filmkritik

30. November 2018

Bedeutungsschnüffelei Die Zeitschrift Filmkritik vor fünfzig Jahren (2): Heft 11 1968

Von Bert Rebhandl

Ratschlag

Ulrich Gregor findet als einziger Bübchen von Roland Klick annehmbar

Magazin

Nachrichten

In München «Abend mit Otto Muehl aus Wien, der im Film und in natura Tabus der Fäkalsprache negiert hatte» deswegen ist das undependent film center in Schwierigkeiten geraten

Horst Wendlandt hat Klaus Lemke als Regisseur für einen Film mit dem Titel Des Pfarrers schöne Töchterlein verpflichtet (wurde nichts draus)

Werner Herzog ist nach Afrika gereist – Vorstudie für seinen nächsten Spielfilm Fata Morgana (da wurde was draus)

Die Filmförderungsanstalt erwartet von den deutschen Fernsehanstalten, dass sie sich an Produktionen deutscher Spielfilme beteiligen. (das fing also schon damals an)

Die MPAA (Motion Picture Association of America) erwägt, die von ihr freiwillig geübte Filmzensur in Zukunft flexibler zu handhaben, d.h. sie schneller als bisher den Veränderungen der Sitten und Weltanschauungen anzupassen. (Before the Code und After the Code)

Amerikanische Produzenten (haben) damit begonnen, sowohl europäische Herstellungsmethoden wie den vermeintlichen europäischen Geschmack nachzuahmen. So arbeitet Frank Perry an einem Film nach Evan Hunters Roman Last Summer, der im Stile Claude Lelouchs gedreht werden soll. (das wurde der Film Last Summer aka Petting)

Wilhelm Roth berichtet aus Mannheim:

«Terroristen» um einen gewissen Haag Bohm (ein münchner Cinephile) schreien Ula Stöckls Neun Leben hat die Katze aus … in unserer nicht sozialistischen Gesellschaft (gibt es das) Dilemma, sozialkritische Thesen zu liefern, die letztlich das System und seinen «Freiheitsspielraum» bestätigen

(was wäre heute eine mögliche – negative – Beschreibungskategorie, die dem «nicht sozialistisch» entspricht? in unserer nicht entkolonialisierten Gesellschaft? schon das «unserer» macht Schwierigkeiten)

Über Bis zum Happy End von Theodor Kotulla schreibt Roth, immer noch aus Mannheim: Mir scheint, das ist ein soziologisch fundierter Film, wie ihn fast alle Mitarbeiter dieser Zeitschrift vor sechs oder acht Jahren noch begrüßt hätten (Genauigkeit in der Konstruktion aber keine Individualität im Detail)

Indiskutabel ist Roland Klicks Bübchen: Klick häuft Naturalismen und treibt durch so viel Typisches dem Film alles Lebendige aus. (Roth aus Mannheim, over and out)

Gemischtes in Locarno HU (Heinz Ungureit)

Ich gestehe, dass mir Hippie-Filme wie Revolution von Jack O’Connell oder Head von Sheldon und Diane Rochlin mit ihrem unreflektierten psychedelischen Bilder- und Klangsalat langsam auf die Nerven gehen.

Zu I visionari (Maurizio Ponzi) gibt es eine innerredaktionelle Kontroverse, (weil) der voreilige Siegfried Schober hier bereits eine fantastische Exegese geliefert hat (Fk 9/68). (Schober) zieht es vor, unaufgeklärter Irrationalist von heute, morgen und übermorgen zu sein (dagegen Ungureit: «Ich bin ein Aufgeklärter von gestern») und mit irrationalen Resten schon nach Besichtigung halbfertiger Filme rüde hausieren zu gehen und sie auf Susan Sontags falsch verstandene «Erotik der Kunst» zu bringen. Gundolf selig hätte an solchen Jüngern seine Freude. – Ponzis Film kann man nur bescheinigen, daß er ehrlich gemeint ist mit seinem Kontrast der Haltung zwischen Theater und Wirklichkeit und deren möglicher Veränderung. Daraus entsteht ein kulturschwangerer, entrückungsfreudiger Dialogfilm, der mit mancher normalen Fernsehinszenierung gleichen Schlages sicher konkurrieren könnte. Musils Schwärmer bilden den Hintergrund einer vielberedeten Dreiecksgeschichte, die auch dadurch nicht erotischer wird, daß Gustav Mahlers schwere Symphonik sie durchwabert. (Warum nur hat Schober Maler nicht erwähnt, wo er doch sonst in seiner eilfertigen «Kritik» über einen halbfertigen Film für beinah alles Platz hatte!).

(Den Film schaue ich mir schon wegen Musil einmal an. Dass Ungureit in diesem Zusammenhang der Goetheist Gundolf einfällt, sagt viel über die bundesdeutsche Nachkriegsgermanistik. BR)

Der neue Truffaut (Klaus Hellwig)

Bei den Diskussionen mit den Co-Autoren des Films fiel Claude de Givray ein Telefonbuch in die Hand, auf dessen Rückseite eine Privatdetektei annoncierte. So kam Doinel zu seinem neuen Beruf.

(Dreharbeiten während der Affäre Langlois) Zu einem gewissen Teil ist Baisers volés ein Bekenntnisfilm, der deutlich macht, daß er den politischen Ereignissen, die Gegenwart waren, als er aufgenommen wurde, um mehr als nur einige Monate hinterherhinkt. Thema des Films ist ferner der zeitliche Abstand, der Truffaut von den Anfängen der Nouvelle Vague trennt.

Konterbande von Luc Moullet (Frieda Grafe)

Bei fast jeder Einstellung denkt man den Weg mit, den die Kamera zurückzulegen hatte, bis sie zu ihrer Position kam. … dieser Film (ist) Hyperfiktion … Bei Moullet erfährt man, welche Umwege man in arbeitsteiligen Gesellschaften gehen muß, um zur Natur zurückzufinden. … Les Contrabandières ist ein Katalog von Westernsituation und Westerndekors. … Amerikas Natur- und Action-Filme sind direkte Folgen der Technisierung des Landes.

Filmer über Film

Jacques Rivette anlässlich von L’amour fou: Ich glaube, ein revolutionäres Kino kann heute nur ein «differentielles» Kino sein, eines, das das übrige Kino infragestellt. Für Frankreich jedenfalls glaube ich, im Hinblick auf eine mögliche Revolution, nicht an einen Revolutionsfilm im eigentlichen Sinn, der sich damit begnügte, die Revolution zum Thema zu machen. Ein Film wie Terra em transe, dessen Thema die Revolution ist, ist außerdem wirklich auch ein revolutionärer Film. Es ist immer dumm, Vermutungen anzustellen, aber ich glaube nicht, daß es das jetzt in Frankreich geben könnte. Die Filme, die sich jetzt damit begnügen, die Revolution zum Thema zu machen, ordnen sich bürgerlichen Vorstellungen von Gehalt, Botschaft, von Ausdruck unter. Die einzige Art aber, in Frankreich revolutionäres Kino zu machen, besteht darin, etwas zu machen, das sich den bürgerlichen ästhetischen Klischees entzieht, zB der Vorstellung, daß da ein Filmautor ist, der sich ausdrückt. Das einzige, was man im Augenblick in Frankreich unternehmen kann, ist der Versuch, das Kino als persönliche Schöpfung infragezustellen. Ich glaube, Play Time ist ein revolutionärer Film, trotz Tati – der Film hat seinen Autor total ausgelöscht. Was in Filmen wichtig ist, das ist der Augenblick, in dem es keinen Autor mehr gibt, keine Darsteller, auch keine Geschichte mehr, kein Thema, nichts anderes als nur noch den Film, der spricht und der etwas sagt, was man nicht übersetzen kann. Der Augenblick, in dem er die Sprache von einem anderen wird oder von etwas anderem, das nicht gesagt werden kann, weil es eben jenseits allen Ausdrucks ist. … Rouch ist in Renoir enthalten … Rouch, obwohl das nur wenigen klar ist, ist seit zehn Jahren der Motor des gesamten franz Films. Jean-Luc ist ausgegangen von Rouch. … Ich neige immer mehr dazu, die Filme in zwei Kategorien einzuteilen: die, die gemütlich sind, und die, die es nicht sind.

Stanley Kubrick: 2001, ein religiöser Film (Interview aus dem Playboy)

New York war die einzige wirklich feindselige Stadt. Vielleicht gibt es da ein gewisses Element von lumpen literati, das so dogmatisch atheistisch und materialistisch und erdgebunden ist, daß es die Großartigkeit des Raumes und die unzähligen Mysterien kosmischer Intelligenz verdammen muß. ... Ich möchte sagen, daß der Gottesbegrif das Herz von 2001 ist - aber nicht irgendein traditionelles, anthropomorphes Bild von Gott. Ich glaube an keine der monotheitischen Religionen der Erde, aber ich glaube, daß man eine aufregende wissenschaftliche Definition Gottes konstruieren kann.

(immer noch Magazin)

Thomas H. Guback: Hollywood-Imperialismus in Europa

1946 gingen in einer normalen Woche 90 Millionen Menschen ins Kino. (in Amerika)

(nun kommt der zentrale Text des Heftes)

Frieda Grafe: Der Spiegel ist zerschlagen (Ingmar Bergman)

Grafe versucht, Bergman gegen seine Verächter (die ihm «Kulturhuberei» unterstellen, also ein Kino im Dienste bürgerlicher Verständigung) und Verfechter (die ihn als Theologen sehen) als Künstler zu erweisen, der medienspezifisch arbeitet (also nicht einfach begriffliche Themen bebildert als ein Regisseur «herabgekommener literarischer Formen zur Darstellung von Themen, die des Kinos nicht bedürfen»). Überall ist ihre intensive Rezeption französischer Theorie präsent: Blanchot, Foucault (La Pensée et dehors aus Critique 1966), Barthes, Klossowski. Der Film Die Stunde des Wolfes dient ihr als zentraler Beleg.

Die wichtigsten Stellen:

Zieht man die formalen Konsequenzen aus dem Verschwinden Gottes, dann ergibt sich einfach eine unbesetzte Stelle, die notwendigerweise eine Veränderung der Gesamtstruktur nach sich zieht und damit eine neue Erfahrung der menschlichen Kondition. (Die Lücke, in die Kubrick mit dem Kosmos – oder mit Strauß-Walzern? – geht. BR)

Es lohnt sich, gegen ideologische Hemmungen die Hypothese auszuprobieren, daß Bergman immer schon auf Kollektivvorstellungen und Stereotypen abendländischer Kultur zurückgriff, um als Autor hinter seinem Werk zu verschwinden.

Der Spiegel, von dem Johan Borg sagt, daß er zerschlagen sei, das ist auch Stendhals «Spiegel auf der Landstraße», nach dessen Reflexen sich über ein Jahrhunderte die Erzählkunst richtete.

An der Verwandlung von Märchen in Kunstmärchen, die manche Romantiker schweigend vollzogen, ist ihm nicht gelegen. Bei Bergman führt die Bewegung gerade weg von der Kunst, und das dank seiner wirklich mediumgerechten Verwendung des Kinos.

Daß der Körper die natürliche Gestalt des Geistes ist, diese Erfahrung muß für den in protestantischen Traditionen aufgewachsenen Bergman eine Revolution bedeutet haben. Da das Kino als Medium in der Lage ist, den Moment zu zeigen, in dem – die Godard sagt – Gefühle physisch lebendig werden, möchte man die Behauptung wagen, daß das Kino eine entscheidende Rolle bei Bergmans Konversion zum Leben gespielt haben muß. (Der Schlüsselsatz des ganzen Textes enthält zugleich den unbefragtesten Begriff: Leben. BR)

Das Kino muss als erstes überwinden, wovon es zunächst Symptom ist: das dunkle Bedürfnis des modernen Menschen, die Realität verdoppelt zu sehen. (Zitat von Klossowski, er nennt diese Realitätsverdoppelung Phantomalismus)

Kritik (Neu im Kino und Fernsehen)

Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos

Die dialektisch unauflösbare Struktur von Utopie ist das Baumuster des Films. Er ist melancholisch und medial. Er ist die Ereigniskunst, die der Reformzirkus erst werden sollte. (Peter W. Jansen)

Ich liebe dich, ich liebe dich (Alain Resnais)

Das, was die zentrale Idee vieler Filme der Avantgarde von gestern und heute ausmacht, ist hier nicht nur zu seiner höchsten Entwicklung gebracht, sondern zugleich funktional eingesetzt: die Montageteile konstituieren nicht nur einen Rhythmus, sie haben auch eine psychologische Bedeutung und setzen einen Erkenntnisprozess in Gang. (Ulrich Gregor)

Lektürevorhaben: Jacques Sternberg

Rosemaries Baby

selbstbeschränkend kühle Adaption einer literarischen Vorlage, die sich von anderen trivialen Schocks zum Tagesgebrauch dank ihrer Grundidee absetzt ... funktioniert nur dann, wenn man an das glaubt, was der Regisseur da zusammengefilmt hat (Klaus Hellwig)

Liebe und so weiter

Die Bilder sind apart … (George Moorse) mag zeigen wollen, daß kapitalistische Systeme im Stadium der Technologie keiner Revolution mehr zugänglich seien, deren ideologisches Rüstzeug an frühkapitalistische Gesellschaftsstrukturen fixiert ist. Dazu hätte es differenzierter Darstellung bedurft, die ihre Pointen nicht der hämischen Genugtuung der BILD-Bürger zuspielt. (Harald Greve)

Petulia

Von all den neuen Hollywoodfilmen, die mit demonstrativ unkonventionellen Einstellungen und Schnitt-Techniken auftrumpfen, um nur ja nicht wie Hollywoodfilme auszusehen, ist dies der exaltierteste. (Urs Jenny)

Brandung (Boom von Joseph Losey)

Ausverkauf vormoderner Kulturgüter mit den Mitteln modernster Technik (Siegfried Schober mit einer Formulierung, in den Vorwürfen gegen Bergman entspricht)

Star!

Julie Andrews im Vierzigerjahrekostüm (Kinoratten erinnert Wise hier daran, daß er zur selben Zeit Cutter des Citizen Kane war!) (Enno Patalas)

Begriffe: Kinoratte

Tausendschönchen

Die Heldinnen des Films sind zwei junge Mädchen … ist schon falsch. Nicht die Heldinnen sind, der Film ist, und alles weitere sind Fragen, die der Film dem Zuschauer stellt. … Chytilovás Symbolzauber (deutet auf die ) Unfruchtbarkeit der Bedeutungsschnüffelei … Tausendschönchen ist glücklicherweise kein Tschechenfilm. Nicht als ausgebeutetes Objekt steckt das Land in diesem Film, wie bei den Forman, Nemec, Menzel usw., sondern als sinnliche Erfahrung, die ihm mit zur Form geworden ist, eine Realität, von der er sich abstößt. (Enno Patalas)

Der Herbst der Familie Kohayagawa

Dies ist die Fortsetzung und Kritik einer anderen Kritik (Fk 10/67), die einen anderen Ozufilm zum Gegenstand hatte: Akibiyori (Spätherbst). (zur Funktion der Wiederholung) Besser sollte man versuchen, sie zu verstehen wie ein Ritual. (Gleichmaß der Natur - Veränderbarkeit der Gesellschaft) … westlich-aristotelischer Gewohnheit folgend (dagegen) brechtsche Lektionen: Brechts Über das Theater der Chinesen wird durch eine lange Stelle von Barthes über das Bunraku überschrieben

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konkret macht jetzt auch paperbacks

Band 2 Prag und die Linke (Beitrag von Ulrike Marie Meinhof)

SPONTAN (ein neues Magazin) bewirbt ein Cover über Das Geheimnis des schwarzen Eros (weiße Frau und schwarzer statuesker Mann, ihre Lippen auf Höhe seines Hinterns)

U4 (wie gehabt): Bruno Schmidt 16mm Schmalfilm