literatur

29. März 2012

Frühlingserwachen Lektüre: Tauwetter (1955) von Ilja Ehrenburg

Von Bert Rebhandl

Aus Anlass der aktuellen Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum habe ich Tauwetter von Ilja Ehrenburg gelesen. Auf der einen Seite ist das ein ganz normaler Roman, mit zahlreichen Figuren in einer Industriestadt «an der Wolga» («wie Lüttich» wird zwischendurch einmal als Vergleichsgröße genannt), mit beruflichen und gesundheitlichen Problemen und mit komplizierten Liebesgeschichten (der mehrfach erwähnte Dickens darf als Richtschnur gelten). Auf der anderen Seite aber ist das ein Roman, bei dem ich beim Lesen ständig eine grundsätzliche Differenz mitbedenken musste: denn den Figuren in Tauwetter geht es nicht nur um sich und ihre jeweilige Sache, sondern immer auch um ein Allgemeines, das in unterschiedlich pathetischen Begriffen benannt wird, wo es nicht einfach «Kommunismus» heißt.

Das Buch stammt aus der Periode unmittelbar nach dem Tod Stalins, der es später den Namen gab: Tauwetter. Es beginnt mit der Schilderung einer «Leserkonferenz», bei der ein Ingenieur in Form einer mündlich vorgetragenen Literaturkritik eine romantische Botschaft an eine verheiratete Frau schickt, die von ihr allerdings fehlgedeutet wird. Und auch danach ist es häufig eine ästhetische Debatte (vor dem Hintergrund des niemals ausdrücklich genannten Sozialistischen Realismus), die Ehrenburg zum Testfall für die Charakterfragen macht, um die es ihm wesentlich geht: Dem Maler Saburow, der zurückgezogen und in Armut lebt, steht der Auftragsmaler Wolodja gegenüber, die zentrale Konfliktfigur, ein junger Mann, der an zuviel Selbstironie und Zynismus leidet, und der zwischendurch brav und für gutes Sowjetgeld eine Genreszene aus dem Leben der «einfachen Sowjetmenschen» nach der anderen malt.

Um Saburow bildet sich so etwas wie eine kleine Gemeinde, die nicht zufällig mit der progressiven Fraktion der Ingenieure im Betrieb identisch ist. Dass Fragen der Produktion in Tauwetter ebenso wichtig sind wie das Glück in der Liebe, kann natürlich nicht überraschen – dies bleibt bei aller politischen Aufbruchsstimmung doch ein sowjetischer Roman, in dem am Ende Paris besucht wird, eine Stadt, in der ein junger Ingenieur «weder Projekte noch Begeisterung» bemerken will. Zweimal wird es Frühling in Tauwetter, generell ist das die bestimmende Metapher, die an einer Stelle noch überraschend konkretisiert wird: Kommunismus wäre wie «Wein in Jakutien», also weit in Sibirien. «Es ist schwierig, aber es ist möglich: mit Leidenschaft, Feingefühl und gutem Willen. Erstaunliche Taten vollbringt unser Volk, mit Recht nennt man es einen Helden.»

Das ist Rhetorik der Propaganda («Wenn Vater ‹Volk› sagte, verändert sich seine Stimme.»), aber sie wird in Tauwetter differenziert durch das innere Leben der Figuren, die keine eindimensionalen Heldenattrappen sind, sondern komplexe Wesen. Und diese Komplexität wiederum vermag der Maler Saburow zu entdecken und zu malen: Zum Beispiel den Ingenieur Andrejew. «Endlich zeigte Saburow (seiner Frau) Glascha das Porträt. Andrejew, in blauer Joppe, saß auf einem Schemel; hinten war eine Wand, silbrig und blassgrün. Saburow war es gelungen, die Schönheit eines unschönen, allzu grobschlächtigen Gesichtes darzustellen, eine Schönheit, um die vielleicht nur Andrejews Frau wusste. In diesem Gesicht verblüfften Eigenwille und Leidenschaft, gemildert durch einen fast unmerklichen Anflug von Schelmerei, die manchmal in den Augen eines Menschen aufblitzt, der eine komplizierte, verworrene Geschichte nicht zu Ende erzählt.»

Ob Ehrenburg wohl bewusst war, dass diese Formulierung ziemlich genau dem entspricht, was man als das Projekt seines Romans bezeichnen könnte? Denn ganz eindeutig öffnet er hier die konkrete Eschatologie des Kommunismus und lässt sie in ihrer Kompliziertheit und Verworrenheit als «nicht zu Ende» erzählbar erkennen, während der Sozialistische Realismus sie immer schon vom verordneten Ende her vereinfachte. Tauwetter (das Buch, die Retrospektive mit so überragenden Filmen wie Ich bin zwanzig Jahre alt oder 9 Tage eines Jahres, Flügel oder Asjas Glück) hat mir eine Frage wieder erschlossen, die ich eigentlich schon zu den Akten gelegt hatte: wie lässt sich ein politisches Projekt von allgemeinem Interesse definieren, ohne dass es zu Ideologie wird?

Bei Ehrenburg ist der Kommunismus so etwas wie ein Motivationshorizont (ein Begriff, an den ich mich aus der Religionssoziologie erinnere), aus dem er den Stalinismus, nicht aber insgesamt alle «Mängel», ausgespart hat. Neben Wassili Grossman sieht Tauwetter natürlich klein aus, und neben Solschenizyn oder Schalamow wirkt der Roman einseitig. Aber er hat einen historischen Moment mitgeprägt, den ich bisher eher übersehen hatte. Eingezwängt zwischen Ungarn 1956 und Prag 1968, scheint es damals ein echtes Fenster der Gelegenheit gegeben zu haben. Bevor ich nun aber ganz der kommunistischen Propaganda erliege, werde ich Martin Malias Geschichte der Sowjetunion lesen: Vollstreckter Wahn.