theater

14. Mai 2009

Radio Muezzin Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) bringt vier Muezzine auf europäische Bühnen

Von Ekkehard Knörer

Es gibt einen nicht abreißenden Bilderstrom im Hintergrund. Auf Leinwänden sieht man Einspielungen von Videaufnahmen aus dem Kairoer Stadtbild, vor allem aber aus Moscheen. Vier Muezzine sitzen auf Plastikstühlen vor den Filmen und Fotografien. Manchmal ist der Bezug zu ihrem Leben sehr direkt erkennbar, sie strecken die Hand aus und sagen: Das da. Ist mein Sohn, ist ein Foto von meiner Begegnung mit dem Präsidenten der Malediven, ist der Minibus, mit dem ich täglich zwei Stunden zur Arbeit unterwegs bin. Auch der Theaterabend, den Stefan Kaegi (als Sublabel von Rimini Protokoll) unter dem Titel Radio Muezzin inszeniert hat, funktioniert als ähnliche Geste. Vier Muezzine und ein Radio-Ingenieur, alle aus Ägypten, die meisten leben und/oder arbeiten in Kairo, sagen dem Publikum implizit: Das da: bin ich.

Das ist die Dokumentartheatergeste von Rimini Protokoll. Auf die Bühne kommen Menschen, die den Zuschauern einen Eindruck von sich selbst geben. Man weiß nie ganz genau, ob sie wissen, was sie da tun. Was auch daran liegt, dass man, als Zuschauerin, auch nie ganz genau weiß, was man da tut. Wenn man zum Beispiel am Ende der Vorstellung klatscht. Was beklatscht man da eigentlich: die Muezzine dafür, dass sie die Reise nach Deutschland auf sich genommen und den Mut gehabt haben, in der Fremde vor westliche Augen zu treten? Oder sich selbst dafür, dass man so aufmerksam war die ganze Zeit, das alles so interessant fand und die Fremden auf der Bühne sympathisch zu finden einem nicht schwer fiel? (Obwohl der blinde Muezzin doch gesagt hat, dass er einem Schüler, der nicht spurt, schon mal Schläge verpasst? Habe ich das jetzt am Ende etwa auch beklatscht?)

Rimini Protokoll ist stets eine Veranstaltung, die einen in solche Zirkelschlüsse jagt: Das da: sind die. Das da: bin ich. Aber wir verhalten uns zueinander nicht wie Schauspieler, Stück und Publikum im Theater. Und aber doch! Wenn auch anders! Weil: Diese Stücke sind wie Dokumentarfilme, deren Figuren so lebendig werden, dass sie leibhaftig vor einem stehen. Sie sind wie wirkliches Leben, vor das eine unsichtbare Wand gestellt wird, so dass, was man sieht, immer auch zum Ausstellungs-, wenn nicht Museumsstück wird. Die Figuren treten in leise Distanz zu sich selbst. Sie führen aber auch ihr Leben als unspektakuläres Kunststück vor, das verdichtet sich immer wieder zu kleinen Szenen: Der Muezzin, der eigentlich Elektriker ist, schaltet die Ventilatoren an und wieder aus. Er setzt eine Essiggurke unter Strom. Der blinde Muezzin zieht seinen teuren Mantel und Turban an. Der Star-Koranrezitierer, der auch Gewichtheber war, stemmt Gewichte. Ist all das nicht heikel? Klar ist das heikel, aber auch und gerade um das Heikle ist es diesen Selbstdarstellungs-Performances zu tun.

Verblüffend ist, auf den zweiten Blick, dass Radio Muezzin nicht anders zu funktionieren scheint als andere Rimini-Protokoll-Abende auch. Selberlebensexperten führen auf der Bühne mit Erläuterungen vor, wie ihr Leben so aussieht. Die Kluft, die zwischen den Leben der Muezzine und dem eigenen Leben liegt, wird dabei nicht in den Vordergrund gerückt. Was wir alle gemeinsam haben, ist bekanntlich, dass wir alle verschieden sind. Der eine ist LKW-Fahrer auf den Straßen Europas (Cargo Sofia-X) , die andere Callcenter-Mitarbeiterin in Bombay (Call Cutta), der dritte ist ein Jungkommunist (Das Kapital) und der da ist nun ein Muezzin in Kairo. Aber alle, alle finden wir im subventionierten Off-Theater Hau 2 zueinander. Was ja schön ist. Und trotzdem: Man muss schon aufpassen, dass das nicht allzu possierlich wird und so tut, als wäre das das wirkliche Leben, als dessen sehr artifiziell hergestellte und wohl nur in genau dieser Konfiguration überhaupt mögliche Utopie man es vielmehr begreifen muss.

Die real existierenden Konflikte schleichen sich bei Radio Muezzin nur im Hintergrund ein. Als Übertitel zum Beispiel. Da steht, dass man den Gebetsruf der Muezzine nicht als «Lärm» bezeichnen darf. Und so, wie die Rufe im Theater auftreten, sind sie in der Tat alles andere als das. Sie sind schön, schließlich ist ja sogar der Vizeweltmeister im Koranrezitieren auf der Bühne vertreten. (Er kommt später, er sitzt an seinem Laptop, er füllt in Afrika Kathedralen mit mindestens 20.000 Gläubigen. Hier ist er aber sehr sanft, stemmt Gewichte und räumt wie nebenbei die Stellwand, hinter der Musliminnen sich zum Gebet zu verbergen haben, zur Seite.) Aber natürlich kann der Gebetsruf der Muezzine ein schrecklicher Lärm sein, wie einem Besucher von ihnen dominierter Städte glaubhaft versichern. (Der Anlass des Abends ist denn auch, dass in Kairo die Gebetsrufe vereinheitlicht werden sollen: Statt tausender individueller Rufer nur noch dreißig in Radio-Übertragung.)

Und noch etwas erfahren wir nur in den Übertiteln im Hintergrund: Es gibt auch Bilderverbote für die Filme, die da als Kairo-Impressionen vor sich hin laufen. Es dürfen darauf keine Esel und keine Hunde zu sehen sein. Und auch kein Müll. (Das ist unrein.) Von diesen Verboten liest man in den Übertiteln, während einer der Muezzine wieder sehr schön singt. Den Bildern sieht man das, was sie nicht zeigen dürfen, ohne diese Information als Laie keineswegs an.  Nur an dieser Stelle tritt die Kluft, die von der scheinbaren Selbstverständlichkeit der hergestellten Theater-Begegnungs-Vorführ-Situation überspielt wird, doch auf: als sie selbst. Wir da und die da sind uns womöglich doch nicht so nahe, wie die da uns für den Moment dieses Abends erscheinen. (Wie wir da denen da scheinen: das werden wir nämlich nie wissen.) Wir klatschen und der Elektriker-Muezzin klatscht mit. Dann beginnt er, wie von einem Berggipfel zum nahe gelegenen nächsten uns zuzuwinken. Was zwischen den Gipfeln liegt, ist freilich kaum zu ermessen. Die Muezzine treten ab und gehen demnächst mit dem Stück auf Europa-Tournee.

Radio Muezzin ist im Hau 2 in Berlin noch bis zum 16.05. täglich, jeweils um 20 Uhr zu sehen