literatur

14. Oktober 2009

Zur Sache, Papa Der Autor und Filmemacher Zhu Wen erzählt in den Geschichten der Sammlung I Love Dollars, wie schwierig es ist, in China den Respekt vor sich selbst zu wahren

Von Bert Rebhandl

Erraten Sie den Film: «Xiao Lin, die männliche Hauptrolle, ist ein Pechvogel, ein Maler, dem es nicht gelingt, auch nur ein einziges Bild zu verkaufen. Schließlich hat er nicht mal mehr Geld für seine Ölfarben, Modelle kann er schon gar nicht bezahlen. Um zu überleben, ist er gezwungen, sich auf der Straße als Porträtzeichner durchzuschlagen. Aber auch hier läuft sein Geschäft schlecht. Da seine Zeichnungen den Abgebildeten nie ähnlich sehen und sich seine Kunden nicht darin wiederfinden, weigern sie sich, dafür zu bezahlen. An dieser Stelle erscheint Xiao Ai, die weibliche Hauptrolle, auf der Bildfläche und nimmt auf dem Schemel gegenüber von Xiao Lin Platz.»

Ich weiß nicht, ob es einen chinesischen Film mit dieser Geschichte tatsächlich gibt, einen Liebesfilm, «der irgendeinen großen Preis bekommen hat» – in der Erzählung I Love Dollars von Zhu Wen wird diese Handlung jedenfalls ausführlich nacherzählt, es wird auch nicht verschwiegen, dass es dem Erzähler beim Besuch einer Nachmittagsvorstellung vor allem um die Kontaktaufnahme zu jungen Damen geht, von denen er eine gern seinem Vater zuführen würde, der zu Besuch in der Stadt ist. Beiläufig erwähnt Zhu Wen dann noch den Drehbuchautor des namenlos bleibenden Films: «ein gewisser Zhu Wen».

Dieser überraschende selbstreflexive Moment gewinnt eigentlich erst durch das Veröffentlichungsdatum der Erzählung I Love Dollars in deutscher Sprache an Schärfe. Denn 1995, als diese Geschichte in China zum ersten Mal erschien, war Zhu Wen tatsächlich noch ein weitgehend unbekannter Nachwuchsautor, seither hat er mehrere Drehbücher verfasst, inzwischen ist er auch ein bekannter Filmemacher (Seafood, 2001 und South of the Clouds, 2003 sind auf zahlreichen westlichen Festivals gelaufen).

Sechs Erzählungen umfasst der von Frank Meinshausen übersetzte Band nun insgesamt, sie sind in einem Zeitraum von rund zehn Jahren entstanden und übergreifen damit sehr gut die gegenwärtige Periode der chinesischen Geschichte, die vor allem durch wirtschaftliches Wachstum charakterisiert ist. Der Titel mag ein wenig plakativ klingen, es geht aber selten direkt um Geld, sondern fast durchweg um die Position eines männlichen Erzählers, der sich auf eine sehr körperliche Weise bedrängt fühlt – von Menschen, die ihm auf irgendeine Art zu nahe kommen. Die klassische liberale Wunschvorstellung, dass jedermann und jedefrau friedlich ihrer Wege gehen könnte, wird in Zhu Wens China ständig ab absurdum geführt.

In Schickt alle Armen ins Reich der Träume wird ein argloser Fahrradfahrer das Opfer einer Bande von halbstarken Bullys, in Auf dem Yangzi bekommt es ein Mann auf einer Schiffspassage mit dem üblen Benehmen seiner Mitreisenden zu tun, in Eine Nacht im Krankenhaus lässt sich ein junger Mann dazu abstellen, einen alten Patienten eine Nacht lang zu betreuen, ihm bei Bedarf die Urinflasche zu reichen oder etwas zu trinken zu geben. Der Kleinkrieg, der sich zwischen den beiden Männern entspinnt, und in den die anderen Patienten samt deren Angehörigen im Zimmer ebenso subtil wie sadistisch eingreifen, ist sehr komisch, aber auch schwer erträglich. In «Xiao Xie, ach Xiao Xie» schlagen die Mitarbeiter einer großen Investititionsruine die Zeit tot, manche versuchen, in eine andere Branche zu wechseln oder ihre Computerkenntnisse nutzbar zu machen, doch kommt kaum jemand gegen die allgemeine Lethargie an, und als schließlich tatsächlich jemand stirbt, kommen die Kollegen zur Einäscherung zu spät – auch deswegen, weil Zhu Wen es versteht, die Zeit erzählerisch so zu zerdehnen, dass daraus eine fast mikroskopische Spannung entsteht, aber eben kein Vorankommen.

Der Höhepunkt in dieser Hinsicht ist sicher die Titelerzählung I Love Dollars, in der es im Grunde darum geht, einen ganzen Tag hindurch irgendwann einen unterbrochenen Geschlechtsakt zu Ende zu bringen und nebenbei auch noch den nach Meinung des Sohns allzu tugendhaften Vater mit einer Prostituierten zur Sache zu kommen zu lassen.

Zhu Wen lässt an mehreren Stellen anklingen, dass er sehr wohl weiß, dass seine Erzählungen im Kontext einer Literatur des schnellen Erfolgs stehen (der Titel I Love Dollars lässt sich als strategischer Akt der Offensivdistanzierung begreifen), und dass sie sich oberflächlich auch so lesen lassen. Genau besehen aber besteht die Kunst von Zhu Wen darin, die Entwicklung des modernen China nicht so sehr an Figuren, Geschehnissen und Situationen festzumachen, sondern sie atmosphärisch zu registrieren, in Form von Sinneseindrücken, die sich das Subjekt vom Leib zu halten versucht, um eine Integrität zu wahren, für die China erst die Begriffe finden muss.

Zhu Wen: I Love Dollars und andere Geschichte aus China, übersetzt von Frank Meinshausen (A1 Verlag 2009)