provinzkinos unserer jugendzeit

Capitol (Ulm)

Von Imran Ayata

Ins Kino gehen, das taten die Anderen. Sie hatten erste Verabredungen, heute würden wir Dates sagen. Sie schauten Flashdance, Ghostbusters und bestimmt auch einen James Bond. Dann erzählten sie von Händchenhalten im Kino und Jungs prahlten, dass manchmal auch mehr ging. Bei diesen Ulmer Kinoraves meiner Mitschüler und Freunde in den 1980er-Jahren war ich lange nicht dabei. Damals hatte ich keine Freundin und Affären kannte ich auch noch nicht. Ich ging mit niemandem. So nannte man es früher in Ulm, um Ulm und um Ulm herum bestimmt auch. Warum ich nicht dabei war? Keine Ahnung. Vielleicht lag es daran, dass ich bisschen kleiner und nicht cool war, keine Markenklamotten trug, nicht in angesagten Cliquen unterwegs war. Und möglicherweise spielte es eine Rolle, dass ich ein Ausländer war – oder «Tirke» (man sprach Türke in Ulm gerne mit «i» aus). Irgendwann hatte ich dann doch so etwas wie mein erstes Mal, nicht als Date, sondern als Kinobesuch mit Kumpels. Mit zwei Freunden schaute ich Gegen jede Chance von Taylor Hackford. Diesen Streifen kann ich heute noch abrufen, weil Phil Collins den Titelsong zum Film Against All Odds (Take a Look at Me Now) beisteuerte. Ein Lied, das ich schon beim ersten Hören hasste. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Eigentlich könnte dieser Text hier enden, aber die eigentliche Geschichte beginnt erst. Denn in Wahrheit hatte ich in Ulm schon vor Gegen jede Chance Kinoerlebnisse, die meine deutschen Mitschüler und Freunde nicht hatten. Anfang der 1980er-Jahre wurden im Capitol in der Bahnhofsstraße, nur einen Steinwurf von Albert Einsteins Geburtshaus entfernt, an Wochenenden türkische Filme gezeigt – zu Uhrzeiten, an denen in Schwäbistan Autos gewaschen oder Kirchenbesuche abgehalten wurden. Exklusion und gesellschaftliches Nebeneinander haben in der Migrationsgesellschaft eine soziale Praxis. In diesem Fall fand sie ihren Ausdruck in Gastarbeiter-Matinees. Ob am Samstag oder Sonntag, dessen bin ich mir nicht sicher, sehr wohl aber habe ich das Bild gutgekleideter Erwachsener vor Augen – und von Kids, die eher widerwillig im Capitol waren und wohl lieber im Schuhhaus nebenan gewesen wären. Meine Eltern jedenfalls machten sich immer schick fürs Capitol. Mein Vater trug Anzug mit Krawatte, meine Mutter holte ihren Nerzmantel aus dem Schrank. Ich wollte damals weder Filme aus der Türkei schauen noch neue Schuhe haben. Dennoch saß ich mit meinen Eltern und meiner Schwester im Kinosaal und schaute Sürü (Die Herde) von Yılmaz Güney. Die Bilder auf der Leinwand, die erzählten Geschichten im Film, seine großartigen Schauspieler Tarık Akan, Melike Demirag, Tuncel Kurtiz oder Yaman Okay, all das war Teil unseres Lebens, das in Ulm aber kaum eine Öffentlichkeit hatte. Wahrscheinlich zeigten die Betreiber des Capitols türkische Filme, weil sie für sich eine neue Zielgruppe entdeckt hatten und hofften, ihre Auslastung im Kino zu erhöhen und ihre Einnahmen zu steigern. Dabei schafften sie Sichtbarkeit für Filme und Kulturen, die damals in Ulm überwiegend ignoriert wurden. Ich merkte, dass Sürü meine Eltern und die anderen Kinobesucherinnen und -besucher bewegte. Noch während des Films wurde geklatscht und gelegentlich Protest mit Buhrufen artikuliert. Das alles sind eher verschwommene Erinnerungsfragmente, doch in mir eingebrannt hat sich die Filmszene, in der der Protagonist (Tarık Akan), während er Berivan (Melike Demirag) auf dem Rücken trägt, die Ankara-Hymne summt, die er während seines Militärdienstes gelernt hat. Damals, als ich versunken im Capitol-Kinosessel gebannt Sivan und Berivan auf der Leinwand folgte, hatte ich keinen blassen Schimmer, welche politische und künstlerische Pointe Güney allein in dieser Szene gelungen war. Als wir einst das Capitol verließen, wusste ich, dass gerade etwas ganz Besonderes geschehen war, so, wie zwei Jahre später, als der Tod von Yilmaz Güney in Paris in der  Tagesschau verkündet wurde und ich eine heimliche Träne im Gesicht meines Vaters entdeckte.