filmkritik

17. November 2008

Anlass zur Kritik. Schreiben über Film im Netz Vortrag zur Veranstaltung Im Netz der Möglichkeiten. Filmkritik im Zeitalter des Internet (Filmhaus, Berlin, 20.11.2008)

Von Ekkehard Knörer

1. Fehlstart

Vor drei Monaten gab es, online und offline, eine kleine Debatte um das Verhältnis von Internet- und Print-Filmkritik.

Ausgelöst hatte sie der Filmkritiker und langjährige Vorsitzende des Verbandes der deutschen Filmkritik Josef Schnelle mit dem Artikel «Warum wir die Filmkritik brauchen» in der Berliner Zeitung, dessen Untertitel (der wahrscheinlich nicht einmal von Schnelle selbst stammte) lautete «Die Internet-Blogs zersetzen das informierte und unabhängige Urteil». Der Vorwurf ging, kurz zusammengefasst, so: Mit der Möglichkeit für jedermann, im Internet eigene Texte zu Filmen zu veröffentlichen, geraten die Qualität und der Anspruch und die Standards seriöser Filmkritik unter Druck. Eine Meinung ist keine Kritik, ein Unterschied, der aber angesichts massenhafter unqualifizierter Äußerungen verwischt zu werden drohe. Deshalb, so die mindestens implizite Schlussfolgerung, solle die qualifizierte Printkritik die Linie im Sand deutlich markieren, jenseits derer amateurhaftes Bloggen beginnt.

Ich würde die Voraussetzungen der im Gefolge dieses Artikels kurz aufgeflackerten Auseinandersetzung (hier eine Erwiderung von mir selbst, hier eine von Ines Walk, hier Thomas Groh, hier ein Kommentar von Cristina Nord) gerne möglichst schnell hinter uns lassen, indem ich die Linie im Sand anders ziehe. Oder genauer: Indem ich andere, mehrere Linien ziehe und über die eine oder andere Linie auch mal springe, um zu sehen, wie die Wirklichkeit von der einen und der anderen Seite aus aussieht.

Beginnen möchte mit einem sehr einfachen und für jeden, der sich ein wenig in der Internet-Filmschreiber-Szenerie auskennt, überaus trivialen Hinweis, dem später Beispiele folgen werden. Der Hinweis ist dieser: Die Grenze zwischen Schreiben über Film mit professionellem Anspruch und amateurhaftem Schreiben ist mit der Grenze zwischen Online und Print alles andere als identisch. Das war sie nie, das ist sie nicht und sie wird es – alles mit guten Gründen – nicht sein.

Zwei falsche Prämissen mindestens enthielt meiner Ansicht nach Josef Schnelles Text. Die Unterstellung zum einen, dass das nicht-professionelle, schnelle, unreflektierte Äußern von Meinungen (über Film, aber auch über alle anderen Künste) im Internet in irgendeiner Weise illegitim und ein Problem sei. Ganz normale Zuschauerinnen und Zuschauer geben nun eben auch schriftlich kund und zu wissen, was sie sich denken, wenn sie Unterhaltung und/oder Kunst konsumieren – und oft genug denken sie sich halt wirklich nicht viel. Das mag, wer sich Illusionen über stinknormalen Unterhaltungskonsum macht, bedauern, es muss diejenigen nicht weiter kümmern, die für ein an der Sache ernsthaft interessiertes – bzw., der Unterschied ist für den Filmjournalisten natürlich entscheidend, ein daran ernsthaft interessierbares – Publikum schreiben. Auch die Zahl der grundsätzlich für ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Kino Interessierbaren ist begrenzt und, das sei gleich dazu gesagt, auch nicht dadurch beliebig zu erweitern, dass man vom gedruckten Papier ins von Zugangs-Schwellen und Zugangskosten weniger belastete Medium Internet wechselt.

Für seine zentrale, durch nichts belegte Behauptung versteckte sich Schnelle hinter dem US-Print-Kritiker Richard Schickel, der nämlich dekretiert: «Blogs gehören eher zum gesprochenen Wort. Das ist flüchtige Gesprächskultur. Mit der geschriebenen Filmkritik, einem respektablen Literaturgenre hat das nichts zu tun.» Das ist als Behauptung falsch schon deshalb, weil es pauschal ist. Es ist doppelt falsch, weil viele Autorinnen und Autoren online beweisen, dass sie sehr wohl Meisterinnen und Meister dieses Literaturgenres sind. Und es ist dreimal falsch, weil das Internet – in Blogs und anderen Formaten – die Möglichkeit bietet, viele der Begrenzungen und Zwänge, die für dieses Genre in Form von Zeitungs- und Zeitschriftentexte gelten, zu überwinden und hinter sich zu lassen und dadurch den Formenreichtum des Schreibens und des Denkens sogar zu erweitern. Und zwar durch größere Freiheiten des Stils und der Textform, die sich den prinzipiell veränderten Voraussetzungen verdanken.

Damit meine ich zum einen multimediale Formate, von denen im Print – anders als im Radio natürlich oder, leider nur theoretisch, im Fernsehen – nicht zu träumen ist, weil es da nur Fotos als anderes Medium gibt, das produktiv zu nutzen meist nicht die Zeit und die Gelegenheit ist. Es gehören aber auch und gerade und manchmal, wenn ich an das Ex-Cathedra mancher Feuilleton-Texte denke, scheint mir sogar: es gehören sogar in erster Linie jene von Schickel und Schnelle verachteten neuen flüchtigen Formen der «Gesprächskultur» dazu. Debatten in Blog-Kommentaren, Hinweise, Diskussionen, zu denen Kenner von allen Seiten etwas beitragen, mögen nicht an die Ewigkeit adressiert sein. (Als wäre es die Tageszeitungskritik.) Für den Moment bieten sie – bei Glenn Kenny etwa oder Dave Kehr – mehr an Witz und Anregung und Intelligenz als schockweise ins literarische Genre der Filmkritik gehörige Artikel.

Kurzum: Die etablierte Filmkritik in Zeitungen und Zeitschriften kann durch diese im Internet vorgeführten Ergänzungen und Erweiterungen nur gewinnen. Und zwar auch und gerade, weil sie manche per Tradition und manchmal einfach durch Denkfaulheit eingeschliffene Bequemlichkeit als solche erst kenntlich machen.

2. Anlass zur Kritik

Im Jahr 1994 war Matt Zoller Seitz, der damals als Filmkritiker für das Stadtmagazin Dallas Observer schrieb, Finalist für den Pulitzer-Preis für Kritik. Später wurde er fester Filmkritiker des Stadtmagazins New York Press, Mitglied des ziemlich exklusiven New York Film Critics Circle, schrieb für den Newark Star-Ledger und auch für die New York Times. Eine ordentliche Karriere, sehr viel höher geht es nicht in der Filmkritikszene der USA. Es gab auch, wie Zoller Seitz in einem vor ein paar Wochen erschienenen Interview meint, erst einmal keinen Grund zur Klage: «Ich hatte bei der New York Press und beim Star Ledger unglaubliche Freiheiten und vergleichsweise sehr viel Raum für meine Texte. Aber da war das Problem mit dem ‹Anlass›, dem ‹Nachrichtenwert› (‹news hook›)... Dabei bin ich der Ansicht, wenn einer gut schreibt und wenn der Autor eine Leserschaft hat, die sich für seine Ansichten und Interessen interessiert, dann ist es im Grunde völlig egal, worüber dieser Autor schreibt.»

Am ersten Januar 2006 setzte Matt Zoller Seitz diese Überzeugung in die Tat um. Ohne jeden weiteren Aufwand startete er beim Bloghoster Blogger.com unter der Adresse mattzollerseitz.blogspot.com ein eigenes Weblog mit dem Titel The House Next Door.

In einem der ersten Einträge befasst sich Zoller Seitz nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal mit Terrence Malicks Film The New World, von dem er glaubt, dass die Kritik ihm nicht gerecht geworden ist und über den immer wieder zu schreiben ihn bis heute nichts und niemand hindern konnte. (Er sagt im Interview auch: «Ich hatte dann den Ruf weg als der Typ, der immer wieder über Terrence Malick schreibt.») Ohne dass es geplant war, auch aufgrund eines privaten Schicksalsschlags, hat sich The House Next Door im Laufe der Zeit deutlich verändert und immer stärker in Richtung eines Gemeinschaftsblogs entwickelt.

Heute schreiben hier eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Manche von ihnen mit Print-Hintergrund, die meisten allerdings nicht. Manche Texte haben Anlässe (die Besprechung einzelner Folgen von Fernsehserien wie etwa The Wire, Battlestar Galactica oder Mad Men), andere nicht. Manche sind Übernahmen von anderen Blogs, andere nicht. Es gibt Kritiken, Links und Notizen, es gibt Festivalberichte, Porträts, kurzum: eigentlich alles, was die Filmpublizistik an Genres so her gibt. Und es gibt last but not least den Kommentarbereich, in dem nicht nur immer wieder sehr spannend und auch kontrovers diskutiert wird. Es ist nicht zuletzt der Kommentarbereich, der hier wie in Blogs überhaupt, dafür sorgt, dass ein Blog, eine Website eine soziale Unternehmung, ein Gemeinschaftsprojekt bleibt. Die Texte selbst sind von durchaus unterschiedlicher Qualität, das allermeiste davon könnte problemlos zum Beispiel in unabhängigen US-Stadtzeitungen wie dem City Paper von Baltimore, dem Austin Chronicle oder der LA Weekly erscheinen. Eines sind die Texte ganz gewiss nie: nämlich amateurhaft. Es gibt bei House Next Door keine gemeinsame Ideologie, aber doch etwas wie einen Gruppenzusammenhang, eine Bandbreite des Tons, ein Feld der Interessen, das von, nur Beispiele aus den letzten Wochen, Arnaud Desplechin über Essays zur Politik bis zu aktuellen Kino-Starts reicht.

Ich bin auf das Blog näher eingegangen, weil hier zentrale Faktoren dessen, was das Internet an neuen Formen und Chancen bietet, zusammenkommen. Nicht zuletzt macht der Weg von Matt Zoller Seitz aus dem Print ins Internet besonders deutlich, was das Netz über das vom Zeitungs- und Magazinjournalismus hinaus Mögliche bietet. In erster Linie: Die völlige Freiheit zu schreiben über das, was man liebt, das, was einem wichtig ist, über das, was man und sei's noch so zufällig neu oder wiederentdeckt. Das alles ohne ‹news hook›, ohne Relevanzdruck, ohne Anlass zur Kritik.

3. Zwischenbemerkung: Warum Kritiker nicht in erster Linie Journalisten sind

Ich halte es für ein fatales und weitreichendes Missverständnis zu glauben, dass Kritiker (seien es Film-, Literatur- oder andere Kritiker) in erster Linie Journalisten sind. Das hieße, einen zu geringen Begriff zu haben vom Geschäft der Kritik. Das ist mir sozusagen prinzipiell wichtig, weil es heißt, dass der Kritikerin und dem Kritiker mitnichten die handelsüblichen journalistischen Formate die von vorneherein und quasi-natürlich gegebene Ausdrucksform sind. Und sie sind es desto weniger, je stärker die Blätter, in denen sie oder er schreibt, normiert sind in Form, Ausdruck und auch im Gegenstand. Wenn etwa gefordert wird, dass große Produktionen groß besprochen werden müssen, weil sie große Teile des Publikums interessieren. Oder wenn man ganz auf Neustarts fixiert ist, also schlicht die Termin-Vorgaben von Wirtschaft und Industrie. Oder wenn «Kritik» nur noch als Serviceleistung begriffen und ödester Inhaltismus erwartet, jede Abschweifung, jeder Ausflug in Geschichte und Theorie und Formanalyse argwöhnisch beäugt wird. Und zwar im besten der Fälle.

All dies ist der Kritikerin als Kritikerin, obgleich sie die journalistischen Argumente ja versteht, von Herzen zuwider. Dies, nebenbei gesagt, ist eine der für meine Begriffe wirklich scharfen Linien, die es zu ziehen gilt. Und sie verläuft, und zwar weder so noch so, ganz und gar nicht zwischen Online und Print.

Während der Kritiker mit Liebe und Leidenschaft, mit Herz und Verstand an seinem Gegenstand, an dessen Form und Zusammenhang und Geschichte hängt, ist der Journalist in erster Linie dem Publikum zugewandter Vermittler. Die Kritikerin ist, kurz gesagt, in erster Linie ihrem Gegenstand verpflichtet, die Journalistin in erster Linie der Leserschaft. Das ist ein gewaltiger Unterschied, der dazu führt, dass der Kritiker als Journalist immer, bewusst oder unbewusst, erst einmal in sich selbst abwägen und vermitteln muss: zwischen seiner Treue zum Gegenstand und den Bedürfnissen der nicht spezialisierten Leserschaft.

4. Die totale Freiheit

Außerdem ist die Kritikerin, nimmt man den Begriff so anspruchsvoll, wie man es selbstverständlich tun sollte, immer auch Autorin, d.h. Verfasserin von Texten, auf deren Form es ebenso wie auf den Inhalt ankommt. Auch das macht für den Kritiker im Tages-, im Wochen- und sogar im Monatsgeschäft Kompromisse unausweichlich. Es können dabei natürlich hervorragende Texte entstehen und sie tun es. Manchmal verdankt sich das sogar den Kompromissen, die notwendig sind, manch einer läuft gerade unter diesen Bedingungen zu höchster Form auf. Das ändert nichts daran: Für den Kritiker als Journalisten sind Kompromisse immerzu nötig.

Als Autorin fürs Netz dagegen sieht man sich mit beinahe unbegrenztem Freiraum konfrontiert. Man kann ganz kurz schreiben und ganz lang, ganz hermetisch oder total populär, poetisch oder banal, assoziativ oder linear. Regelmäßig oder am Rand des Verstummens. Man kann das Gespräch mit der Leserschaft suchen oder verweigern. Oder darauf vertrauten, dass die Leserschaft, die es interessiert, schon finden wird, was man schreibt. Auf einem vor wenigen Monaten in New York auf Einladung der Zeitschrift Film Comment stattfindenden Symposion zur «Krise der Filmkritik» (Fragezeichen) beleuchtete Pascual Espiritu das Veröffentlichen im Netz von ihrer Seite als der Seite der Produktion aus: «Was aber Online-Diskussionen und die Community angeht, so ist das gerade der Reiz: Irgendetwas zu schreiben und auf die eigene Seite zu stellen und du wirst vom Publikum gefunden, statt dass du für ein Publikum schreibst. Das tue ich nämlich nicht.»

Das heißt: Im Netz kann man als Kritikerin nicht nur anders schreiben. Auch die Leserschaft ist potenziell anders strukturiert. Nämlich als zukünftige, nicht als schon ausgemachte Leserschaft. Nicht als Zielgruppe, die es möglichst genau anzusprechen gilt, sondern als kommende, als im Virtuellen zusammenkommende Gemeinschaft von Menschen, die mit einem die Interessen, die Leidenschaften teilen. «Das ist», meint Espiritu, «einer der Vorteile der Veröffentlichung im Internet, gerade im Vergleich mit einer Tageszeitung, wo dein Text am nächsten Tag schon verdrängt wird oder gleich ins Recycling geht. Im Netz verschwindet zum Glück das meiste praktisch nie mehr.»

Pascual Espiritu ist, obwohl ihre Texte von größter Expertise zeugen, keine «professionelle Kritikerin». Sie hat hauptberuflich mit Film sogar überhaupt nichts zu tun. Espiritu arbeitet unter der Woche vielmehr als Design-Ingenieurin bei der NASA und ist derzeit mit deren aktuelle Mondmission beschäftigt. Ihre Wochenenden aber verbringt sie im Kino und auf ihrer Website Strictly Film School schreibt sie unter dem Pseudonym Aquarello sehr kluge Texte über die Filme von zum Beispiel Eustache oder Rivette, von Bela Tarr oder Yoshishige Yoshida.

Man kann, als Kritikerin im Netz, ganz auf sich und die kommende Leserschaft gestellt, also wirklich buchstäblich schreiben, wie und worüber man will. Die Frage ist: Tut das dem Schreiben gut? Darauf gibt es ganz sicher keine eindeutige Antwort, aber: Die Erfahrung kann durchaus bestürzend sein. Eine Kritik, wie sie in Zeitungen steht, hat bei aller Variabilität doch einer ganzen Menge Konventionen zu gehorchen. Die Freiheit, die man als Blogger hat, kann selbstverständlich auch lähmen. Man muss sehr wohl seine Stimme erst finden. Man muss sie verlieren und lernen, sie wieder zu finden. Vielleicht kommt so etwas bei ernsthaften Kritikerinnen auch im Alltagsgeschäft der Filmkritik vor. Vor dem leeren Wordpress- oder Blogger-Editor zu sitzen und nicht zu wissen, was man da tut, aber doch zu wissen, dass man mehr oder weniger alles wenigstens wollen könnte, das ist eine grundstürzende Schreiberfahrung, die zu machen jenen besonders gut täte – und es sind im Tagesgeschäft so wenige nicht –, die sich ihrer Sache und ihrer Formen stets sicher sind. Denn zu wissen, dass man die Konventionen auch auf den Kopf stellen kann, nützt bei den sicher nicht vielen Gelegenheiten, bei denen man es dann wirklich mal tun sollte.

5. Öffentlichkeiten: Publizieren, Aggregieren

Einige der klügsten Kritikerinnen und Kritiker der Netzkultur nennen immer wieder einen zentralen Einwand gegen das Internet: Es verstärkt eine Tendenz zur Aufsplitterung einer Gesamt-Öffentlichkeit in spezialisierte Teilöffentlichkeiten, die einander kaum noch zur Kenntnis nehmen. Ich halte diese Diagnose nicht für völlig falsch, würde aber zum einen zu bedenken geben, dass solche Kohäsionsverluste des Öffentlichen erstens längst vor dem Aufstieg des Internet und des World Wide Web begonnen haben und dass das Netz somit abbildet und vielleicht auch verstärkt, was eine sozial, nicht technologisch begründete Tendenz ist. Dass zweitens Kohäsionen vergangener Art immer auch etwas mit mal unwillkürlichen, mal willkürlichen Blindheiten, mit Deutungshoheiten und Exklusionsmechanismen zu tun haben. Was als Gesamt-Öffentlichkeit scheinbar evident war, ist immer auch durch hierarchische Machtausübung und durch den Ausschluss von Dingen und Personen, die nicht dazugehören, bestimmt gewesen. Gegenöffentlichkeiten sind als Teilöffentlichkeiten im Netz durchaus ermächtigt durch neue Formen der Sozialisierung und Assoziierung. Und drittens und vielleicht wichtigstens erzeugt das Internet längst Kohäsionen und Verdichtungen ganz eigener Art.

Jedes einzelne Blog ist in der Regel schon – anders als herkömmliche Medien – kein reiner Sender, sondern ein Knotenpunkt, der im einen Atemzug Leserinnen anzieht, im nächsten vielleicht in Kommentaren zum Sprechen bringt und im übernächsten durch Links weiterverteilt. Es ist absehbar, dass sich die Teilöffentlichkeiten des Netzes in der Zukunft an zentralen Punkten zu großen Verteilerknoten verdichten werden. An diesen Punkten wird gesucht, gesammelt, selektiert und neu aggreggiert, was es Neues und Interessantes gibt. Auf dies Neue und Interessante wird hingewiesen und hingelinkt. Aufmerksamkeit wird verteilt und auch umverteilt. Wir alle kennen die Seiten, von denen ich spreche, wenngleich uns vielleicht noch nicht ganz klar ist, dass dies die teils schon gegenwärtigen und in jedem Fall die zukünftigen Zentren einer netzgestützten Öffentlichkeit sind. Für das Feld der Kultur und der Feuilletons ist das, wie wir wissen, in Deutschland der Perlentaucher. Für die Medien sind es Seiten wie turi2 oder meedia.de. Für das Kino existieren solche Aggregatoren in Deutschland erst in Ansätzen, nämlich bei Websites wie angelaufen.de oder film-zeit.de

Wie eine ganz neu und anders strukturierte Teilöffentlichkeit und die dazu passende Aggregator- und Verteilerstation in einem sehr viel weiter entwickelten Zustand ausshen, lässt sich freilich bisher vor allem im englischen Sprachraum studieren. Und zwar am täglich aktualisierten Aggregator-Blog Greencine Daily. Unermüdlich sucht, sammelt, selektiert und rubriziert David hier alles, wirklich fast alles Interessante, was auf der Welt in englischer Sprache zum Thema Film im Netz zugänglich wird und zugänglich ist. Eigentlich muss ich zu dem Thema nur Jonathan Rosenbaum zitieren, emeritierter Printkritiker, vielleicht der interessanteste seiner Generation, der heute weitgehend netzbasiert ist und bei der vorhin erwähnten New Yorker Veranstaltung meinte: «Wenn ich wirklich wissen will, was heute los ist im Kino, dann lese ich nicht mehr die New York Times, sondern ich wende mich an diesen Mann hier, David Hudson, der mir jeden Tag sagen kann, was in der Welt der Filmkritk rund um den Globus los ist.»

Noch einmal, weil es mir völlig unabweisbar scheint: Mit menschlicher Intelligenz auswählende und bewertende Aggregatoren wie Greencine Daily, aber auch reine Kritik- und Bewertungs-Aggregatoren wie Metacritic.com oder Rottentomatoes.com sind die neuen Zentren der spezialisierten Teilöffentlichkeiten. Sie werden, wenn sie es nicht heute schon tun, die vormaligen Autoritäten wie – exemplarisch – die New York Times als erste Anlaufstellen ersetzen. Ob Tageszeitungen als Orte, an denen das Geschehen der Welt Tag für Tag auf Papier zusammengefasst wird, überleben? Vielleicht ja als ein Art Meta-Aggregatoren im Netz, in denen Spezialisten für Ausblick und Übersicht das Zusammengetragene selbst noch einmal perspektivieren. Keiner kennt die Zukunft der Zeitung. Dass aber die herkömmlichen journalistischen Formen, zu denen eine rein sendende «Filmkritik», die sich noch dazu von den beteiligten Industrien vielfach instrumentalisieren lässt, dabei eine rosige Zukunft hat, wird kaum jemand glauben. Aber wer würde das bedauern?

Die Ersetzung hergebrachter Autoritäten durch aufmerksamkeitsleitende Aggregatoren bedeutet in jedem Fall eine gravierende Umwälzung der Aufmerksamkeitsstruktur und auch der kulturellen Hierarchien. Indem diese Aggregatoren nämlich sammeln, wählen und nebeneinander stellen, was nie nebeneinander stand, tun sie immer auch eines: Sie relativieren und sie unterlaufen jene Sorte Autorität, die sich nicht dem Wissen, dem Können, der schieren Qualität des Geschriebenen verdankt, sondern dem Ort, an dem es geschrieben steht. Die Zeit dieser Art Autorität läuft – Gott sei Dank – ab. Heute schon und in Zukunft erst recht kann, was ein paar Mittzwanziger in San Francisco in einem Podcast über Charlie Kaufmans Film Synecdoche, New York zu sagen haben, genauso viel Interesse finden wie die Ansicht der Kritikerin der New York Times. Und mit gutem Grund, denn im zeitlich nicht von vorneherein begrenzten Podcast (Stichwort: Gesprächskultur) und ohne große Rücksicht auf eine Zielgruppe wird der Film im besten Fall viel ausführlicher und komplexer und übrigens auch sehr viel witziger behandelt als in der von Manohla Dargis sehr virtuos gehandhabten und doch sehr einengenden literarischen Form der Kritik.

Die Ablösung der alten Autoritäten durch die Aggreggatoren bedeutet freilich nicht, dass die letzteren nun die Formen und die Strukturen der Macht der ersteren sich einfach aneignen könnten. Sie sind nicht einsame, aber weithin ausstrahlende Leuchttürme, sondern Knoten- und Passagepunkte. Was bedeutend ist und wichtig, welche Stimmen gehört werden und welche nicht, das hängt deshalb stärker als je zuvor von der Stimme selbst ab. Ob die Stimme nun aus Tokio oder San Francisco, aus Berlin oder Athen oder Manila kommt, ist ziemlich egal. Das Netz ist das Netzwerk und was Real-Life-Netzwerke zu Klüngeln macht, die Exklusion nämlich ohne Begründung, wird in den Internet-Netzwerken jedenfalls schwieriger. Das heißt aber auch: Indem sich der Diskurs globalisiert, wird alles, was nicht in englischer Sprache verfügbar ist, immer provinzieller. Das mag man bedauern oder auch nicht - es ist aber, wie vieles, das man hierzulande noch nicht wahrhaben will, längst ein Faktum. (Das ist selbstverständlich kein Plädoyer für jenes Dilettieren im Englischen, wie es die Wissenschaften zu ihrem Schaden schon länger erleben. Es ist ein Plädoyer für Übersetzen und Zweisprachigkeit.)

6. Schreiben über Film im Netz: Beispiele

Ich bin weit davon entfernt zu behaupten, dass alles gut ist oder wird. In den USA wird bereits sehr offen darüber diskutiert, ob es unter den revolutionär sich verändernden Umständen eine Zukunft für hauptberufliche Kritikerinnen und Kritiker geben kann. Die Lage bei den Tageszeitungen, aber auch den Stadtmagazinen ist prekär und wird beinahe täglich prekärer. Ob sich wirtschaftliche Strukturen entwickeln werden, die reinen Internet-Schreiberinnen und -Schreibern das Überleben vom Schreiben ermöglichen, das steht auf dem Spezialgebiet Film wie für den Journalismus insgesamt durchaus in Frage. Ein Berufs- oder Interessenverband wie der hier einladende wird sich darüber sehr den Kopf zerbrechen müssen.

Ein Blick auf die USA, deren Stand wir in ein paar Jahren wohl auch erreicht haben werden, zeigt Beunruhigendes und Beruhigendes zugleich. In den kommerziell betriebenen Zeitungen und Magazinen in den USA ist immer weniger Platz für eine Filmkritik, die den Namen verdient. Einige der interessantesten Stimmen dagegen veröffentlichen vor allem oder ausschließlich in Blogs und anderen Internet- oder Print-Publikationen, oft genug ohne kommerziellen Hintergrund. So problematisch das ist, es zeigt sich doch auch: der Vielfalt der Diskussion und dem Niveau des Diskurses muss es nicht schaden, dass eine Reihe der interessantesten Autorinnen und Autoren von dem, was sie schreiben, weder leben können noch – im Umkehrschluss, sie haben andere Jobs – müssen. Von keinem einzigen der Projekte, die ich im folgenden eher aufzählen als genauer beschreiben möchte, können – oder sollen – die Autorinnen und Autoren trotz kleiner Anzeigen hier oder da leben. Was aus Berufsverbandsperspektive ein Alptraum ist, muss für das Schreiben über Film keiner sein. Jedem, der Greencine Daily verfolgt, offenbart sich ein Reichtum der Stimmen offline und online, den es ziemlich sicher so nie zuvor gab.

Im folgenden nun nur eine kleine Auswahl von Online-Publikationen unterschiedlicher Machart und Form, von Stimmen, die so vermutlich nur dank des Internet jederzeit, auf der ganzen Welt, für uns, für Sie und für mich zu vernehmen sind.

Ich beginnt mit Some Came Running, dem persönlichen Blog, das der sehr witzige und unendlich kenntnisreiche Kritiker Glenn Kenny aufmachte, als er beim Filmmagazin Premiere.com rausflog. Er schreibt darin über Filmgeschichtliches, wann es ihm passt, er erkennt Ähnlichkeiten zwischen Hajime Sato und Hans-Jürgen Syberberg, er äußert seine große Zufriedenheit darüber, dass er sich nun über Oscar-Aussichten uninteressanter Filme keine Gedanken mehr machen muss. Und er weiß auch nicht so genau, wie es weitergeht.

Hier ist das grafisch radikal reduzierte Irgendwie-nicht-und-irgendwie-schon-Blog Academic Hack von Michael Sicinski, dem konsequent linken, konsequent scharfzüngigen und konsequent geistreichen Verfasser kurzer bis mittellanger Filmanalysen. Regelmäßig schreibt er zwar über alles, insbesondere aber auch über die unbekanntesten Experimental- und Avantgardefilmer, deren Namen ich nie gehört hätte, gäbe es Academic Hack nicht:

Hier ist, Sprung nach Frankreich, der genial bösartige, genial idiosynkratische Typ, der unter der Blogüberschrift Kühe in Halbtrauer (keine Ahnung, wie er auf diesen Arno-Schmidt-Titel kommt) mit ansteckender Leidenschaft und ohne Punkt und Komma alles und jeden beschimpft, der unter Cineasten was gilt und seine Helden wie Louis Skorecki oder Christophe Atabekian umso heftiger feiert. [Korrektur: Monsieur Zohiloff weist entschieden zurück, dass Christophe Atabekian einer seiner Helden sei. Ich entschuldige mich in aller Form. Es ist aber immerhin so, dass ich bei Kühe in Halbtrauer erstmals von Atabekians Einpersonenfilm "Polyeucte" gelesen habe. Ich dagegen verwahre mich gegen die Google-Übersetzung meines Namens in – es ist mysteriös – Sabine Sirat. E.K.]

Ich springe in die deutsche Szenerie, mache dabei aber ganz schnell, weil die Betreiber der folgenden Seiten alle hier sind und also selbst Auskunft geben können:

Hier ist das Filmtagebuch des Film- und Kulturwissenschaftsstudenten Thomas Groh, das nach Lust und Laune hinweist auf wichtige und unwichtige, blutige und unblutige Geschehnisse im Weltreich des Films.

Der Filmwissenschaftsstudent Lukas Foerster schreibt analytisch und ohne Rücksicht auf etablierte Formen und populäre Interessen in seinem eigenen Blog Dirty Laundry; dass da jetzt gerade ein Eintrag zu einem Film von Lino Brocka aus den Siebziger Jahren oben steht, ist bezeichnend.

Neben vielen anderen schreibt Lukas Foerster auch, wenngleich etwas konventioneller auf der Filmkritikseite critic.de, die im Vergleich zu den bisher vorgestellten Blogs ohnehin eher filmkritisches Business as usual und eher - Frederic Jaeger darf mich da aber gerne korrigieren – etwas wie eine Nachwuchsplattform für den Normalbetrieb ist.

Hier ist die New Filmkritik, herausgegeben von Michael Baute und Volker Pantenburg, eine Seite, die oft genug intellektuelle Strenge und poetische Klugheit und manchmal auch höhere Formen von Albernheit miteinander zu verbinden versteht. In einem der ersten Postings im November 2001 zählte Michael Baute auf, was er sich für das Blog gewünscht hätte:

-von Thomas Arslan eine Folge von Aufzeichnungen über Filme von Hou Hsiao Hsien und Abbas Kiarostami
-von Hartmut Bitomsky ein Fortsetzungs-Tagebuch zu den Dreharbeiten an seinem neuen Film
-von Gene Reuter eine knallige Serie über die Arbeit als Nachrichten-Kameramann
-von Jan Distelmeyer Notizen über Film Studies in den U.S.A. und in Deutschland
-von Antje Ehmann eine Reihe über europäische Querschnittsfilme
-von Harun Farocki einen vielteiligen Bericht über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schneiden und Schreiben
-von Michel Freericks Notizen zu den Vergessenen des Weltkinos
-von Claudia Lenssen eine Weiterführung ihrer «Liste des Unverfilmten» in mindestens 60 Folgen
-von Stefan Pethke Stücke über Suchen und Finden
-von Christian Petzold etwas über den bevorstehenden Angriff auf die Majors
-von Bert Rebhandl Anekdoten über den Wiener Filmtheorie-Korruptionssumpf, mit Namen
-von Angela Schanelec Texte über's Drehbuchschreiben

Manches kam so, das meiste kam anders. Wo aber anders als in einem für alle Stile und Gegenstände und Längen offenen Projekt, also einem Projekt wie diesem lässt sich so prinzipiell wünschen, so zukunftsfroh formulieren und so frei von Zwängen aller Art schreiben wie hier?

7. Epilog

Ich habe eine Menge wichtiger Dinge weggelassen. Die großen reinen Online-Filmmagazine wie Rouge und Senses of Cinema. Filmwissenschaftlich orientierte Seiten wie das Blog von Kristin Thompson und David Bordwell oder die deutsche Netz-Zeitschrift Nach dem Film. Nur erwähnen möchte ich zuallerletzt, auch wenn das vielleicht etwas unfein [und an dieser Stelle vor allem etwas selbstreferenziell, E.K.] ist, cargo, das von Bert Rebhandl und Simon Rothöhler, Erik Stein und mir konzipierte Online und Offline, Text und Multimedia, Blogförmiges und Theorieartiges verbindende Zeitschriften- und Internet-Projekt. Was uns vorschwebt, ist das beste aus beiden Welten, das ganz Aktuelle, das Vertiefende, der Blick auf den Tag und der Blick über den Tellerrand. Das erste Print-Heft wird im Februar zur Berlinale erscheinen. Es trifft sich gut und ist nicht ganz und gar dem Zufall geschuldet, dass die Website justament heute, wenn nicht gar jetzt ans Netz geht, gegangen ist, gehen wird oder gegangen sein wird. Für Anregungen und Fragen, Vorschläge und Kritik sind wir ab sofort offen.

 

Links:

Volker Pantenburg: Das Schweigen der Weblogs wird unterbewertet 
(new filmkritik, Vortrag bei derselben Veranstaltung)

Christoph Hochhäusler: Kleines Einmaleins der Filmkritik
(Zeit, 20.11., zum Thema Filmkritik und Internet)