serien 2022

To be them The Last Movie Stars

Von Simon Rothöhler

© HBO

 

1998, auf dem Weg zu einem geplanten Angelausflug mit seiner Tochter Nell, wollte der damals bereits 73-jährige Paul Newman, so wird es in der Familie erzählt, noch etwas entsorgen. Er fuhr zu einer Müllhalde, um Kisten voller Tonbänder und Manuskripte loszuwerden, auf denen «P.N. history» stand. Dort angekommen soll Newman die mitgebrachten Altlasten zur Sicherheit persönlich entflammt haben. Nähere Angaben, worum es sich bei den sorgfältig zerstörten Materialien handle, habe Newman nicht gemacht. Der Tochter kam das zwar alles etwas merkwürdig vor, sie stellte aber keine weiteren Fragen; der weltberühmte Vater – Schauspieler, Regisseur, Rennfahrer, linksliberaler Aktivist, Philanthrop, Stahlblaueaugenbesitzer, American Icon – war nicht zu jeder Zeit gesprächig.

Dass sich in den Kartons nicht einfach irrelevantes Altpapier und mit Fahrstuhlmusik bespielte Magnettonbänder befunden haben müssen, sondern das erstaunlich weitreichende und stellenweise auch überaus intime Oral History-Archiv eines legendären Hollywood power couples, wurde den Hinterbliebenen – Newman starb 2008 – erst vor Kurzem bewusst, als in einem Funktionsraum des sich weiterhin in Familienbesitz befindenden Anwesens in Connecticut ein jahrelang verschlossener Schrank aufgebrochen wurde. Außergewöhnlich an diesem Nachlassrestfund – mutmaßlich versehentlich nicht der Müllhalde übergebene «P.N. history»-Boxen mit rund 5000 transkribierten Manuskriptseiten – ist nicht zuletzt, dass dieser Fund nicht lange privat und geheim blieb, wovon neben einem gerade erschienenen Buch (Paul Newman: The Extraordinary Life of an Ordinary Man) auch eine während der Corona-Pandemie produzierte HBO-Dokumentarserie zeugt, für die – filmisches, televisuelles, fotografisches Archivmaterial pointiert montierend – ein erheblich enthusiasmierter Ethan Hawke verantwortlich zeichnet. Über dem Material schwebend, mit diesem hagiografisch Kontakt suchend, korrespondieren reenactete Stimmen aus Paul New­mans Privatarchiv: George Clooney spricht, das passt natürlich, Newman, Laura Linney die heute 92-jährige, an Alzheimer erkrankte Joanne Woodward; hinzukommen per Screencast mitgeschnittene Zoomunterhaltungen, u. a. mit Paul Schrader, Martin Scorsese, Sally Field, Zoe Kazan und Richard Linklater, in denen Hawke einen intergenerationellen Austausch mit der Geschichte Hollywoods kanalisiert: «What was it like to be them?».

Ursprünglich auf Tonband aufgezeichnet hatte diese nun zumindest bruchstückhaft für die fraglos interessierte Nachwelt überlieferten Gespräche Stewart Stern, ein Freund der Familie, filmhistorisch einschlägig vor allem für sein Drehbuch zu REBEL WITHOUT A CAUSE (1955). Es war Paul Newman, der Mitte der 1980er Jahren auf die Idee gekommen war, extensives (Selbst-)Gesprächsmaterial für seine angedachten Memoiren aufzunehmen, um dem öffentlichen Bild perspektivisch ein weniger formelhaft-kalkuliertes entgegensetzen zu können, und Stern deshalb bat, auch mit seiner (zweiten) Ehefrau Joanne Woodward und der erweiterten Familie sowie mit Hollywood-Zeitzeugen zu sprechen (darunter finden sich illustre Namen – abgesehen von den Familienangehörigen aber eigentlich nur Männer – wie Gore Vidal, Robert Redford, Elia Kazan, John Huston, Karl Malden, George Roy Hill, Sidney Lumet und Robert Altman).

In dem Waschraumschrankversteck konserviert waren nicht einfach durchschnittlich selbstbeweihräuchernde Mnemofragmente eines überlebensgroßen Filmstars – der (zwei Mal) Eddie – «The Hustler» – Felson, der Hud Bannon, Cool Hand Luke, Butch Cassidy usf. gewesen war; ein «ethical citizen» (Ethan Hawke), der für Eugene McCarthy in den Anti-Vietnamkrieg-Vorwahlkampf gegen Lyndon B. Johnson zog, am March on Washington teilgenommen hatte, sich 1971 auf Richard Nixons berüchtigter «opponents list» wiederfand und nebenher schließlich auch noch SCCA-Autorennen gewann –, sondern vielschichtig verzweigtes paper knowledge der anderen, hochpersönlichen, teils gar konfessionellen Art, das über eine Arrondierung von Newmans ikonischer Starpersona, zu der er ein zweifelndes, eigentlich entfremdetes Verhältnis unterhielt, doch deutlich hinausführt. 

In dem nun posthum öffentlich gewordenen «verschämten Archiv» (Arlette Farge) äußern sich Newman und seine zweite Ehefrau, die zu Beginn beider Karrieren, in den 1950er Jahren, eigentlich zunächst erfolgreichere Schauspielerin Joanne Woodward, ausführlich und offenherzig über ihre auseinanderdriftenden (aber doch immer wieder durch gemeinsame Projekte versuchsweise synchronisierten) Karriereverläufe, über Handwerk, Neurosen, Selbstverständnisse von Schauspieler:innnen, über ihre auf je eigene Weise schwierigen familiären Herkünfte aus Georgia und Ohio (auch: über Newmans «funktionierenden» Alkoholismus sowie den Drogentod des Sohnes Scott) und, ebenfalls sehr ungeschützt, über Szenen einer fünf Dekaden umfassenden Langzeitehe (eine eindrucksvolle Serie eigener Art, von der Hagai Levis Ingmar Bergman-Remake SCENES FROM A MARRIAGE (HBO 2021), in dem Oscar Isaac und Jessica Chastain Erland Josephsons und Liv Ullmanns 70er Jahre-Ehekrisenprototypen einer nicht uninteressanten Aktualisierung unterziehen, durchaus noch die ein oder andere Reflexionsstufe hätte lernen können). 

Denn darum geht es immer wieder in THE LAST MOVIE STARS, wenn es nicht um Paul Newmans skeptisches Selbstbild als failure, fake, phony oder «second banana» (Gore Vidal) geht: den hohen Preis, den Joanne Woodward für die gesellschaftlichen Gendernormverhältnisse ihrer Zeit zahlen musste, die sie erst, zu ihrem lebenslangen (und bemerkenswert entschieden geäußerten) Bedauern in die stereotyp-relegierte Mutterrolle zwingen und dann, qua ebenfalls gegendertem ageism, de facto von den Kinoleinwänden verbannen. Währenddessen avanciert der seit der frühen gemeinsamen Broadway-Zeit allseits als «very handsome», aber weniger begabt eingestufte Newman – der in seinen Anfangsjahren in peinlichen Sandalenfilmen wie THE SILVER CHALICE (1954) kaum einen geraden Satz herausbringt, während Woodward bereits 1957 für THE THREE FACES OF EVE ihren ersten Oscar einfährt – zu einem globalen Sexsymbol, ohne mit der ihm zugeschriebenen cool- bzw. hotness sonderlich viel anfangen zu können (in den überlieferten Manuskripten äußert er mehr als einmal, dass sein Appeal, eigentlich: seine Sexualität – on- wie offscreen – in jeder Hinsicht eine Erfindung, ein Epiphänomen Woodwards gewesen sei). 

Gore Vidal, routiniert geistreich, schlägt vor, Newman neben anderen ähnlich unterakzentuiert performenden, ebenfalls «zu schönen» Schauspielern einzureihen: «I think he will be remembered for something that in a curious way is very much like Henry Fonda, Gary Cooper. They are so good, no one knows they’re any good. And you can achieve a kind of perfection as a film actor that the people who – overexcited types who believe in the auteur theory – don’t notice.» Waren Woodward und vor allem Newman Stars einer Hollywood-Lastness? Aus der untergehenden Studioklassik entlassene, nun auf allen möglichen Bühnen schauspielende Entrepreneure des Selbst, deren Markenpflege integralen (offscreen) personalities galt? Oder waren sie, New Hollywood am Horizont, die ersten Selbstreflexiven eines unternehmerisch transformierten Starsystems – die ersten, die sich als letzte einer Niedergangsära inszenierten? Bei Newman kulminiert die Selbsthistorisierung bereits 1986, in Scorseses THE COLOR OF MONEY, wenn er sich plötzlich einer nochmal ganz anders polierten Personality gegenübersieht: einem Star frei von Selbstzweifeln, der mit bürgerlichem Namen Thomas Cruise Mapother IV heißt, gerade einen kampffliegenden Maverick gegeben hat und mit seinen 24 Jahren, so sagt er es Newman in dessen freilich mehr als gut gealtertes Gesicht, ab jetzt der neue Oberhustler sein will. 

 

The Last Movie Stars (Ethan Hawke) | 1 Season, 6 Epiosden | HBO/CNN 2022