dokumentarfilm

Die wollten nur spielen Wie chaotische Netzwerkprozesse zu Netflix-Content werden: Über The Antisocial Network und Eat the Rich

Von Simon Strick

The Antisocial Network: Memes to Mayhem (2024)

© Netflix

 

Was die gegenwärtige digitale Kultur wahrscheinlich von allen vorherigen Kulturen unterscheidet, ist dieses: Die Kulturproduktion von Kindern und Jugendlichen ist im Netzzeitalter nicht mehr flüchtig. Sie wird gespeichert und bildet einen Großteil des Material­bestands der Timelines und Datenarchive der sozialen Medien. Kulturelle Produkte, Texte und Praktiken von 4-21jährigen – was man juvenile culture nennen könnte – sind ein mächtiger Faktor in der Herstellung von digitalen Öffentlichkeiten. Was vormals ohne Konsequenz in Sandkasten oder Kinderzimmer, an Spielplatz oder Bushaltestelle erdacht wurde an sozialen Riten, Revolutionen, Ästhetiken, Humorformen, Mikrofaschismen und spielerischer Innovation, entwickelt sich nun direkt in den Archiven und Verlinkungsstrudeln des Netzes und beeinflusst von dort den Lauf der Welt.

Die Dokumentation dieser Kultur passiert oft dort, wo sie entsteht, in den sozialen Medien. Teilnehmer der teilweise abseitigen Online-Kulturen erledigen sie selbst. Will man z. B. den Einfluss bestimmter adoleszenter Mikro­kulturen auf der Plattform 4chan nachvollziehen, so schaut man am besten zu Youtube, wo ehemalige forum dwellers, oft gerade volljährig geworden und auf dem Weg in die digitale Ich-AG, ihrer Selbsthistorisierung nachgehen. Mit diversen Professionalitätsgraden bereiten sie die kulturellen Vorgänge der Plattformen audiovisuell auf: Youtube ist ein Hauptmedium für diese wichtige ethnographic history (oder auch selfreflexive edutainment) des Internets von unten. 

Solche user-made-Geschichtsdokus gibt es auch zu den Ereignissen, die die beiden hier besprochenen Netflix-Dokumentationen The Antisocial Network: Memes and Mayhem (2024) und die Doku-Miniserie Eat the Rich – the Gamestop Saga (2022) verhandeln: einerseits die Einflussspur von juvenilen Trollkulturen auf 4chan zu QAnon und dem Capitol Storm im Jahr 2021; andererseits die Börsensaga um GameStop-Aktien im Jahr 2021, als Nutzer­Innen eines Reddit-Forums sich mit großen Hedgefunds anlegten und ein kleineres Börsenbeben erreichten. 

Netflix hat zu beiden Zusammenhängen Dokumentationen produziert, die chaotische Netzwerkprozesse als «Ereignisse» zusammenfassen, oder richtiger: Netflix hat content produziert. Denn beide Produktionen stehen in direkter Tradition (teilweise mit gleichen Bildern, O-Tönen und Dramaturgien) von Youtube-Dokumentationen zu diesen Themen (z. B. die GameStop-Doku von Cold Fusion oder die 4chan Einführung von Visual Venture).

Das ist als Erstes festzuhalten: Große Streaming­anbieter steigen in die Historisierung der vernacular internet culture ein, indem sie die Selbsthistorisierungs-Reflexe des Netzes kopieren, streamlinen und ausschlachten. Wir sehen also Derivate von Derivaten, kommerziell-hochauflösende Stilisierungen von Mythologien und Narrativierungen, welche die behandelten Online-Communities schon lange selbst hervorgebracht haben, um aus ihren Datenhandlungen und Forumbeiträgen abenteuerliche Lebenswege oder politisch-ästhetische Projekte zu machen. Von der depressiven Foristin zur Anonymous-Hackerin, die die internationale Politik erschüttert; vom Game-Nerd zum Börsen-Robin Hood, der mit Schwarmpower einen blutrünstigen Hedgefund erlegt – also relativ gewöhnliche coming-of-age Geschichten im Internetzeitalter, die dem Mythos des Nerds als Rockstar, Rebell oder Systemfeind anhängen. 

Ihre derivative Form macht die beiden Netflix-Produktionen nicht weniger wichtig: Sie gehen dem nach, was man zwei sehr zentrale Schlachten der sogenannten «Meme Warfare» in den letzten zehn Jahren nennen kann – das heißt das Umschlagen digitaler Kleinstkulturen, ihrer transgressiven Ästhetiken und Dynamiken, ihrer oft unklaren Politiken in öffentlichkeits- und gegenwartsbeeinflussende Bewegungen. Die Netflix-Produkte versuchen zu erklären, was in der Tat schwer einzuordnen ist: Wie gegenwärtige Politik und Wirtschaft von amorphen Netzprozessen und anonymen Forumkulturen, meist getrieben vom disruptiven Spieltrieb juveniler InternetnutzerInnen, radikal verändert wurden. Sie erzählen, wie aus Plattformen erst Kulturräume, dann politische Projekte und dann Weltereignisse entstehen – die Fabrikation von Realität aus dem virtuellen Raum heraus.

Auch wenn sie in erster Linie mythologisierend vorgehen – die Einflusslinien, die z. B. The Antisocial Network von 4chan-Trollen zu Donald Trump und zur Krise der amerikanischen Demokratie aufzeigt, sind aus Sicht des Rezensenten notwendiges Grundwissen, um Politik im 21. Jahrhundert analysieren zu können. Ohne 4chan im Jahr 2013 kein Maximilian Krah 2024. Selbiges gilt für Eat the Rich und die GameStop-Saga – wie Crypto Currency­, mass user daytrading und digitale Investment-Hysterien die (ohnehin schon) volatile Finanzwelt des liquid capitalism verändert haben, ist ein wichtiges Lehrstück der Gegenwart, und ließe sich ebenso für den globalen News-, Informations- und Desinformations-Markt erzählen.

Beide Dokumentationen leben vollständig von dem Material, das sie behandeln: Es kommen vor allem männliche Nerds als Zeitzeugen digitaler Revolutionen vor (die eigentlich ihre Jugendstreiche nacherzählen). Talking heads werden in Kinderzimmer-artigen Räumen und Hobby-Hacker-Zimmern interviewt, illustriert mit animierten Memes und Videoschnipseln aus der digitalen Populärkultur. Die Monotonie von Trading-Apps oder Forum-Diskussionen wird durch Emojis oder bunt visualisierte­ Datenexzesse aufgepeppt. Die Dokumentationen muten manchmal an wie Sesamstrasse auf Ketamin oder ein wilder Ritt durch überdrehte Meme-Kataloge und Nerd-Witze – genau wie es in einschlägigen Youtube-Dokus bereits ausufernd vorformuliert wurde.

Die narrative Folie, die beide Dokus für digitale Vorgänge angebieten, ist basal: Ein revolutionärer «Schwarm» formiert sich halb aus Langeweile, halb aus Selbstermächtigung, bekämpft und revolutioniert dann die verkrusteten Strukturen der kapitalistischen Welt. 4chan und Reddit sind hier ad-hoc Utopien, Gemeinschaften, sich über Stil (Humor, political incorrectness) und ein schwammiges good-evil Verständnis der Welt zusammenfinden. 4chan erprobte, wie in The Antisocial Network erzählt wird, seine memetische Macht des bösen Humors zuerst in einer Verunglimpfung von Scientology. Der Doku dient dies als Ausweis der guten Absichten der Nerds, die in der Folge korrumpiert werden vom eigenen Rausch der Troll-Macht: aus Scientology-Pranks werden Hitler-Witze, aus Froschbildern gegen Reaktionäre werden Trump-Stimmen und Alt-Right, aus einem Insider-Joke entsteht die weltweite Verschwörungstheorie QAnon, der noch letztes Jahr hochrangige PolitikerInnen anhingen. 

Eine ähnliche Erzählkurve beschreibt Eat the Rich: Von der Housing Crisis 2008 gebeutelt, vom Bailout der Banken enttäuscht, schließen sich NutzerInnen eines Reddit-Börsenforums zusammen, um die Videospiel-Ladenkette GameStop zu retten, deren Ruin gerade von gesichtslosen Börsenspekulanten besiegelt wird. Unter Anleitung von selbsternannten Aktiengurus auf Twitch handeln sie massenweise Aktien der bankrotten Kette, um einen sogenannten Short Squeeze zu erzeugen, bei dem die auf Kursverfall setzenden Hedgefunds bluten müssen. Durch Schwarmtätigkeit steigt die Aktie tatsächlich in astronomische Höhen, die Medien sind alarmiert, Manager verlieren Milliarden, und der Schwarm triumphiert als «kleiner Mann» gegen Finanzgiganten. Unabwendbar bricht der Squeeze dann zusammen, die rebellischen Microtrader häufen neue Schuldenberge an und neue Hedgefunds adaptieren das Schwarmverhalten als «socially mobilized investing», wie es in Eat the Rich heißt.

Beide Prozesse haben in der Tat stattgefunden, durchaus mit gravierenden Auswirkungen. Über die Anti-Heldengeschichte «How nerds stumbled onto power» werden aber entscheidende Aspekte ausgeblendet: dass hypermedialisierte Politik und intransparente Finanzsysteme anfällig für und abhängig von Schwarmdynamiken sind; dass der andauernde globale Rechtsruck vielfach unberechenbaren digitalen Impulsen folgt; dass sich in digitalen Foren seit den 2010er Jahren überwiegend rechtsoffene Transgressionskulturen ausgebildet haben, deren Teilnehmer mittlerweile Posten als Politikberater und Medienfunktionäre übernommen haben.

Diese Aspekte werden in den Dokus zwar mitunter deutlich, aber nicht explizit thematisiert, da die Romantisierung der «mighty digital anarchy» überwiegt. Die simplen Dramaturgien, mit denen die sogenannte «Graswurzel-Macht des Internets» hier erzählbar wird, berichten von wilden Energien, die «wie zufällig» erst dem eigenen Erfolg und dann dem Neofaschismus (Antisocial Network) oder der Gier des Börsenzockens verfallen (Eat the Rich). Dass sie derzeit systemverändernd wirkmächtig werden, bzw. teilweise bereits in die Infrastrukturen von Politik und Finanzwelt verbaut worden sind, bleibt bei Netflix’ cautionary nerd tales unterbelichtet. Die Frage wird nach dem Konsum der in jedem Fall sehenswerten Dokus dringender: Wenn anonyme Netzkulturen wie Reddit oder 4chan zu gesamtgesellschaftlichen Veränderungen – d. h. Ereignis- und Katastrophenproduktion – fähig sind, wie kann dieser Einfluss erzählt werden? Die Folie «freche digitale Boys gegen die alte Welt», sicher die Basismythologie der Technologie «Internet», ist kein tragfähiges Verständnismodell mehr. Mit dieser Folie ließe sich ebenso über «Rezo zerstört die CDU» erzählen (tolle Aufklärung aus dem Internet), wie auch über den identitären Aktivisten Erik Ahrens, der vorgibt, die TikTok-Strategie der AfD (und der gesamten deutschen Politik) revolutioniert zu haben (Demokratie/Faschismus aus dem Internet). Die Netflix-Dokumentationen füllen eine klaffende Lücke in der Einordnung der sogenannten «Digitalisierung», die von Medien, Fachbuchmarkt und großen Teilen der Wissenschaft offen gelassen wird: die Erzählung und Historisierung dessen, was man die Verschmelzung (und den teilweise katastrophalen Zusammenfall) von Krisenrealität und Online-Welten nennen kann. 

Dazu braucht es das Material, das diese Dokumentationen aufbereiten: ethnografisch-digitale Binnengeschichte der Sozialen Medien, abseitiges Nerd-Wissen, Zeitzeugen-Stimmen, Erkenntnisse über Effekte und Gruppendynamiken des digitalen Raums. Diese Dokus – so unterkomplex sie formal arbeiten – sind wichtig, weil sie zeigen, wie groß der Einfluss von anonymen Netzgemeinschaften ist oder sein kann. Wissen darüber ist in der Gegenwart zentral, denn, wie einer der Interviewten bei Eat the Rich beisteuert: «Its shocking how little these politicians understand the internet. I mean, it is insane.» Auch wenn die Aussage für das Gros der betroffenen Bereiche (Medien, Politik, Finanz, Wissenschaft, etc) korrekt ist, ist dieses Unwissen bei einigen Parteien oder auch Spekulanten nicht mehr gegeben: die Auswirkungen jener Strategie, die Steve Bannon und andere zuerst um 2014 herum entwickelt haben – «tap into the power of politically homeless adolescent nerds» –, diese Auswirkungen sind heute überall spürbar.

 

The Antisocial Network: Memes to Mayhem (Giorgio Angelini, Arthur Jones; USA 2024) und Eat the Rich – The Gamestop Saga (Dan Cogan, Liz Garbus; USA 2022) sind via Netflix streambar