medienwissenschaft

Schnelle Bücher machen Über Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder von Charlotte Klonk

Von Simon Strick

In dem kleinen, vielleicht unwichtigen, aber doch fahrlässigen Büchlein Revolution im Rückwärtsgang (2022) der Berliner Kunsthistorikerin Charlotte Klonk geht es um den 6. Januar 2021 und die mehreren tausend Menschen, die unter dem Motto «Stop the Steal/Trump Won» das Washingtoner Kapitol stürmten, um die Ratifizierung der Wahlergebnisse aus den Bundesstaaten der USA zu be- oder verhindern. Die Autorin führt auf ungefähr 50 kleinformatigen Textseiten (plus doppelseitige Bilder) knapp ein zur «Krise der Demokratie», um nach einigen Beschreibungsversuchen in der Schlussthese zu münden, dass es sich bei dem Sturm auf das Kapitol um eine «Retrovolution» handele, auf die Demokratien bisher keine Antwort hätten (S. 63). Eine «Retrovolution» ist laut Klonk ein Revolutionsgebaren, das keinen zukünftigen, sondern einen vorherigen Zustand (den der unangefochten regierenden weißen Männer) umstürzlerisch erreichen will.

Während der Erläuterung dieser These und des Geschehens am 6. Januar stellt uns die Autorin kurz viel Erwartbares vor: Postdemokratie (Crouch), Populismus (Laclau), gewandelte Öffentlichkeiten (Habermas, Butler), Pepe the Frog (Nagle). Die namensgebenden Retrotopien (Bauman) bleiben unerwähnt. Einige am 6. Januar präsente Flaggen werden beschrieben und bestimmte Akteure der «insurrection» knapp bestimmt (Oath Keepers). Gerne nennt die Autorin Bilder, z. B. vier Gemälde von John Trumbull (weil sie im Kapitol hängen), oder auch La rivoluzione siamo noi (Beuys) und Die Freiheit führt das Volk (Delacroix). Warum diese Bilder und Referenzen angeführt werden, bleibt unklar, denn aus keinem Beispiel entwickelt die Autorin eine tiefere Argumentation oder genauere Beschreibung. Eine Art der «Volkssouveränität» gegen die demokratische Souveränität des «Volkes» habe sich am 6. Januar ausgedrückt und ihren Weg gebahnt, und aus irgendeinem Grund müssen dazu Bilder der amerikanischen Demokratiemythologie erwähnt sein, ebenso wie beliebig ausgewählte Künstlerpositionen zu Revolution und/oder Volk.

Klonk erwähnt Aspekte, die sich fremder Forschung verdanken: z. B. dass militant-rechtsextreme Organisationen den 6. Januar entscheidend mitprägten; dass es den «Volkssturm» in digitaler und analoger Form schon Monate und Jahre vorher gab (Million MAGA Marches, Charlottesville); dass die Demonstrant*innen den antikolonialen Gründungsmythos der USA (1776) aufgriffen; dass sich keine Allianz der Verlierer des Neoliberalismus versammelte; dass es einen Zusammenhang mit den Black Lives Matter-Protesten gebe, die sich laut Klonk um «Gleichstellungsforderungen» (sic) drehen; und vieles mehr. Solche Kontexte werden zwar erwähnt, relevante Forschung oder deren Analysen zum Geschehen aber bleiben ungenannt. Auch führt Klonk diese Kontexte zu keiner neuartigen Deutung, die sich z. B. in Arbeiten zu Rechtsextremismus, den Flächeneffekten des Trumpismus oder den digitalen Kulturen der Alt-Right hätte finden lassen. Die Autorin verpasst so zahlreiche spannende und schwierige Kontexte, die den 6. Januar anders besprechbar machen: die neuen Formen digital-organisierter Protestkulturen von rechts; die Mésalliance aus Verschwörungstheorien, Desinformation und breitenwirksamen Alternativmedien; der rassistisch-systemfeindliche Grundton republikanischer Politik seit dem War on Terror; die bild- und aufmerksamkeitsgetriebenen Dynamiken digitaler Mobs; und so weiter. Manches wird kurz erwähnt, aber weder weitergedacht noch zusammengeführt. Eine «Kekistan»-Fahne wird mit leichter Unkenntnis in ihrer apokryphen Symbolik und digitalen Herkunft beschrieben; die am 6. Januar überaus präsente Südstaatenfahne – ein durchweg rassistisches Symbol – bleibt aber unerwähnt. Beides zusammen wäre eine These gewesen, die einiges beleuchten hätte können. Man hätte zur Inspiration oder Tiefenanalyse die Amerikanistik befragen können, die Medienwissenschaften, die Extremismusforschung, die vielen geschlechtsanalytischen und rassismuskritischen Ansätze zu white supremacy, toxischer Männlichkeit und so weiter. Nichts davon hier, denn Klonk reichen ein paar Populismus-Allgemeinplätze zur kurzen Einordnung des 6. Januar als «Retro» und zur fast kontextlosen Beuys-Erwähnung (weil das Bild in der Humboldt Universität hängt).

Für eine Bildwissenschaftlerin (Klonk hat zentrale Texte zu Terror und Bildern publiziert) irritiert nachhaltig, dass Klonk eine vor allem bildproduzierende Protest- und Gewaltbewegung – es existieren Terabytes an Privataufnahmen und Memes vom 6. Januar in den sozialen Medien – überhaupt nicht als solche begreift. Statt eine bildwissenschaftlich interessante Analyse zur massiven Bildproduktion und Selbstmythisierung der Teilnehmer*innen des 6. Januar 2021 (z. B. als Bilderterror) anzubieten, zeigt Klonk die offiziellen Getty-Images des fotogenen QAnon-Schamanen und verkürzt damit ein äußerst heterogenes rechtes Phänomen (neofaschistische Milizen, Trump-Wähler*innen, Passanten, Trolle, Verschwörungsgläubige, etc.) auf ein Populismus-Spektakel im Karnevalskostüm.

Wie in der Danksagung des Büchleins zu lesen ist, speist sich Klonks Schrift aus einem Beitrag im Blog des Merkur, einem Vortrag im Warburg-Haus, Diskussionen mit Patrick Bahners (FAZ) und der freundlichen Unterstützung des Verlags Walther König. Das ist als Genese völlig legitim, steht aber angesichts der allgemeinen Produktions- und Publikationsbedingungen von Forschung leicht schräg: Wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Doktorand*innen und Postdocs kommen selten zu eigener Forschung, leisten prekär strukturerhaltende Arbeit und müssen sich jede Publikation im Hinblick auf Innovation, Karrierefunktion und selbstgetragene Kosten gut überlegen. Eine Professorin für Kunstgeschichte und Mitglied der Leopoldina kann mit Hilfe einflussreicher Medienakteure eine argumentarme Kurzabhandlung veröffentlichen, wahrscheinlich weil sie einen für das Zielpublikum interessanten Vortrag gehalten hat. Angesichts vieler besserer Doktorand*innen-Vorträge und Seminardiskussionen, die ich zum Thema «rechte Flächeneffekte» und dem 6. Januar im Speziellen bereits erleben durfte, ist das so erstaunlich wie ärgerlich.

Mit dieser Entstehungsgeschichte ist das Buch aussagekräftig für einen Trend: Wie die überall erscheinenden Hosentaschenbüchlein zum aktuellen Tagesgeschehen zeigen (Suhrkamp Debatte, Matthes & Seitz Fröhliche Wissenschaft, Wagenbachs Bildkulturen), gibt es einen Bedarf nach akademischer Einordnung von aktuellen Ereignissen. Als Material dienen mitunter Vortragsmanuskripte, ausformulierte Twitter-Threads oder verlängerte Blogeinträge, sowie Netzwerke medialer Akteure, die daraus schnelle Bücher machen. Diese Zweitverwertung wissenschaftlicher Arbeit ist gut, weil das kleinere Format eine Bühne für Experimente bereitstellt und ein spekulatives Fragen möglich macht, wie es in Peer Review-Artikeln oder akademischen Qualifikationsschriften selten Platz findet. Nichts davon aber in diesem Buch, das wie eine Art intellektuelles Instagram zur «instantanen Gegenwartsdiagnostik» wirkt: Ein einflussreicher Name tütet ein wichtiges Polit- und Medienereignis anhand irgendwie akzeptierter Begrifflichkeiten ein, garniert es mit allseits bekannten Bildern und bespricht so das Objekt mit wenig Interesse für Details, Forschung oder Spezifik weg. Dass die Professorin weniger Spannendes zu sagen hat als viele Doktorand*innen, aber dennoch zum Buch kommt, sagt einiges über die hiesige Wissenschafts- und Feuilletonlandschaft und die Systembedingungen der Wissensproduktion.

Die Bild- und Kulturwissenschaften haben derzeit eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe: Sie müssen komplexe und gewaltvolle kulturelle Felder und Lager beschreiben und kontextualisieren, die in medialen Ereignissen wie dem 6. Januar 2021 sichtbar aufeinandertreffen. Medien, Bilder, Gewalt, Rassismus, Extremismus, Affekte sind wichtige Parameter, um die seismographisch agierende und provozierende rechte Gegenrealität zu erklären. Die Folgen dieses Informationskriegs sind für alle spürbar und folgenreich. Sie werden in ihrer Komplexität, Gewalt und sozialen Wirkung von den dominanten Disziplinen (z. B. Soziologie, Politikwissenschaft, Extremismusforschung) nur unzureichend beschrieben. Kulturwissenschaftler*innen sind als synthetisierende Agentur gefragt, um Genese und Auswirkung solcher Ereignisse in der Gegenwart beschreibbar zu machen: Wie und warum Tausende oder Millionen Menschen sich machtvoll zu einer Gegenrealität zusammenfinden, in der z. B. Trump wiedergewählt oder die Pandemie «geplant» wurde; oder wie und warum diese Gegenwahrheiten in mediatisierten Öffentlichkeiten so wirkungsvoll sind. Das sind eminent wichtige, auch spekulative Fragen für Kultur-, Medien- und Bildwissenschaft, die mit den etablierten Populismuskonzepten nicht zufrieden sein können. Keine Idee zu diesem Komplex findet sich im leeren Denken dieses Vortrags in Buchform.

Charlotte Klonk: Revolution im Rückwärtsgang. Der 6. Januar 2021 und die Bedeutung der Bilder (Walther König 2022)