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Sound Atmo

Von Dirk Schaefer

Atmosphäre: etwas Vages, an dem im Kino präzise gearbeitet wird. Der Jargon der Tontechniker versteht unter «Atmo» Klangereignisse, die sich im Hintergrund des Geschehens abspielen. Ob es sich um Geräusche, Gedudel oder Gerede handelt, ist dabei egal – Hauptsache, es bleibt nebensächlich, klingt plausibel, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Die Atmo ist bestimmt durch ihre Unbestimmtheit: Autos hupen aus irgendeinem Grund; Musik läuft irgendwo; irgendwelche Leute reden über irgendetwas – die jeweilige Schallquelle darf der Film, so die uns allen vertraute Spielregel, unsichtbar und unbestimmt lassen. Tonleute nutzen diesen Umstand, um ihre Lieblingssounds in Filme einzuschmuggeln – nach der Devise: entferntes Hundebellen schadet nicht, sondern schafft, nun ja, Atmosphäre. See a dog, hear a dog, diese Gleichung aus den Anfangstagen des Tonfilms hat ausgedient; in dem Maße, in dem der Film genauer hinhörte, entwickelte sich eine Tendenz zur nachträglichen Konstruktion von Atmos als komplex gewebten Klangteppichen.

Eine Art Nullpunkt der Atmo bildet der «Raumton», das Grundrauschen der Atmosphäre im leeren Raum zwischen den Dialogzeilen. Den absoluten Nullpunkt hingegen, das sogenannte Tonloch, hat man im Spielfilm lange gescheut, mindestens bis 1968, als Stanley Kubrick in einigen Szenen von 2001: ASpace Odyssey den «Raumton» des absoluten Vakuums erfahrbar zu machen versuchte, indem er die Tonspur leer ließ. Folgenreicher, wenngleich weniger spektakulär als dieser und andere Toneinfälle Kubricks war der, in der Tiefe des luftleeren Raums ausgerechnet György Ligetis Atmosphären erklingen zu lassen: Musik, die nach Angabe des Komponisten zu Ohren bringen will, wie Luft klingt. Angesichts Ligetis amorpher Klangschichtungen bemerken die meisten Zuschauer von 2001 nicht einmal, dass sie es mit Musik zu tun haben; sie fassen die Atmosphären als Atmo auf.

Wie man mit solchen Möglichkeiten arbeitet, hat zuletzt Kathryn Bigelows The Hurt Locker demonstriert. Von Beginn an, noch vor dem ersten Bild, spricht es zu uns: Eine aufgeregte Stimme ruft etwas extrem Dringendes auf Arabisch – eine Drohung? Eine Warnung? Von Anfang bis Ende des Films sind wir, gemeinsam mit den US-Soldaten, die im besetzten Bagdad des Jahres 2004 Bomben entschärfen, latent überfordert in der Einschätzung der Lage, in der Entzifferung der Anzeichen möglicher Gefahr. Das berühmte Eintauchen des Zuschauers, Bigelows erklärtes Ziel, meint hier den Sprung ins kalte Wasser, bei dem sich erst nach und nach so etwas wie Überblick einstellt. Doch die Kontrolle der Lage durch den überwachenden Blick, den wir mit den Soldaten teilen, bleibt den ganzen Film über labil. The Hurt Locker baut zu Beginn eine enorme Spannung auf zwischen dem Tunnelblick der Wackelkamera und einem Tonhintergrund, der in dem, was gerade nicht zu sehen ist, das unkontrollierbare (weil unverstandene) Gewimmel der besetzten Stadt präsent hält. Damit der Oberbombenentschärfer, eine Personifikation von Entschlossenheit, die im Film Will genannt wird, konzentriert arbeiten kann, muss dieser allgegenwärtige Hintergrund ausgeblendet und zugleich überwacht werden. Das nervt und ist aufregend, vor allem zu Beginn des Films.

Die Atmo ist also ein Versteck: hier lauert Gefahr. Doch filmästhetisch ist sie auch ein Bereich kategorialer Unbestimmtheit, eine Zone, in der aus Dialog Gemurmel wird und aus Filmmusik Geräusch. Bigelow und ihr Sounddesigner Paul Ottosson haben Marco Beltramis Score so weit nach hinten gemischt, dass die Musik oft nur noch als emotionale Tönung einer Tonspur durchdringt, die in diesem Film als Einheit konzipiert ist. Die Musik tritt hier kaum einmal mit großer Geste als Musik auf, sondern schleicht sich eher ein, auf dem Umweg über den Mix – als sei sie Teil der Umgebung. Ihre Effektivität leidet unter solcher Maskierung keineswegs. So nimmt das Gefühl des Kontrollverlusts, des Wegrutschens des Bodens unter den Füßen, bei Beltrami die sehr überzeugende Form eines Abwärtsglissandos an, das deutlich Musik ist und doch klingt, als sei es aus den omnipräsenten Sirenenklängen erwachsen. Bei anderer Gelegenheit schält sich aus einem Hupkonzert fast unmerklich ein stehender Streicherakkord heraus.

Während Beltramis amorphe Ambient-Klänge von vornherein darauf angelegt sind, in der Atmo zu verschwinden wie ein Geräusch unter vielen, setzt Bigelow mit einigen prägnanten Geräuschen musikalische Akzente. In entscheidenden Momenten ertönt das aggressive Fauchen amerikanischer Düsenjets, die offenbar knapp über den Köpfen der Protagonisten vorüberzischen, dabei aber unsichtbar bleiben. Ostentativ verweigert Bigelow den dazugehörigen Gegenschuss. Anstelle der quasi göttlichen Sicht aus dem Weltall, dem Kampfjet oder -hubschrauber auf das besetzte Land macht sich The Hurt Locker jenen verständnislosen Blick zu eigen, den die Bombenentschärfer auf eine fremde Welt werfen, in der sie agieren, die sie sich jedoch vom Leibe zu halten versuchen. Ein unförmiger, im Ernstfall wenig hilfreicher Schutzanzug bringt diese Haltung auf den Punkt, in Bild und Ton. Der Blick durch das Visier dieses Schutzanzugs erinnert ebenso an den Astronauten aus 2001 wie der Sound, ein weiterer Nullpunkt der Filmvertonung: Wenn die Atmo nur noch Atem ist – und dieser das Letzte, das man im Leben hört.