diagonale 2012

22. März 2012

Diagonale 2012

Von Lukas Foerster

Die toten Fische

© Diagonale

Teil III

Die erste halbe Stunde ist ein einziges Martyrium: Ein hagerer Mann treibt in einem Kanu durch einen Sumpf, in dem es geysirartig rumort, über ihm aggressiv rauschende Weidenbüsche. Mit einem abgerissenen Netz stochert er im schäumenden Wasser und birgt Briefmarken. Seinen Fang muss er anschließend gegen ein dämonisches öffentliches Nahverkehrsnetz und eine infernalische Rattenplage verteidigen, der Chef staucht ihn dann trotzdem zusammen, wirft ihn auf die Straße, verweigert ihm Speis und Trank. Allein gelassen steht er dann da, in einer Welt, deren brutales Regelwerk sich nur zum Teil erschließen lässt, die aber bis in die letzte Pore durchdrungen ist von Fälschung und Ausbeutung.

Die Wiederaufführung eines verhinderten Klassikers, eines der großen Außenseiterwerke des österreichischen Kinos der 80er-Jahre: Michael Syneks Boris-Vian-Verfilmung Die toten Fische lief 1989 in Cannes und danach noch auf einigen anderen Festivals, konnte anschließend aber nicht verkauft werden und trieb den Regisseur in die Pleite. Heute ist der Status des Films prekärer denn je: Zweimal während der Vorstellung reißt die Kopie, das sind Schrecksekunden, denn es ist die letzte, die es gibt, auch das Negativ ist verschwunden, jede Vorstellung ist ein Risiko, zumindest bis die geplante Restauration finanziert und vollendet ist.

Erstaunlicherweise sieht diese letzte, brüchige Kopie großartig aus, einigen Abnutzungserscheinungen an den Rollenenden zum Trotz. Die schwarz-weiß-Bilder bergen einen erstaunlichen Reichtum an leuchtenden Graustufen, Rauchschwaden, Schattenwürfe, organischem, architektonischem und industriellem Verfall in außergewöhnlicher Intensität. Die Tonspur entstand komplett im Studio. Dialoge gibt es ohnehin wenige, wichtiger sind Sounddesign - metallisches Klirren, hallende Schritte, Mäusegeschrei, alles drei von einer extremen Härte und Prägnanz – und die hypnotische, minimalistische Musik von Michel Portal. Ganz zu sich selbst kommt der Film in fast installativ anmutenden Sequenzen, die die parabelhafte Erzählung suspendieren und sich darauf beschränken, die Passagen Leders durch die düsteren Alptraumwelten zu rhythmisieren.

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Warum hat eigentlich Stanley Kramer Ship of Fools 1965 in schwarz-weiß gedreht? Bei einer derart starbesetzten, episch angelegten Bestsellerverfilmung hätte ich eigentlich eine opulente Technicolor-Einfärbung erwartet. Im Fall von Ship of Fools, in Graz der dritte und letzte Film der Korvin-Reihe, scheint aber schon eine andere Faustregel zu greifen: Alles, was mit der Nazizeit zu tun hat, tendiert im Kino zur Entfärbung. Kramers Film ist vermutlich (zumindest im amerikanischen Kino) einer der ersten, der schwarz-weiß umkodiert von poverty row zu Qualitätskino.

Kramers Narrenschiff fährt im Jahr 1933 von Veracruz nach Bremerhaven, mit an Bord ein geopolitisch überdeterminierter Bevölkerungsquerschnitt, ganz ähnlich wie zuletzt bei Godards Film Socialisme: Ein leutseliger Nazi, ein etwas tumber amerikanischen Baseballspieler, ein assimilierter Jude (gespielt von Heinz Rühmann, der möglicherweise noch das eine oder andere zu exorzieren hatte), fürs melodramatischere eine drogensüchtige Contessa und ein junges Liebespaar. Unten, auf dem Zwischendeck drängen sich hunderte spanische Zuckerarbeiter und proben den Aufstand.

Kramer war kein auteur, im Gegenteil, er macht in seinen oft überfüllt wirkenden Filmen kaum mehr, als prestigeträchtige Themen und zugkräftige Stars so miteinander zu arrangieren, dass sie einander nicht in die Wege geraten. Ship of Fools ist trotzdem ein faszinierender Film, ein im Großen gelegentlich schiefer, im Kleinen immer wieder sehr ergreifender Versuch, in den Formen des klassischen Kinos Gesellschaftsdiagnose zu betreiben. Ganz abgesehen davon, dass ein Film, in dem Lee Marvin (der Baseballspieler) mitwirkt, so schlecht ohnehin nicht sein kann.

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Joerg Burgers Way of Passion beobachtet eine Karfreitagsprozession im sizilianischen Trapani, bei der in Gruppen konstellierte Holzfiguren durch die Stadt getragen werden – vierundzwanzig Stunden lang. Jeweils zwanzig bis dreißig Sizilianer – es ist hauptsächlich, aber nicht ausschließlich eine Männerveranstaltung - werden unter ein Ensemble eingespannt und bewegen sich dann langsam, rhythmisch wankend, fast wie hypnotisiert, zu getragener Marschmusik durch die engen Gassen der Altstadt. Wenn sie am Ende wieder in der Kirche angelangt sind, fallen sie sich erschöpft und tränenüberströmt in die Arme.

Burger und sein Kameramann bleiben nicht auf Distanz, bei allem ethnografischen Interesse, das vermutlich einmal der Ausgangspunkt des Projekts gewesen war, geht es dem Film doch in erster Linie darum, mit der Prozession zu verschmelzen, ihr eine ästhetische Erfahrung zu entnehmen. Dass mir Way of Passion gefallen würde, ahnte ich schon nach ungefähr zwei Minuten, nach einem Schnitt von Schnitzarbeiten an einer Heiligenfigur auf einen Friseursalon, in der ein Mann seines Bartes entledigt wird. Eine einfache, wie alles andere im Film unkommentierte Parallelisierung: Die Heiligen sind unter uns.

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Teil II

Low Definition Control

© Michael Palm

Als ersten Film gesehen im UCI Annenhof, einem Grazer Multiplexkino in Bahnhofsnähe, das der Diagonale für die Festivalwoche zwei seiner Säle leiht, während in den restlichen der Tagesbetrieb normal weiterläuft: Low Definition Control (Malfunctions #0), einen außergewöhnlichen Essayfilm von Michael Palm, der in einer nicht einfach zu entschlüsselnde Korrespondenz zwischen Bild- und Tonebene über die Gegenwart und Zukunft von Bild- und Machttechniken nachdenkt.

Auf der Tonspur collagiert Palm zeitgenössische, interdisziplinäre Theorieproduktion. Die Sprecher sind Geistes- und Medienwissenschaftler, Mediziner, Theologen, ihre Beiträge sind oft eher im Gesprächston gehalten als durchgeskriptet, oft ergänzen sie einander, seltener widersprechen sie sich. Die Argumentationen entfalten sich zwar teilweise über mehrere Sprecher in verhältnismäßig komplexen Gedankengängen, aber sie behalten doch etwas Fragmentarisches, schon, weil der Film in seiner Kapitelstruktur immer wieder neu ansetzt, die Bildregister wechselt oder neu perspektiviert. Grob unterscheiden kann man dennoch zwei Linien: Es geht zum einen um die durch Überwachungstechnik und bildgebende Verfahren in der Medizin vermittelte Internalisierung von Kontrolle und den neuen Zugriff, den Herrschaft auf so zugerichtete Individuen gewinnt (es gibt da bei einigen Sprechern über die analysierende Beschreibung heraus eine Tendenz zur manchmal mit kaum überhörbarer Lust vorgetragenen maximal fatalistischen Zukunftsprognose; es wäre eine eigene Untersuchung wert, zu ergründen, woher diese Lust kommen könnte). Und zum anderen darum, was unter diesen Bedingungen der internalisierten Kontrolle mit dem Bild selbst passiert, mit seiner Zeitstruktur zum Beispiel, auch mit der spezifischen Form von Wissen, das es speichert, in polizeilichen ebenso wie in medizinischen Kontexten.

Die von einem Diskutanten formulierte Sehnsucht nach dem «Bild als Bild», das nicht in Normierungsraster eingepasst ist und seinen semantischen Reichtum beibehält, artikuliert sich auch in dem visuellen Material von Low Definition Control selbst, allerdings nur in gebrochener und wie der Regisseur nach dem Film erläutert, fast schon korrumpierter Form: den Überwachungsblick bloß zu verdammen führe nicht weit, meint Palm, man müsse durch ihn hindurch, bis zu einem gewissen Grad sein Komplize werden, um ihn überwinden zu können. Palm filmt den öffentlichen Raum, oft durchaus in Ausschnitten, die auch eine Überwachungskamera interessieren könnte: überlaufene Einkaufsstraßen, Bahnhöfe, Ladenfronten, public-viewing-Situationen. Aber er simuliert nicht einfach den automatisierten Kontrollblick, Aufmerksamkeitsverlagerungen durch sanfte Schwenks, gelegentlich auch emphatischere Eingriffe wie freeze frames oder die anschwellende Musik (Trevor Duncan, Maurice Ravel) laden die Bilder mit Subjektivität auf. Wenn dann Finger über die Bilder gleiten, einzelne Menschen abtasten und wie in einem Computerinterface «anwählen», kippt die Anordnung einerseits wieder in eine Überwachungslogik, andererseits geht es selbst da noch um eine Form von Zärtlichkeit.

Gedreht ist der Film (bis auf einige wenige digitale Sequenzen) auf 8mm-Material, projiziert wird er als 35mm-Kopie im Cinemascope-Format. Weiter kann man das Filmkorn, die kleinste Einheit des analogen Filmbilds, nicht aufblasen, zumindest nicht mit der geläufigen Kinotechnik. Eine eigenartige Materialität haben diese groben schwarz-weiß-Aufnahmen, oft wirken sie wie in Dunkelheit getränkt, ihre Texturen lösen sich von der repräsentationalen Ordnung und überschwemmen die gesamte Leinwand. Eine Liebeserklärung ist der Film in solchen Momenten an die Flüchtigkeit des Filmkorns, das im Moment seiner Konstitution schon im Zerfallen begriffen ist und sich eben nicht, wie das digitale Pixel, in eine starre Rasterstruktur fügt.

Danach ins Rechbauer, auf die andere Seite der Innenstadt, es läuft, in der Charles-Korvin-Retrospektive Jacques Tourneurs halbdokumentarischer, atmosphärischer Agentenfilm Berlin Express, der mit Bildern zertrümmerter deutscher Großstädte lockt, sich aber doch in der Dunkelheit von Eisenbahnabteilen, Nachtclubs und Destillerien am wohlsten fühlt. Das Kino ist Teil eines «Filmzentrums», in dem man so etwas wie eine Kontinuität der Bilder erleben kann: Im Vorraum ist ein kleiner DVD- und VHS-Verleih eingerichtet, zwischen dem erwartbaren Arthauskram stehen da auch einige video nasties, die im zensurfreudigen Deutschland nicht einmal Underground-Videotheken in ihr Programm aufnehmen könnten, ohne Besuch von der Staatsanwaltschaft zu bekommen.

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Teil I

Auch die Diagonale in Graz kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Österreich in cinephiler Hinsicht ein zentralistischer Staat ist. Gleich zwei Wiener Kino-Institutionen bespielen das Festival mehr oder weniger regelmäßig mit historischen Filmprogrammen. Das Filmarchiv Austria präsentiert dieses Jahr bereits den zweiten Teil eines Programms namens «Shooting Women», das sich vorgenommen hat, den Beitrag des weiblichen Filmschaffens zur österreichischen Filmgeschichte aufzuarbeiten. Mit einigem Ehrgeiz möchte das Projekt auch an theoretische Diskurse zum Archiv und Fragen der Sichtbarkeit andocken. Was von den einzelnen Filmen bleibt, ist eine andere Frage. In 1 Häufchen Blume, 1 Häufchen Schuh, einer mittellangen Dokumentation über Friederike Mayröcker, gibt es immerhin eine wundervolle Szene, in der sich die Schriftstellerin aus ihrer zugemüllten Wohnung befreit und zu Procol Harums A Whiter Shade of Pale vorbei an Plakatwänden durch Wien gleitet.

An einer klassischeren Form von Filmgeschichtsschreibung orientieren sich die Programme, die das Österreichische Filmmuseum in Zusammenarbeit mit Synema kuratiert. Schon seit mehreren Jahren laufen auf der Diagonale kleine Retrospektiven, die dem Werk von Filmexilanten nachspüren. Dieses Jahr ist der Schauspieler Charles Korvin an der Reihe. Noch nie begegnet war mir im Kino bislang jenes technische Problem, das den Beginn von This Love of Ours, des ersten Films des Programms, um einige Minuten verzögerte: Beim Filmstart blieb fast die gesamte Leinwand schwarz, bis auf eine kleine konkave Fläche am Rand, die wie sichelförmig ausgestanzt leuchtete. «Eclipse!» rief jemand im Saal und genau so sah es auch aus: als hätte sich da ein kleiner Himmelskörper vor die Kinosonne verirrt. Die Leinwandfinsternis machte dann bald einem komplett wahnwitzigen Melodram aus dem Jahr 1945 Platz, dem ersten Meisterwerk, das ich auf dem diesjährigen Festival gesehen habe.

Korvin spielt Dr. Touzak, einen Arzt, der in der amerikanischen Provinz mit seiner Tochter in einer ausladenden Villa mit leicht verwunschen wirkendem Garten lebt. Auf einem Ärztekongress verschlägt es ihn in einen Nachtclub, dort trifft er auf einen Karikaturisten - und auf seine eigene Frau. Die hatte Touzak einst sitzen gelassen, weil er sie der Untreue verdächtigte, jetzt schlägt sie sich als Barmädchen durch und triggert Erinnerungen: wie der junge Mediziner in Europa die junge Tänzerin kennengelernt hatte und ihr, statt nur den verstauchten Knöchel, gleich den ganzen Unterschenkel bandagierte, so verfallen war er ihr schon auf den ersten Blick. Das Melodram, das sich aus dieser Urszene heraus entwickelt, erfasst alle Figuren gleichermaßen, macht sich den gesamten Film untertan: damit sich alle Schicksalsfäden möglichst unentwirrbar ineinander verstricken, lassen Dieterle (den Synema-Mitarbeiter Michael Omasta vor dem Film als einen «Spezialisten für verquere Meisterwerke» anpries) und seine Autoren auch schon einmal eine Figur temporär erblinden: das Melodram verfügt über die Sinne derer, die es ausagieren. 

This Love of Ours ist ein Film der gesperrten Erinnerungen; und – wiederum mit den Worten Omastas – der totalen Hingabe. Ein Film, über Menschen, die nicht vernünftig handeln, die mutwillig ihre gesamte Existenz aufs Spiel setzen, wenn sie dafür nur die Chance erhalten, von ihren Mitmenschen in ihrem Innersten angenommen, erkannt zu werden. Das Erkennen vermittelt sich - das ist eine der wundervollsten Volten dieses an allen Ecken und Enden überbordenden Films - über die Karikatur. Karikaturen nämlich sind «Passbilder der Seele», erklärt der Nachtclubzeichner; nichts bekomme das Wesen eines Menschen besser zu fassen als seine schnell hingeworfenen, handwerklich souverän nach standardisierter Rezeptur angefertigten, nicht als Ausdruck eines künsterischen Schaffensdrangs, sondern als bloßer, kommerziell verwertbarer Partyspaß konzipierten Überzeichnungen. Es liegt nahe, die Eigenwerbung des selbstbewußten Kunsthandwerkers auch als eine Selbstbeschreibung des klassischen Hollywoodkinos zu lesen.