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4. Juni 2009

Film und Videospiel Die Grammatik aktueller Videospiele beginnt sich vorsichtig von der des Films zu lösen

Von Thomas Schlömer

Half Life 2 – Episode 1

© Valve Corporation

 

In Braid, dem neuesten Videospiel des Amerikaners Jonathan Blow, findet sich ein Level, das sich auf den ersten Blick wie eine einfache Referenz an Nintendos Arcade-Klassiker Donkey Kong liest. Eine von einer angedeuteten Gorillastatue gehaltene Kanone feuert in kurzen Abständen immer neue Gegner auf eine Plattform, an deren Ende sie auf immer weitere darunter liegende Plattformen tröpfeln, wie Murmeln auf einer Holzkugelbahn oder der Wasserfluss eines Aquädukts. Der Wasser-Strom wird allegorisch gewendet in einen Gegner-Strom, mit dem sich der Spieler auf dem Weg zum Ziel – der Errettung der Herzensdame – konfrontiert sieht. Da nun die zentrale Spielmechanik von Braid aber die Manipulation von Zeit ist, belässt es Blow nicht bei einer einfachen visuellen Referenz, sondern gibt ihr den seiner Spielidee entsprechenden Twist. In diesem Level von Braid ist Bewegung im Raum streng gekoppelt mit Bewegung in der Zeit, Raum- und Zeitmanipulation also identisch. Wird die Spielfigur nach links bewegt, läuft die Zeit rückwärts, bewegt man sie nach rechts, läuft sie ganz gewöhnlich, steht sie still, so steht auch die Zeit. Folglich ist die Konstellation aller Figuren – genauer: die Konfiguration der kompletten Szene – deterministisch. Ganz gleich wie der Spieler seine Figur nun steuert, jedes Mal, wenn er sich bis zur höchsten Plattform vorgekämpft hat, ist der Weg durch einen Gegner versperrt. Man kann rennen, springen, klettern, man kann warten, auf- und abrennen, in dem Moment, in dem man die letzte Plattform erklimmen möchte, wartet ein und derselbe Gegner und tötet die Spielfigur beim ersten Kontakt. Der eigene Tod scheint unausweichlich.

Braid im Vergleich mit Kong

Natürlich lässt sich schließlich, nach ein wenig Nachdenken und Experimentieren, ein Weg finden, dem Gegner zu entkommen. (Die Tröstung eines jeden Videospiels.) Und doch genügt dieser Moment, den Spieler spüren zu lassen: Hier, in diesem Level, unter Verwendung dieser Spielmechanik, findet sich ein Destillat von Themen, das nur auf diese Weise, nur in dieser direkten Interaktion des Spielers mit einer Spielwelt, seine spezielle Wirkung entfalten kann. Nur weil der Spieler die (gleichwohl simulierte) Freiheit hat, seine Figur nach Belieben zu bewegen, er aber dennoch ohnmächtig scheint, den Lauf der Dinge zu verändern, entsteht ein spezifisches Gefühl für «Unausweichlichkeit» oder «Schicksal».

Diese sehr direkte Verknüpfung von Spielmechanik und Allegorie ist das Grundprinzip einer neuen Generation von Digitalspielemachern, deren Überzeugung es ist, dass Stärke und Ausdruckskraft ihres Mediums speziell in dieser Verbindung zu suchen sind. Die Einzigartigkeit ihres Mediums gegenüber anderen Künsten besteht nicht einfach nur in der «Interaktion». Sie besteht in der Aufladung von Interaktion mit Bedeutung. Zu dieser neuen Gruppe von Digitalspielemachern zählen neben Jonathan Blow Autoren wie Jason Rohrer (Passage), Kyle Gabler (World of Goo), Rod Humble (The Marriage), Jonathan Mak (Everyday Shooter) oder Petri Purho (Crayon Physics). Obwohl sie nur lose miteinander verbunden sind, kann man sie als eine neue Generation von Digitalspielautoren sehen, die sich vom ökonomischen und ästhetischen Korsett des Videospiel-Mainstreams lösen und Videospiele auf die Art und Weise machen, wie sie ihrer Meinung nach gemacht werden sollten. Losgelöst von Klischees menschlicher Avatare und ohne Anbiederung an narrative Konventionen etablierter Medien, insbesondere des Films.

Mag die Videospielbranche die Filmbranche mittlerweile ökonomisch hinter sich gelassen haben, so begreift sie doch den Film nach wie vor als eine Art ästhetisches und narratives Leitmedium. Nicht wenige der erfolgreichsten Digitalspielreihen – Grand Theft Auto, Call of Duty, Resident Evil – sind im Wesentlichen «Filme, denen ein Videospiel angeheftet wurde» (Duncan Fyfe). Ihre Entwickler tasten nach wie vor sehr vorsichtig die Möglichkeiten ihres Mediums für lineares Erzählen ab und fallen im Dienste ihrer Geschichten im Zweifelsfall lieber gänzlich auf nicht-interaktive Filmsequenzen zurück.So ist es nicht nur in First-Person-Shootern zur Konvention geworden, den Übergang vom interaktiven zum nicht-interaktiven Teil eines Spiels über das Format des Bildes zu markieren. In dem Moment etwa, indem im First-Person Shooter Crysis das Spiel die Kontrolle über die eigene Spielfigur übernimmt, und die freie Ich-Kamera zur Inszenierung einer nicht-interaktiven Sequenz einer kontrollierten Kameraführung überlassen wird, blenden die Autoren die bekannten «schwarzen Balken» am oberen und unteren Bildschirmrand ein und imitieren auf diese Weise das Cinemascope-Format des Kinos.

Szene aus Crysis

Der Spieler, kurz zuvor noch sein eigener Kameramann, wird zum Zuschauer und das Spiel zum Film. Ließen die Autoren dem Spieler zuvor noch große taktische Freiräume bei der Erfüllung gegebener Missionen, entscheiden sie sich nun bewusst gegen die «Natur» ihres Mediums. Die «cinematic experience», mittlerweile zu einem festen Ausdruck der Branche geworden, ist ihnen im Zweifelsfall wichtiger als die Interaktivität.Das Kernproblem aber, lineares Erzählen mit einem nicht-linearen Medium zu verknüpfen, besteht weiter. Auch andere Studios tun sich schwer damit, die ihnen gewohnte Erzählweise des Kinos auf ihr Medium zu übertragen. So besteht die «Lösung» des Entwicklerstudios Ubisoft Montreal in Assassin's Creed darin, während einer prinzipiell nicht-interaktiven Filmsequenz ein simples Umschalten zwischen vorberechneten Kameraperspektiven zu erlauben – ein doch sehr verzweifelter Versuch, einer Linearsequenz Interaktivität einzupflanzen. Eine anderer Lösungsversuch ist, das Problem zu fragmentieren und lediglich sehr kurze Erzählfäden zu verwenden. Letzteres verfolgen etwa die Autoren von Infinity Ward, Entwickler der immens erfolgreichen First-Person Shooter Serie Call of Duty. Anstelle einer durchgehenden Handlung versetzen sie den Spieler episodenhaft in die Rolle einzelner Soldaten historischer bis fiktiver Kriegsschauplätze und setzen dabei ebenso auf die «cinematic experience». Geschichte und, so im bislang letzten Teil Modern Warfare, Gegenwart werden schamlos auf ihren Sensationswert reduziert, ganz wie in den Actionfilmen Jerry Bruckheimers, die hier zweifellos Pate standen.

Konsequenter und deutlich interessanter sind da schon die Ansätze des US-amerikanischen Entwicklerstudios Valve. Statt der erzählerischen Herausforderung ihres Mediums auszuweichen, gehen sie mit ihrer First-Person Reihe Half-Life in die Offensive: Die Spiele übernehmen niemals die Kontrolle über die Figur des Spielers. Selbst die Titelsequenzen zu Beginn eines jeden Teils bleiben, in engem aber glaubwürdigem Rahmen, interaktiv und damit «spielbar». Auch der Wechsel in eine Third-Person Ansicht während primär der Erzählung dienender Momente – wie sie bei vielen vergleichbaren Titeln üblich ist – wird konsequent gemieden. Gleichwohl spielt man in allen Half-Life-Teilen eine Rolle und nicht etwa «sich selbst», versetzt in ein fremdes Universum. Auch wenn der Name dieser Figur, Gordon Freeman, vom Physiker Freeman Dyson abgeleitet sein soll, bleibt die Allegorie offensichtlich.

Half Life 2: Episode 1

Zur Freiheit der Interaktivität gehört für Valve dann übrigens auch, in entscheidenden Momenten nicht hinhören zu müssen. So wird die Handlung häufig über Dialoge diverser Nicht-Spieler-Charaktere (NPC) vorangetrieben, die sich zum einen untereinander, zum anderen auch mit dem Charakter des Spielers unterhalten. Während andere Studios dem Spieler in solchen Fällen aufgezeichnete Antworten in den Mund legen, bleibt Gordon Freeman in Half-Life konsequent stumm. Die Autoren lassen dem Spieler zudem bewusst die Freiheit, schlicht wegzulaufen und der Konversation keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken. Dass dies – bei allen Tricks, die Valve hier zur Anwendung bringt – weiterhin nicht die ideale Lösung ist, wird spätestens dann offensichtlich, wenn etwa Nicht-Spieler-Charaktere oder aus nicht erfindlichen Gründen verschlossene Türen ein allzu weites Ausbrechen des Spielers verhindern.

Ohnehin geht Valve bei seiner Half-Life-Serie aber zunehmend dazu über, nicht direkt zu erzählen, sondern indirekt. Das, was beim Film gemeinhin Mise-en-scène genannt wird und gleichberechtigt neben der Montage steht, wird beim Digitalspiel zum derzeit wichtigsten Ausdrucksmittel eines Autors. Weil der Spieler und nicht das Spiel (bzw. seine Autoren) die «Montage» und den jeweiligen Bildausschnitt bestimmt, wird die Inszenierung des Raums, man könnte auch sagen: der Bühne, umso wichtiger. Dass sich Interaktivität über eine subtile Mise-en-scène durchaus mit einem sehr raffinierten Narrativ verknüpfen lässt, bewies Valve dann 2007 mit dem Science-Fiction Shooter Portal.

Teaser Trailer zu Portal

Dessen Welt erschließt sich dem Spieler allein über den ihm offenbarten Raum sowie aus den sporadischen Sätzen des wahnsinnig gewordenen Zentralcomputers GLaDOS, der, wie sich schnell herausstellt, ein unzuverlässiger Erzähler erster Güte ist. Der Spieler erwacht als Gefangene in einer gläsernen Zelle und muss sich fortan wie eine Laborratte durch allerlei Versuchsanordnungen kämpfen, ausgestattet allein mit einer speziellen Waffe, die raumüberspringende Portale entstehen lassen kann. Schießt der Spieler etwa ein Eingangsportal in eine Wand neben sich und ein Ausgangsportal in eine Wand hinter einem Hindernis, lässt sich so auch der breiteste Graben überwinden: der Spieler muss lediglich durch das entstandene Portal gehen. Unter Hinzufügung einer glaubwürdigen Physik des freien Falls (GLaDOS: «Speedy thing goes in, speedy thing comes out») entstehen um diese Spielmechanik herum nun diverse Puzzles, die vom Spieler - erzählerisch eingebettet in die Versuchsanordnung eines Testlabors - gelöst werden müssen.

Der minimale Erzählrahmen und der Verzicht auf weitere Nicht-Spieler-Charaktere verstärken dabei den klaustrophobischen Eindruck, womöglich die letzte Überlebende eines Laborinstituts zu sein, das ansonsten - hinter gläsernen Wänden deuten sich überstürzt verlassene Büros an - absolut menschenleer ist. Die zunächst ausführliche Anleitung des Spielers, in der er mit der Portalkanone umgehen und einfache Testszenarien zu überwinden lernt, ist dabei nur die geschickte Erziehung des Spielers zu eigener Mündigkeit. Folgerichtig, aber darum nicht weniger brillant, läuft Portal auf einen Moment der Selbstbestimmung, der Loslösung von der «Mutter» – GLaDOS – hinaus. Der Spieler entkommt den sich zunehmend als tödlich herausstellenden Versuchsräumen und erhält einen Blick hinter die Kulissen.

Die Art und Weise, mit der Portal seine Geschichte hauptsächlich über den Raum lesbar macht und dabei gleichsam narrativ wie interaktiv bleibt, markiert einen ersten gangbaren Weg in die Zukunft erzählender Digitalspiele.