filmkritik

30. September 2019

Das physische Denken Die Zeitschrift Filmkritik vor 50 Jahren (12): Heft 09 1969

Von Bert Rebhandl

 

Durch das ganze Heft zieht sich eine Spannung, deren Pole mit einer Buchbesprechung von Helmut Färber gleich vorn im Tagebuch aufgemacht werden: Er schreibt über ein Buch (Max Mittler: Eroberung eines Kontinents. Der große Aufbruch in den amerikanischen Westen) und gibt dem Text die Überschrift «Das physische Denken.» Das Physische war schon neulich bei Schober eine Kategorie. Nun deutet sich noch einmal die ehrwürdige Zweierordnung (Schiller, Lukacs) an, wenn Färber schreibt: «In den Vereinigten Staaten haben wirklich die Helden Homers mit Bismarck und Darwin zur gleichen Zeit gelebt.» So suggerieren es jedenfalls die Westernfilme, die im historischen Geschehen an der «frontier» schon angelegt waren:  «legendär war der amerikanische Westen von Anfang an».

Die Italo-Western sind in dieser Ableitung nicht so leicht unterzubringen. Das wird an zwei Besprechungen deutlich, die zu Färbers allgemeiner Bestimmung des Weste(r)ns deutlich quer stehen. Jürgen Ebert schreibt unter dem Titel Spaß am Betrug über Il Mercenario von Corbucci und skizziert eine Verfallstheorie: «Seinen besonderen Humor beweist Corbucci darin, dass er als verschmitzter Parodist auftritt, obgleich es nie etwas zu parodieren, d.h. zu übertreiben und absurdum zu führen gab; von Anfang an, seit dem Sturz des Hollywood Western durch das Heer der Dollardjangos, war das Widersinnige Darstellungsprinzip gewesen.»

Bei Färber hieß das noch, in einer schönen Formulierung: «das Leben unter freiem Himmel gefesselt an die Phantasie des Geldes».

Die Topoi tauchen weiter hinten in der Kritik noch einmal auf. Harald Greve schreibt über C’era una volta il West von Sergio Leone: «Stumpfer, armseliger Manierismus der Bilder, von denen keines imstande ist, einen Vorgang aus sich heraus zu zeigen, sodaß ich imstande wäre, mich sehend daran zu beteiligen.» Das physische Denken wäre dazu in der Lage, «einen Vorgang aus sich heraus zu zeigen» (ob mit oder ohne Sprache, das musste bei Helmut Färber wenigstens als Denkmöglichkeit eines Denkens außerhalb der Sprache offen bleiben), Leone kann das nicht (mehr?), deswegen seine Manierismen.

Eine Seite davor schrieb Greve über den ausdrücklich witzig gemeinten «Humor-Western mit etwas Parodie» Support Your Local Sheriff von Burt Kennedy: «Vergleichsweise zeigt sich, wievieles in den «ernsten» Western sich selbst parodiert.» Da verschieben also die späteren, unernsten Western den Blick auf die klassischen (physischen). Die Legende wird porös. Die Verrisse von Leone und Corbucci haben damit etwas Apotropäisches, Geisterabwehrendes.

Nur ganz leicht variiert bestimmen die gleichen Kategorien auch eine Besprechung von Satyajit Rays Charulata durch Urs Jenny. Er beschreibt, wie der indischen Regisseur durch Künstlichkeit bei einer Naivität zweiter Ordnung ankommt: «Seither (seinem dritten Film Jalsaghar) ist Ray ein «problematischer» Regisseur; einer, der nicht selbstverständlich, sondern mit bewußter, sich skrupelvoll kontrollierender Anstrengung Ray ist. Er hat sich zum Perfektionisten gemacht. (...) Charulata, vollendet künstlich, ist fast ein Film, der aussieht, als hätte er sich «von selbst» gedreht.»

Relativ ausführlich beschäftigt sich die Filmkritik in diesem Heft mit der DDR und mit Jugoslawien.

Early Works von Zelimir Zilnik wird dafür kritisiert, dass er von einem physischen Denken weit entfernt ist. Er ist «zu eingleisig, wo er dialektisch sein müsste. Zilnik formuliert schärfer als die Regisseure der Durchschnittsfilme, seine Inszenierung ist weit eleganter. Prinzipiell unterscheidet sich sein Film aber nicht von vielen anderen: kritische Meinungen und Urteile, die im Lande, zumindest bei den Intellektuellen, im Umlauf sind, werden – auf sehr witzige Weise – bestätigt.»

In der DDR sorgt eine ausgeprägte staatliche Kunstideologie dafür, dass im Kino nur Geschichten erzählt werden, die sorgfältig auf didaktische Linie gebracht wurden: «Im Gegensatz zu manchen westlichen Lernpsychologen glauben offenbar die DDR-Filmpädagogen, dass nicht das Unerwartete, Provozierende, Lernprozesse auslöst, sondern dass Bekannte, mit dem man sich ohne Schwierigkeiten identifizieren kann.» Immerhin gibt es innerhalb des Schemas kleine Fortschritt: «Der positive Held älterer Prägung mit dem starren Katalog festgelegter Tugenden ist überholt.» Die besten Jahre von Helmut Regel wird als der vielleicht beste DEFA-Film der letzten Jahre genannt.

Frieda Grafe hat in Cannes einen Regisseur entdeckt, der ihr davor ganz unbekannt war: Nagisa Oshima. Sie sieht etwas vollkommen Neues. «Er hebt Grenzen auf. Oder besser noch: er konzentriert sich auf den Punkt, in dem die Gewalttätigkeit der Gesetze und die, die in ihrer Übertretung liegt, sich zum Verwechseln ähnlich werden.» Könnte man das nicht auch über Leone sagen?

Die beiden großen historischen Themen: Klossowski und Brecht.

Drei im Turm, ein Filmtext von Brecht aus dem Jahr 1921, ist ein Vorabdruck aus einer Suhrkamp-Ausgabe mit den Kinoarbeiten von Brecht. (Da ich mich bei Brecht relativ schlecht auskenne, lasse ich das weg.)

Klossowski war damals Zeitgenosse, unwillkürlich lese ich den Text aber wie eine Fortsetzung der historischen Rekapitulationen aus den Heften davor (Faure, Warshow, ...). Er hatte für die Cahiers du Cinéma Nr. 185 einen Beitrag über Film und Roman: Probleme der Erzählung geschrieben.

Bei Klossowski (ich übersetze seinen Text ein bisschen in die Kategorien, die im Heft vorherrschen) ist das Kino aufgrund der Beschaffenheit seiner technischen Medialität ein physisches (er sagt: neutrales) Medium, geprägt durch ein «gleichzeitig naives und blasiertes Erinnern, wie bei der Fotografie». Die industrielle Gesellschaft übt (mit der scheinbaren Neutralität des Kinos) eine Diktatur über die individuelle und kollektive Sensibilität aus, somit setzen sich Stereotypen gegen Stil durch. Stil ist zwar nicht physisches Denken, nimmt aber in Klossowskis Schema eine analoge Funktion ein, man könnte auch an das «ethische» Regime bei Rancière denken, dessen bekannter Text über die Geschichtlichkeit des Kinos dort weitermacht, wo Klossowski aufhört: bei der Skizze (allerdings nur ex negativo) eines Kinos, das die modernen Menschen nicht in einen kollektiven Narzissmus taucht.