serien 2019

3. Juli 2019

Alle sieben Jahre (wieder) Über 63 Up von Michael Apted

Von Ekkehard Knörer

© ITV

 

Der Auftrag von Granada TV an Michael Apted, 1964, London: Finde Extreme. Und so fand er: Kinder an noblen Public Schools, goldener Löffel im Mund, the world is their oyster. Und auf der anderen Seite: Kinder aus schwierigen Verhältnissen, Kinder aus Heimen, drei Mädchen aus einer Grundschule in East London. Zwanzig von ihnen, ein Ausflug in den Zoo, das alles eine Doku über Klassenverhältnisse unter dem Aristoteles-Motto «Give me the child until he is seven and I will give you the man», Gendering natürlich kein Zufall, es waren dann auch nur vier Mädchen dabei. Regie bei dem Film hat Paul Almond geführt, Apted war nur Assistent. Fortsetzungen waren gar nicht geplant, dann aber schien es dem Sender und Apted, der fortan die Regie übernahm, eine gute Idee, sieben Jahre später nachzusehen, was aus den Beteiligten wurde. 

Und dann immer so weiter. Anfang Juni lief im britischen Fernsehen 63 up, 56 Jahre folgt Apted, folgen wir, folgt  ein Millionenpublikum diesen zehn Leben. Folgt und erkrankt und stirbt und wird geboren. Die Zahl derer, die bei den einzelnen Filmen mitmachen, schwankt auch, von den zwanzig kamen vierzehn in den ersten Film, einer ging und kam nicht wieder, blieben zehn, auch nicht alle immer dabei. Nun ist die Erste gestorben, Lynn, plötzlich, 2013, statistisch war vermutlich genau das zu erwarten, auch dass die erste Tote aus der Kohorte der Unterprivilegierten kommt, ist alles andere als überraschend. Denn selbstverständlich sind die Lebenswege durch die Verhältnisse vorgezeichnet gewesen. Nicht determiniert, auch das ist ja klar, der Bauernsohn ist nun Professor für Physik an einer amerikanischen Universität, in 63 up, wie es aussieht, todkrank. Grundsätzlich aber gilt, und es bestätigt sich in den Biografien, noch wenn sie nach Australien führen: Herkunft aus finanziell und familiär schwierigen Verhältnissen heißt massive Einschränkung von Optionen, Kampf und Bangen um den Job, Unsicherheit auf Schritt und Tritt. Andrew aus gutem Haus dagegen, persönlich ist der Mann nicht verkehrt: Mit Heckenschere im Garten, nach einer Reise nach Japan nun durch die Gartenkunst dort inspiriert. 

John, der Snob, den man schon, als er sieben ist, zu hassen liebt, kann heute keine Klassenverhältnisse mehr erkennen. Na klar. Andererseits versucht er seit langem, Folge für Folge, gegen das Bild, von dem er merkt, oder zu merken glaubt, dass die Serie es zeichnet, zu kämpfen. Und Tatsache, das Bulgarien-Engagement, das ich zuerst nicht ganz ernst nehmen wollte, und so sehr sein Blick auf das Land der eines sich überlegen Fühlenden bleibt, ist wirklich ein beeindruckend wichtiger Teil seines Lebens. So rückt er, so rücken sich Dinge zurecht, wie andererseits, je länger die Serie geht, die Rückwirkung des Bildes, das die Serie produziert, auf das Leben der Dokumentierten, immer stärker zum Thema wird. Die Up-Serie ist ein Experiment am lebenden, am sehr lebendigen Objekt, nämlich Subjekten, deren Leben ganz gewiss nicht ganz genau so, zugleich mutmaßlich nicht völlig anders verlaufen wäre und weiter verliefe, wären sie alle nicht, nebenlebensberuflich, auch Darsteller ihrer selbst. Was auch heißt: Sie tragen Verantwortung vor mehr als nur dem privaten Umfeld. Sie wissen: Alle sieben Jahre klopft ein sehr spezielles Über-Ich an die Tür.

Tony, der Cabbie, war empört, als ihn Apted wegen ausländerfeindlicher Äußerungen anging: Das bin nicht ich! Diesmal neue Wendung. Tony, der immer die Torys gewählt hat, Tony, der für den Brexit gestimmt hat, Tony sagt jetzt: «Michael, you know, next time I might even vote green.» Tony hat auch strahlend die Anekdote erzählt, wie er einmal mit seinem Taxi Buzz Aldrin chauffiert hat, als ein Taxifahrerkollege kam und um ein Autogramm bat: Aber nicht von Buzz Aldrin, sondern von Up-Series-Tony. (Übrigens gegen den Brexit, wenn auch natürlich nicht aus Europaliebe: John. Auch er könnte, by the way, tot sein. Einen Sturz vom Pferd hat er, wie er erzählt, nur knapp überlebt.)

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind, vor allem in Großbritannien, ein bisschen berühmt. Nicht berühmt dafür, berühmt zu sein, sondern berühmt für ihr Leben, ja, geradezu dafür, so ganz und gar normal zu sein, was immer das heißt. Peter war einige Folgen lang nicht dabei, kam dann in 56 up zurück, und zwar, weil er ein bisschen vom Ruhm auf seine Folk-Band umleiten wolle. Sie hat den schönen Namen «The Good Intentions», macht ganz schöne Musik. Hat nicht so richtig geklappt mit der Ruhmumleitung, aber bei 63 up ist er trotzdem wieder dabei. Anders als Suzy, die schon lange große Schwierigkeiten hat mit der Serie. Die sich nicht treffend dargestellt fühlte. Sie bleibt präsent mit Bildern aus den bisherigen Folgen, aber diesmal nur der lakonische Satz im Sinn von: Sie wollte dieses Mal lieber nicht (der einzige ganz früh Ausgestiegene, der lustigerweise selbst Dokumentarfilmer wurde, hat sein weiteres Erscheinen mit Ausnahme eines einzigen Bilds – da sieht man ihn neben zweien, die blieben – untersagt).

Als Zuschauer möchte man dem Eindruck, den die Dokumentierten vom Eindruck, der von ihnen erzeugt wird, selbst haben, manchmal widersprechen, weil man ja weiß, dass das Bild, das die Serie und das Apted vor allem in den früheren Folgen durchaus zu produzieren versuchen (eher unbewusst als bewusst von Vorurteilen und Urteilen, Haltungen und Ansichten geprägt), sich nicht mit der Wahrnehmung deckt, die man selbst hat. Man entwickelt Sympathien, Interessen, von seinen eigenen Vorurteilen und Haltungen und dann auch den Versuchen der Selbstüberprüfung beeinflusst, das ändert sich ohnehin, es gibt niemanden mehr, den ich nicht mag, obwohl Bruce schon ausgesprochen langweilig ist. Man hat einfach zu viel zusammen erlebt, jetzt, wo es Richtung Tod geht und schmerzlich und tough wird, gilt das sowieso und erst recht.

Es ist dieses Gefühl des Anfangs vom Ende, das in 63 up dominiert. Die Leben sind arrondiert, manche schon im Vorruhestand, selbst Sue, die mit ihrem Verwaltungsjob an der Uni sehr glücklich ist, kann nicht leugnen, dass bald auch mal gut ist. Nicht unwahrscheinlich zudem, dass es zu 70 up nicht mehr kommt, Michael Apted geht auf die achtzig und ohne ihn, hieß es stets, geht es nicht weiter. Das ist auch für ihn, neben der langen Karriere in Hollywood, längst eine persönliche Sache. Alle sieben Jahre kreuzt er bei den Teilnehmer*innen auf, zwei Tage lang Interviews, aus denen man dann jeweils kurze Auszüge sieht. Folge für Folge lagert sich das neue Material ab über dem alten, audiovisuelle Jahresringproduktion. 

Es wiederholt sich dabei sehr viel, manches kann man als treue Zuseherin fast schon mitsprechen. Aber die Jahre vorbeirasen zu sehen, das Altern der Körper zu sehen und die Reflexionen der Beteiligten auf ihre eigenen Leben im Angesicht der dokumentierten Vergangenheit zu hören, dieses brutale, anrührende, verblüffende Zugreifen der Zeit auf sie alle mitzuerleben, im Leben, Leiden, dem Finden und Verlieren der Liebe, dem drohenden Scheitern, dem Gelingen, dem Umgang mit dem Verlust von Eltern und Freunden, dem Leben mit den Kindern, zuhause und dann auch danach, wenn sie aus dem Haus sind, das macht sie, wie Nick einmal sagte: zu mehr als nur den Individuen, die sie sind. Es tritt der Anteil von Everyman und Everywoman in jedem einzelnen von ihnen hervor. Das Bild, von der Gesellschaft wie vom Menschen, ist alles andere als komplett: Sie sind zu weiß (Symon ist die einzige Person of Color), zu männlich, zu hetero. Was für diese Generation und die Bilder, die von ihr zirkulieren, ja auch wieder nicht untypisch ist – und doch ergeben sie, allein sie schon, als Repräsentanten einer Generation kein einheitliches Bild. 

Und ohnehin ist natürlich jede und jeder von ihnen eine Welt. Die man sehr gerne alle sieben Jahre besucht, im Grunde ist das in den zwei Tagen jeweils aufgezeichnete und dann autorisierte Material sogar viel zu knapp. Mehr vom ganzen Leben wäre sehr schön, mehr auf und ab, so ist alles immer schon im Zustand des Resümees. Dokumentiert wird also weniger, wie das Leben sich anfühlt, sondern die gefilterte Fassung im Blick auf das Vergangene und den Status Quo. Aber auch die fühlt sich natürlich an. Für die Dokumentierten, die ihr Leben und das Dokumentiertwerten reflektieren. Und es kommt ja die Langzeitaufnahme des eigenen Lebens dazu. Sozusagen die private Rückseite des Ganzen, der rituelle Rückkehrcharakter: Alle sieben Jahre wieder.

Ich weiß gar nicht mehr: Habe ich die Folgen das erste Mal beim Stand von 42 Up gesehen? War es 49 Up? Von da an jedoch: hooked, mit Suzy und Sue, Neil (Neil, oh, Neil!) und Andrew vertraut wie mit Menschen aus dem eigenen Leben. Stimmt nicht ganz, aber doch fast. Ich erkenne Eigenes wieder in den Everyman- und Everywoman-Leben, das Schwinden und Finden der Liebe, alles ist ins Mitleben mit den Up-Leben verschlungen, in sie verstrickt: Schließlich lebt man die vergehende Echtlebenszeit ja selbst mit. Und kehrt, wenn man ins Leben der Zehn zurückkehrt, in die mehr oder weniger verschütteten Gefühle und Gedanken der eigenen Echtzusehenszeit genauso zurück. So ist die Serie ein Spiegel, in dem sich die anderen und man selbst und beides noch einmal längs durch die Zeiten überlagern: alles sehr vertraut und sehr unheimlich zugleich:  Das Leben halt, und die Liebe und dann auch der Tod.

63 Up lief Anfang Juni beim britischen Sender ITV. Außerhalb Großbritanniens derzeit noch kein offizieller Zugang per Stream oder DVD.