provinzkinos unserer jugendzeit

Zeitdiebstahl

Von Elfriede Jelinek

Ich bin in Wien, im 8. Bezirk, aufgewachsen und oft ins Kino gegangen. Keines dieser Kinos existiert mehr. Das ist wirklich so, als hätte jemand dort in der Gegend das Licht abgedreht. Die Filme, die ich gesehen habe, in einer Technik, die ich natürlich nicht durchschaut (und nach der ich auch nicht gefragt) hatte, ich wollte ja nur schauen, nicht durchschauen, wurden also ans Licht gehoben, geschoben, die Technik begann zu arbeiten. Sie bringt ja bekanntlich Dinge zum Erscheinen, die sich nicht von selbst zeigen. Und so ging es also mit dem Zeigen gleich los, nachdem es im Kinosaal finster wurde, jeder kennt diesen Moment, wenn vorn eine ganze Welt wie die Sonne aufgeht. Licht kennt schließlich jeder, und jeder weiß auch, wie es ausgegangen ist, wenn das Licht wieder angeht. Man ist gefangen. Alles daher umso geheimnisvoller, was mußte man auch fragen, es wurde einem ja gezeigt! Doch da war etwas dazwischengeschaltet, etwas wurde in Gang gesetzt, das sich aber nicht direkt verwerten ließ, was auch wieder ein Kennzeichen von Technik ist. Irgendwo mußte jemand ja die Bilder reinwerfen, die ich als Kind bestaunt hatte und begrüßt als etwas, das mich aus der Zeit rausgeholt hatte, gleichzeitig aber mir selbst Zeit genommen hatte (ich wollte mir nicht Zeit fürs Kino nehmen, sondern daß das Kino mir Zeit nimmt), was mir sehr willkommen war, ich hätte in dieser Zeit ja auf drei, vier Musikinstrumenten üben müssen. Die Zeitdiebin Film hätte von mir aus ruhig öfter kommen dürfen. Sie ist auch mindestens einmal die Woche gekommen und meist öfter. Daß sowas Schönes wie Film entsteht, konnte aber nichts Technisches haben, obwohl es aus technischen Erfindungen entstanden ist. Etwas damals, als ich ein Kind war, vollkommen Undurchschaubares hat mich zum Schauen gebracht, eigentlich hat es mich wieder zum Konkreten zurückgebracht, es hat mich dort abgeworfen, denn Kino war nicht nur Zeitdiebstahl und das Anstückeln meines Lebensgewands durch etwas anderes als Zeit, das doch auch wieder Zeit war, aber eben eine andre Zeit, und die Handlungen, die auf der Leinwand stattfanden und immer noch stattfinden, waren ja in einer wieder ganz andren Zeit passiert, in der sie gedreht wurden, sondern Kino war vielleicht eher das Abholen von etwas, das ich nicht bestellt hatte, das aber trotzdem fast immer genau das war, was ich wollte. Doch alles Tun war verborgen, das, was dabei herausgekommen war, daher das Unverborgene. Das alle sehen mußten, die halt grade anwesend waren. Alles ist schon vergangen, was gezeigt wird, in der Gegenwart des Kinos schleppt man ja Vergangenes als Gegenwart ein, oft noch blutend und schwitzend von der Arbeit (labour, das Wort für Arbeit wie für: in den Wehen liegen), eine Nachgeburt dessen, was aufgenommen worden ist und jetzt vom Zuschauer aufgenommen wird, aber anders (man müßte hier immer dazuschreiben: aber anders), ja, Nachgeburt, das Blutige, das folgt, nachdem das Eigentliche, die Geburt, stattgefunden und das Schreien und Stöhnen ein Ende hat, aber anders, genau: das Ausstoßen des Rests nach der Geburt, die diese Schwerelosigkeit der Bilder erzeugt hat.

Meinen ersten Film habe ich im winzigen Albertkino angeschaut, das es schon seit Jahrzehnten nicht mehr gibt, auf der Josefstädter Straße, davor die Haltestelle vom Fünfer und vom J-Wagen, den es auch nicht mehr gibt, Straßenbahnhaltestellen. Ich bin in der Laudongasse aufgewachsen und hatte es nicht weit. Der Park meiner Kindheit war der Schönbornpark, und einmal bin ich mitten im Tratschen mit Nachbarsteenagern aufgesprungen und in dieses Kino gerannt, weil ich unbedingt Carmen Jones noch einmal sehen wollte. Aber der erste Film, da war ich noch ein Volksschulkind, war Andersen und die Tänzerin, ein Film über eine Geliebte des Dichters. Da ich schon früh mit Ballett (das auch noch!) begonnen hatte, wollte ich unbedingt, noch bevor ich Ballett in der Oper live gesehen hatte, eine Tänzerin tanzen sehen, die wußte, wie das ordentlich gemacht wird, das Spitzentanzen. Ich bin voll auf meine Kosten gekommen, das weiß ich noch. Ich glaube, daß fast jeder Mensch vom ersten Kinofilm, den er gesehen hat, ein Leben lang überwältigt ist, weil er, auch wenn er die Technik dahinter beherrscht oder zumindest versteht, dieses Immaterielle, das gleichzeitig das Wirkliche ist und der Leinwand entrissen werden müßte, wäre es nicht ohnedies einfach da, ohne eigenes Zutun, also das Wesen, das ans Licht gehoben wird (noch eine Geburt) und jedes Fragen danach verbietet und ein Nachfragen auch, ja, also dieses Wesen ist angekommen. Denn was man, zumindest als Kind oder sehr junger Mensch tut, ist nicht das Dahinterschauen, wie es gemacht wurde, sondern das, was man im Kino als Wirklichkeit sieht, eben ohne zu fragen, ist wahr, egal, wer es gemacht hat. Es ist jetzt wahr. Sowas kann man doch nicht erfinden und dann auch noch herstellen! Das Wirkliche gibt etwas von seinem Bestand her, das Räderwerk dahinter interessiert einen erst mal nicht. Die Dinge, die man im Film sieht, tragen nichts von ihrer Herstellung auf sich, sie sind das, was die Wirklichkeit einfach so hergibt aus ihrem Fundus. Im Kino läuft Lebenszeit auf der Leinwand ab, es läuft die eigene Lebenszeit ab, und das geht irgendwie parallel, die zwei Zeiten knurren sich an, aber sie tun einander nichts, sie schmiegen sich sofort aneinander, sie kommen gut miteinander aus. Film ist Bild in der Zeit, Zeit wird Bild, wir sind im Bilde. Wir stellen uns der Technik des Filmens und Abspulens von Filmen, wir reißen uns die Bilder aus der Wirklichkeit heraus, und doch tun wir nichts dazu, es wird alles schon getan, wir parasitieren von der Wirklichkeit, indem wir uns etwas aus ihr herausnehmen, ohne uns dabei «etwas herauszunehmen», also ohne Anmaßung oder Unhöflichkeit, aber auch das ist kein willentlicher Akt, denn es wird uns, da wir uns eine Kinokarte gekauft haben, ja angeboten. Wir dürfen uns bedienen. Es war ja auch irgendwie überwältigend, daß ich da in einem Kinosessel saß (Klappsessel, schon abgesessen von andren wie mir, es war ein altes Kino) und nichts entbergen oder für mich herausschlagen mußte, sondern, indem ich die Bilder an mich gerissen hatte, etwas, schwerelos, ohne eigenes Zutun, eben: bekommen habe. Bis es zu meinem eigenen Bestand wurde. Es ist alles hier drin, in meinen Augen, auch wenn ich viele Filme längst vergessen habe, es gehört mir. Vielleicht weil ich nichts dazugetan und nichts weggenommen habe, weil ich nichts dafür getan habe. Ja, also Film ist ein Geschenk, eine Gabe gegen eine kleine Abgabe, die jederzeit leistbar war. So habe ich das damals wahrgenommen. Und natürlich alles für wahr genommen. Das versteht sich, ohne daß man es versteht.