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«Kino im Kopf» Zur Filmsemantik im Relotiusbericht

Von Matthias Dell

«Die Erzählweise, die in Reportageseminaren, zum Beispiel dem des ‹Reporterforums›, gelehrt wurde und wird, bedient sich aus dem Werkzeugkasten des Films, der Comics und der Literatur, also der Fiktion», heißt es an einer Stelle des 17-seitigen Texts aus dem Spiegel vom 25. Mai 2019. Dieser Text ist der Abschlussbericht einer Kommission, die Ende letzten Jahres eingesetzt wurde, um den Fall Claas Relotius aufzuklären – wie es dazu kommen konnte, dass ausgerechnet im Spiegel jahrelang zusammengedichtete Artikel erschienen, deren Autor dafür auch noch einen Journalistenpreis nach dem anderen gewann.

Die zitierte Stelle stammt aus dem Teil des Kommissionsberichts, der grundsätzlich zu werden versucht. Relotius hatte keine Mitstreiter, steht zwar zur Beruhigung gleich im ersten Satz des Berichts, aber das, was die Kommission (als Externe Brigitte Fehrle mit den beiden Spiegel-Mitarbeitern Clemens Höges und Stefan Weigel) in monatelangen Gesprächen und Lektüren herausgefunden hat, deutet daraufhin, dass es sich um einen Einzelfall nur handelt, wenn man die Dimension betrachtet – dass die systemische Krise einer bestimmten Form von (deutschem) Journalismus, die hinter dem Namen Relotius steht, aber nicht zu übersehen ist.

Und deshalb versucht der Kommissionsbericht an die Fundamente des «Reportage»-Begriffs zu gelangen, der seit Beginn der nuller Jahre als «Königsdisziplin» (der Bericht setzt das Wort ebenfalls in Anführungszeichen, die man getrost als Zweifel interpretieren darf) des deutschen Journalismus galt. Fragt man nun, was in dem tastenden Satz aus dem Kommissionstext der entscheidende Hinweis ist, so hätte es vor Relotius’ Enttarnung sicherlich gehießen: «Film», «Comic», «Literatur», und damit verbunden eine Idee von der «Königsdisziplin», die sich nicht mehr mit dem grauen, drögen, an Fakten interessierten Journalismus messen lassen muss, sondern die sich aufschwingt, mit populären Medien zeitgenössischer Unterhaltung Schritt zu halten.

Nach Relotius ist dagegen klar: Der zentrale Begriff in diesem Satz lautet «Werkzeugkasten». Und daraus, ließe sich anfügen, nur das gröbste Besteck. Denn «filmisch» meint bei den Texten des Relotius-Journalismus vor allem: Anschaulichkeit, darüber hinaus noch kalkuliertes Heldentum und eine gewisse Affinität zu überschaubaren Plots (dass die Relotius-Geschichten mancher Journalistenpreis-Jury als «zu glatt» erschienen, wäre die Irritation über dramaturgisch zu runde Texte). Anschaulichkeit wiederum wird zumeist durch zwei Tricks hergestellt: die Albernheit, aus dem Kopf des Helden auf die Welt zu blicken, und gepimpte sprachliche Bilder. Felix Stephan hatte in der Süddeutschen Zeitung schon Anfang Januar argumentiert, dass solches Schreiben mit Literatur nichts zu tun hat – und noch nicht einmal etwas mit dem amerikanischen New Journalism, der ob seiner lässig ausgestellten Subjektivität im Ton Vorbild für den «Sound» der deutschen Pseudo-Reportagen gewesen sein mag.

Passenderweise hat die Debatte um Takis Würgers Buch Stella gezeigt, wie wenig lebensfähig die angeblich so fiktionsähnliche Reportage außerhalb eines Spiegel-Magazins ist: Im Umfang eines Romans regrediert das vermeintlich Literarische zu schwer aushaltbarem Groschenheftglutamat. Mit anderen Worten: «Kitsch», wie die zweite Form der Irritation aus den Journalistenpreis-Jurys im Kommissionsbericht heißt. Dabei ist durchaus interessant, dass die Relotius-Reportage eine Domäne von (jungen) Männern (gewesen) ist, deren Weltverknappungen nicht selten in kindischer Schlichtheit resultierten (in Relotius’ «Fergus Falls»-Text wird der Ort gleich zu Beginn markiert durch einen «dunklen Wald, der aussieht, als würden darin Drachen hausen» – Drachen!). Als Filme gedacht stellen die besagten Texte jedenfalls keine avancierten Formen multiperspektivischen Erzählens oder auch nur gelungene Anverwandlungen neoklassischer Genremuster vor. Man muss sie sich eher als Rosamunde Pilcher-Schaum denken, in dem eine mittelalte weibliche Heldin die Erfahrung der modern ausstaffierten Welt nur deshalb gesucht hat, um am Ende keine zu machen – nämlich um das Glück zu finden, das sie immer schon kennt: den Jugendfreund.

«Auch deshalb haben diese Texte mit Literatur noch weniger zu tun als mit Journalismus: Sie erzählen stets das Wahrscheinliche», schrieb Felix Stephan in der SZ. In die Entstehung dieser sich selbst bestätigenden Geschichten liefert der Kommissionsbericht im Spiegel ungewöhnlichen Einblick: indem er die E-Mail von Ressortleiter Matthias Geyer zitiert, der den Text, der Relotius schließlich entlarvte, weil er ihn zusammen mit dem ihm misstrauenden Juan Moreno schreiben musste, schon ausmalt, bevor die Flugtickets gebucht sind. Erwartet wird billigster Kontrast: «Wir suchen nach einer Frau mit Kind. Sie kommt idealerweise aus einem absolut verschissenen Land (…) Sie setzt ihre Hoffnung auf ein neues, freies gutes Leben in USA (…) Es muss eine sein, die mithilfe eines Kojoten über die Grenze will (…) Die Figur für den zweiten Konflikt beschreibt Claas (…) Dieser Typ wird selbstverständlich Trump gewählt haben, ist schon heiß gelaufen, als Trump den Mauerbau an der Grenze angekündigt hat, und freut sich jetzt auf die Leute, dieses Trecks, wie Obelix sich auf die Ankunft einer neuen Legion von Römern freut.» Was sich dazwischen als «Geschichte des Jahres» noch ereignen soll außer dem Clash of Vorurteile und Klischees, interessiert den Hamburger Redaktionszynismus schon nicht mehr.

Das Zitat ist eine der besten Stellen im Kommissionstext, der sich aber auch sonst so spannend liest, wie man es sich von Investigationen im führenden Nachrichtenmagazin erhoffte (auch wenn er sich von der Grille eines «exzellenten» Schreibens bar jeder Realität noch nicht trennen kann). Ironischerweise, weil die Kommission gemacht hat, was Journalismus tun sollte (und was viel Zeit kostet): mit Beteiligten zu sprechen, Hinweisen nachzugehen, auch wenn die keine letztgültige Gewissheit bringen (ob Geyer eine bestimmte Mail bekommen hat oder nicht).

Das Filmische ist hier die Summe von Details, was als Vorlage für einen Thriller, besser noch: eine Serie unmittelbar einleuchten würde. Darin ginge es dann gar nicht um Relotius, sondern an dessen Beispiel um Macht, Hybris, Eitelkeit, um die komplexen Zusammenhänge in einem System, einer Hierarchie, an der der Held (Moreno) beinahe scheitert. Die Verfilmung des «Fall Relotius» liegt also nahe. Sie dürfte nur von keinem deutschen (Spiegel)-Autor geschrieben werden.