Kreuzberg
Als Kind habe ich Kino verachtet. Ich dachte, Kino sei etwas Saulustiges, das man aber tunlichst vermeiden sollte, weil: zu oberflächlich. Heute weiß ich: In meinem Fall war daran der Zweite Weltkrieg Schuld. Meine Großmutter war als Kind in Hamburg ausgebombt worden, weshalb sie es Zeit ihres Lebens nicht mehr in dunklen Räumen aushielt. Woraufhin meine Mutter als Kind ganz eigene Schlüsse zog. Die Familie, so dachte sie, würde nie ins Kino gehen, weil es etwas Versautes, Perverses sei. So kann es gehen, wenn bei Verboten keine Erklärungen mitgeliefert werden. Die Missverständnisse werden generationell vererbt.
Ich war also gleichermaßen fasziniert wie verwirrt, als ich anfing, nachts Arte zu gucken, im Gemeinschaftsraum des Internats, und den Eindruck bekam, alle Filme sind Arthouse, langsam, elegisch und bedeutungsschwanger. Wenn man ins Kino geht, dann vor allem, um danach betroffen zu sein, tief bewegt oder in komplizierte Diskussionen verstrickt.
Die wichtigste Einsicht kam mir daher spät: Ins Kino geht man am besten bei gutem Wetter. Insbesondere für biglebowskieske Stoner Movies. Zum Beispiel an einem sonnigen Samstagnachmittag im Frühling, wenn in Berlin-Kreuzberg die jungen Familien eifrig auf die Spree-Ufer zusteuern. Zum Beispiel also Beach Bum im Moviemento, den neuen Film von Harmony Korine.
Der abgewrackte Poet Moondog (Matthew McConaughey) macht sich ein schönes Leben in Florida. Er pendelt zwischen Yacht, Strandbar, Rehab und Villa (die seiner Frau gehört), gibt manchmal Lesungen oder guckt sich alte Videos von Lesungen an, Hauptsache er feiert sich selbst.
Der Joint ist dabei allgegenwärtig. Selbst beim Tauchgang im Pool hält er ihn mit einer Hand über Wasser wie das Periskop von einem U-Boot. Immer länger und größer werden die Joints im Laufe des Films, bis sie fast Schultütenausmaße erreichen. Der Joint funktioniert im Film tatsächlich als Periskop: das Guckrohr, durch das der beschallerte Moondog die Welt sieht, eine sehr bunte Welt. Mit sehr zurückgelehntem Soundtrack.
Moondog ist ununterbrochen high, besoffen oder beides, aber einen Kater hat er nie. (Stattdessen eine Katze, die er auf der Straße gefunden hat und mit der er den Wodka teilt). Alles Erdenkliche stößt ihm zu, von der Begegnung mit einem koksabhängigen Papagei bis hin zum Haiangriff. Auch dass sein bester Freund Ray (die Kurzform von Lingerie), gespielt vom Gangsta-Rapper Snoop Dogg, der jetzt Reggae macht, eine Affäre mit seiner Frau hat, kann seine gute Laune nicht schmälern. Was ihn irgendwann zu der Aussage veranlasst, die Welt hätte sich gegen ihn verschworen, um ihn glücklich zu machen: «I’m a reverse paranoid». Verschwörungstheorie mal andersherum, aber genauso ansteckend. Jedenfalls scheint er, bei all dem Mist, den er baut, doch alle Menschen in seinem Umfeld glücklich zu machen, mich eingeschlossen.
«Life is a fucking rodeo, and I’m going to suck the nectar out of it and fuck it raw until the wheels come off.» Whatever! Ob man das für oberflächlich hält oder für weise, ist eine Frage der Perspektive. Als neunmalkluges Kind ist man auch einfach zu kurz, um die Oberflächen von oben zu betrachten, und vermutet sich in der Tiefe auf der richtigen Seite der Dinge. Aber es ist wirklich nichts, gar nichts dagegen einzuwenden, bei Sonnenuntergang gut gelaunt aus einem Kino zu stolpern. Und rein in die nächste Bar.