla äußert sich selbst (in einem Gespräch mit Heinz Ungureit).

Herbert Linder empfiehlt die Erinnerungen von Eisenstein, die unter dem Titel ...und fand sich berühmt bei Econ erscheinen (als Lizenzausgabe von Sergej Eisenstein: Stationen, Henschelverlag Ost-Berlin)

Höchst aufschlussreich ist eine Liste im Mittelteil:

Repertoire. Ein Kino für die Autoren versucht eine «Erschließung der vorhandenen Filme ... aus dem derzeitigen Angebot westdeutscher Verleiher». Auf sechs Seiten finden sich Titel von Robert Aldrich bis Robert Wise, ein einziger war dabei, von dem ich davor nichts gehört hatte (Die Dame mit dem Hündchen von Jossif Cheifiz, ein Titel aus der Sowjetunion). Auffällig ist, dass von der Entkolonialisierung nicht das Geringste in dieser Liste zu bemerken ist: alle Titel stammen aus dem Westen, wenn man Japan dazu zählt, schon die damals «zweite Welt» ist kommerziell abwesend, von der «Dritten» keine Spur.

In der Rubrik Kritik deutet Helmut Färber unter Rückgriff auf eine eigene, noch ein wenig positivere Kritik aus der SZ an, warum er mit Barbarella nichts anfangen konnte: «Die Utopie ist nicht in den Utopiefilmen.»

Urs Jenny bespricht Terra em transe (Land im Trance) von Glauber Rocha, der sich im Repertoire (siehe oben) gut machen würde (Brasilien!), der aber hier aufscheint, weil er im Fernsehen läuft. «Eine furiose Fiktion; sie erinnert daran, daß die besondere Suggestion des Mediums Film mit seiner Affinität zum Traum zusammenhängt; und sie sieht aus, als hätte ein junger Brasilianer, gut 25 Jahre danach, davon geträumt, so etwas wie Iwan der Schreckliche und Citizen Kane in einem zu drehen.» Mit diesem Satz mischt die Filmkritik schon einmal ein wenig das Repertoire auf.