L'incident Über Christian Gaillys Romanvorlage zu Les herbes folles
Auf Seite 16 kommt die Sache ins Rollen: «Hatte keine Zeit, ihre Handtasche zuzumachen. Man rempelte sie an. Man riss sie ihr weg. Wer, man? Immer mit der Ruhe.» – 15 Seiten später wird aus der Begebenheit ein Zwischenfall: «Am Kotflügel war nichts, nein, aber neben dem Rad, nah am Reifen, einem schlauchlosen Pirelli, gespiegelt in der Radkappe, lag auf dem Boden. Lag was? Eine Sekunde, ich schau nach. Georges bückte sich ein bisschen, richtete sich wieder auf. Und? Ja, das ist eine Brieftasche, und dann noch etwas, ich weiß nicht, was.» Nehmen wir an, es ginge einem lediglich um die Handlung. Dann könnte man ebensogut und einfacher sagen: Einer Frau wird die Handtasche gestohlen, ein Mann findet wenig später ihre Brieftasche. Alles Weitere folgt daraus. Allerdings wäre Alain Resnais in diesem Fall nicht auf die Idee gekommen, den Roman zu verfilmen, aus dem beide Stellen stammen: L’Incident von Christian Gailly, erschienen 1996. Mehr noch: Die Handlung war für Resnais’ Interesse unerheblich – er wollte einen der 13 Romane von Gailly verfilmen, egal welchen.
Es sind Fragen des Stils, der Form und des Tonfalls, die Alain Resnais an Christian Gaillys Prosa interessiert haben. Der Kameramann Eric Gautier hat in den Cahiers davon berichtet, wie er gemeinsam mit Resnais nach filmischen Entsprechnungen zu den abrupten Sprüngen, synkopischen Rhythmen, zum Zögern und den Wechseln im Tonfall gesucht hat. Zur «unlogischen Logik», wie Gautier das nennt. Bei Gailly hat die Syntax Schluckauf und der Satzbau ist anfällig für narkoleptische Kurzschlafattacken. Es gibt bei ihm immer wieder Figuren, die. Oder Frauen, die wiederholen, dass. Statt auf drei Punkten von der Ellipse ins Offene zu tänzeln, stockt der Leser vor dem brüsken Punkt.
Die Eigentümlichkeit des Romans hängt aber nicht nur mit dieser idiosynkratischen Rhythmisierung zusammen, die den Spielraum grammatikalischer Korrektheit oft großzügig auslegt. Mindestens ebenso bemerkenswert ist die Haltung des Erzählers, durch dessen Filter uns die pathologische Annäherung zwischen einem Vorstadtfamilienvater und einer alleinstehenden Zahnärztin und passionierten Freizeitpilotin präsentiert wird. Zwar verfügt der Erzähler über alle Allüren der Allwissenheit, doch nutzt er diese Allwissenheit vor allem dazu, uns so gut wie alle Hinweise auf Georges’ Vergangenheit vorzuenthalten. Offenbar kennt er dessen latente Mordgelüste und buñuelsche Obsessionen, aber bei aller Eskalation in der Annäherung von Georges und Marguerite verrät er wenig bis nichts über ein vergangenes und offenbar gravierendes Delikt. Er verfügt souverän über die Innenwelten der Figuren, weiß über Marguerite Muirs Ängste und Gedanken ebenso Bescheid wie über die von Georges’ Frau Suzanne, aber so viel er uns auch mitteilt, so dunkel bleiben die Motivationen. Und einmal, da ist der Roman schon fast zu Ende, offenbart er sich einen kurzen Augenblick lang als jemand, der Marguerite gut kennt und wie Georges und Marguerite mit den Details der Sportfliegerei bestens vertraut ist. Anders gesagt: Er ist kein allwissender, sondern ein auf beunruhigende Weise «unmöglicher» Erzähler.
Resnais gibt dieser ominösen Instanz eine konkrete Stimme, er scheut nicht davor zurück, in den ersten Minuten seines Films eine planvoll unübersichtliche Situation zu etablieren, mit der Stimme des Erzählers im Off, mit Dussolliers/Palets innerem Monolog, mit Dialogen und einer Kamera, die ornamentale Kurven beschreibt und schwerelos vom Boden abhebt, als nähme sie das Kunstflugthema des Buchs beim Wort. Die Ebenen, die im Roman manchmal innerhalb eines Halbsatzes wechseln, verteilt Resnais auf Voice-over, inneren Monolog und die Dialoge, und er schaltet diese Funktionen so souverän an und aus, wie man den Vierradantrieb zuschalten würde, wenn es in schweres Gelände geht. Oder vielleicht auch einfach so. Das Motorengeräusch klingt so gut.
Resnais hat sich selbst als «zügellosen Formalisten» bezeichnet und in Gailly einen Wahlverwandten gesehen. Wenn man den Roman liest, merkt man, dass Les Herbes folles das Zeugnis einer beinahe angsteinflößenden Treue zur Romanvorlage ist. Aber es ist eine Treue zweiter Ordnung, die mit den genauen Entsprechungen im Plot ebenso wenig zu tun hat wie mit den gezielten Abweichungen. Wie Anne Consigny, die George Palets Frau Suzanne spielt und heute 46 Jahre alt ist, seit 30 Jahren mit ihm verheiratet sein soll, weiß allein Alain Resnais. Und dass Marguerite Muir im Buch rund 20 Jahre jünger ist als ihre Darstellerin Sabine Azéma, gibt der Obsession einen anderen Charakter, aber letztlich tut es nichts zur Sache. Eher deutet es darauf hin, dass Resnais eben seine Mittel in Anschlag bringt – seine Schauspieler und sein Team –, um mit ihnen so virtuos zu verfahren wie Gailly mit der Sprache.
Das Buch endet mit der letzten von acht Checklisten, in der die Handgriffe nach der Landung nüchtern aufgezählt werden. Resnais’ Film dagegen versetzt sich selbst noch in einen letzten Schwindel, nachdem das Sportflugzeug hinter dem Waldrand verschwunden ist. In großer Eile gleitet die Kamera nach links, entlang den Büschen, über einen Friedhof und ein Feld. Sie schwebt den Kirchturm hoch und durch eine bizarre Felsformation hindurch, über eine Wiese, einen Feldweg entlang auf einen Hof zu, über den Kopf der Mutter auf das Kind im Bett zu, das eine absurde Frage nach Katzen und Kroketten stellt, die im Buch an einer ganz anderen Stelle steht. Nichts hat uns auf diese Bewegungen vorbereitet, Buch und Film sind Studien über das Unvorhersehbare. Man wird lange suchen müssen, um eine Adaption zu finden, die sich so eng an ihre Vorlage anschmiegt und zugleich vollkommen autonom und frei wirkt.
Christian Gailly: L’Incident (Les Éditions de Minuit 1996/2009)