dokumentarfilm

Gesungene Religiosität Aretha Franklin in dem lange verschollenen Konzertfilm Amazing Grace

Von Sven Beckstette

© Al’s Records & Tapes

 

Im letzten Jahr, am 16. August 2018, verstarb Aretha Franklin. I never loved a man, Respect, Think, Rock steady, I knew you were waiting for me, A rose is still a rose – so lauten nur einige der Hits, die die Queen of Soul in ihrer über sechzig Jahre umfassenden Karriere für sich verbuchen konnte. Dazu kommen Erfolgsalben wie etwa Lady Soul, Spirit in the dark und Who’s zoomin’ who, aufgrund deren sie 1987 als erste Frau in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde. Trotz dieser musikalischen und kommerziellen Höhepunkte in Soul und Pop gilt Amazing Grace als Franklins größter Triumph. Im Jahre 1972 erschienen, kehrte die Sängerin mit diesem Doppelalbum zu ihren Wurzeln im Gospel zurück. Mit zwei Millionen Exemplaren verkaufte es sich mehr als alle anderen Platten der Musikerin, und ist zugleich bis heute der erfolgreichste Tonträger im Segment der Gospel-Musik überhaupt. Franklin wurde für die Platte außerdem mit ihrem ersten Grammy ausgezeichnet.

Bei Amazing Grace handelt es sich um eine Liveplatte. Sie basiert auf Mitschnitten zweier Auftritte von Franklin im Januar 1972 in einer Baptistenkirche im Schwarzenviertel Watts in Los Angeles. Die Performances wurden jedoch nicht nur akustisch aufgenommen, ein Filmteam war ebenfalls anwesend. Im Innenteil des ursprünglichen Klappcovers von Amazing Grace findet sich hierzu ein Hinweis: «The recording of this album was filmed by Warner Brother, Inc. with Sydney Pollack directing.» Zwar wurden 1999 beide Konzerte von Franklin vollständig auf CD herausgebracht, doch der angekündigte Film von Sydney Pollack blieb wegen technischer Probleme lange unveröffentlicht. Dem Regisseur gelang es nicht, die Bild- und Tonspuren miteinander zu synchronisieren, und er übergab die Aufnahmen schließlich 2008 kurz vor seinem Tod an den Produzenten Alan Elliott. Dieser konnte nach zwei Jahren zwar den Film endlich fertigstellen; doch als er das Werk 2011 veröffentlichen wollte, verklagte ihn Franklin und beharrte auf ihren Persönlichkeitsrechten. 2015 sollte Amazing Grace auf dem Toronto Film Festival laufen, was die Anwälte der Musikerin ebenfalls untersagten. Deshalb feierte der Film erst drei Monate nach Franklins Tod am 12. November 2018 in New York seine Premiere. In Europa wurde er zuerst auf der diesjährigen Berlinale gezeigt.

Angeblich sollte Pollacks Dokumentation Amazing Grace ursprünglich zusammen mit Superfly von Gordon Parks, Jr. in den Kinos gezeigt werden. Diese Kombination klingt mehr als ungewöhnlich, um nicht zu sagen unsensibel. Was soll ein Blaxploitationfilm über einen Kokaindealer mit einem Konzertfilm aus einer Schwarzen Kirche gemeinsam haben? Das einzige Bindeglied läge in der Musik, denn zu Superfly schrieb Curtis Mayfield einen einflussreichen Soundtrack, und er ist mit seiner Band auch kurz in Superfly zu sehen.

Das Besondere an der Platte Amazing Grace ist, dass es Aretha Franklin trotz einer erfolgreichen Karriere im Pop-Mainstream gelang, nahtlos an ihre Gospel-Vergangenheit anzuknüpfen. Diese Rückkehr war nicht allen Musiker*innen vergönnt, die sich der kommerziellen, weltlichen Musik zugewandt hatten. Sam Cooke etwa wurde von der Schwarzen Gospel-Gemeinde nie verziehen, dass er 1957 die Soul Stirrers verlassen hatte, um zu einem internationalen Superstar aufzusteigen. Bei einem Konzert mit seiner alten Gospel-Formation Mitte der 1960er Jahre verstummte das Publikum bei seinem Auftritt regelrecht, um ihn dann als unchristlich zu beschimpfen, so dass er schließlich weinend die Bühne verließ. Franklin hatte diese Schwierigkeiten nicht, im Gegenteil: Amazing Grace wurde von der strengen und nachtragenden religiösen Front frenetisch gefeiert und gilt immer noch als Referenzwerk für populären Gospel. Ein Grund für die Identifikation liegt zum einen sicherlich an Franklins Vater, Reverend C. L. Franklin, einem der einflussreichsten Prediger in der Schwarzen Kirche überhaupt. Zum anderen aber auch in der gelebten Religiosität von Franklin selbst und der Anerkennung ihrer Herkunft. Und hier zeigt sich der Unterschied zwischen der Schallplatte und dem Film Amazing Grace. In den Liner Notes des Albums wird darauf hingewiesen, dass zu den beiden Konzertabenden viele berühmte Menschen gekommen waren. Explizit genannt werden dann Gertrude und Clara Ward, also der alte Gospel-Adel, der Franklins Art zu singen und ihre Gestik bei Auftritten stark geprägt hat. Der weiße Filmemacher Sydney Pollack wiederum versucht vor allem, aus dem Publikum Mick Jagger und Charlie Watts ins Bild zu bekommen, die mit den Rolling Stones zu diesem Zeitpunkt in Los Angeles gerade Exile on Main Street aufnahmen. Die ekstatischen Reaktionen der Familie Ward aufgrund von Franklins Darbietung nimmt er dagegen eher etwas verwundert zur Kenntnis.

Was der Film deutlicher hervorholt als die Platte, ist Franklins ernsthafte, beinahe demütige Art während ihres Auftritts an diesem Ort. Sie trägt dem Anlass und ihrer Position als wandelnde Königin des Soul entsprechend ein elegantes, weißes Kleid, dessen schimmernde Steinchen impressionistisch mit den glitzernden Schweißtropfen auf ihrem Gesicht korrespondieren. Sie spricht während des ganzen Konzertes kein einziges Mal direkt zum Publikum, hebt wie eine Schülerin die Hand, als Cleveland seine Gemeinde fragt, wer weiß, wie es in einer Sanctified Church zugehe, und scheint sich völlig auf ihren Gesang zu konzentrieren. Diese Körpersprache unterscheidet sich komplett von ihrer Bühnenpräsenz bei ihren Pop-Programmen. Ein Jahr vor den Abenden in Los Angeles spielte Franklin im März 1971 drei Konzerte im Musiktheater Fillmore West in San Franscisco, aus denen die Live-Platte Aretha live at Fillmore West hervorging. Auf Youtube gibt es einen kompletten Mitschnitt vom 7. März, der eine ganz andere Musikerin zeigt. In dem achtzigminütigen Set läuft Franklin von Beginn an auf Hochtouren, sie tritt selbstbewusst auf, tanzt gelöst und sucht den Kontakt mit dem Publikum. Und vor allem kontrolliert sie den Groove und kann ihre Band jederzeit nach Belieben hoch und runter fahren.

In Amazing Grace verlässt sie ihren Platz hinter der Kanzel nur, wenn sie zum Klavier oder zur Celesta geht. Durch diese verhaltenen körperlichen Regungen verlagert sich der ganze Ausdruck auf Franklins Mimik und vor allem auf ihre kraftvolle Stimme, deren Bandbreite noch dramatischer und beeindruckender wirkt. Nur einmal tritt sie aus sich heraus, als sie sich direkt an den Chor wendet, ihn quasi übernimmt und sich von ihm immer weiter antreiben lässt. Pollacks Kamera erkennt das genau. Der Kirchenraum erscheint gedrängt und das Objektiv hat Mühe, Abstand zu Franklin aufzubauen. Durch diese Nähe kommt ihre stimmliche Wucht noch stärker herüber, überträgt sich auf den Kinosaal, der mit dem Schwarzen Gotteshaus in Los Angeles verschmilzt und auch die Zeit aufhebt: Ein Auftritt von 1972 löst im Hier und Jetzt Reaktionen aus, als lägen nicht über vierzig Jahre zwischen den aufgenommenen Bildern.

Den dramaturgischen Gegenpart zum eigentlichen Star bildet James Cleveland, Franklins Freund aus Kindertagen und selbst eine absolute Gospel-Größe, der hier die Rolle des Entertainers bekommt, und dem Pollack mehr Platz einräumt als auf der Platte. Er ist die Verbindung zum Publikum, der mit seinem Charisma und seinen zum Teil selbstironisch-witzigen Ansagen die Gefühle der Zuschauer*innen steuert und kanalisiert. Und dann ist da natürlich noch die Präzision des Chors, auf dessen Fundament Franklin überhaupt erst zu ihren emotionalen Höhenflügen ansetzen kann. Diese Aspekte machen Amazing Grace zu einem Zeugnis für die Macht afroamerikanischer Musik, deren Kraft aus dem Zusammenspiel von kollektiver und individueller Exzellenz und der tiefen Verwurzelung mit und in der Schwarzen Gemeinschaft entsteht. 

 

Amazing Grace (Sidney Pollack/Alan Elliott, USA 1972/2018) hatte im April 2019 seinen weltweiten Kinostart; im Lauf des Jahres wird eine DVD/Blu-ray-Edition erscheinen