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Der spazierende Mann Jiro Taniguchi

Von Stefanie Diekmann

© Carlsen

 

Als Jiro Taniguchi 1992 an den Kurzgeschichten um Aruku Hito (dt. Der spazierende Mann) zu arbeiten beginnt, ist er bereits seit 25 Jahren als Mangaka im Geschäft. Sein Weg ist der übliche: Assistenzzeit, untergeordnete Tätigkeiten, erste Kooperationen, viel Genre-Produktion (Krimis, Science Fiction etc.); 1986 dann der «Wendepunkt», wie es in einer Darstellung von Taniguchis deutschem Verlag heißt, der ein wenig dazu neigt, die Geschichte dieses Zeichners als eine der langsamen Selbstfindung zu erzählen.

1986 ist das Jahr der Erstveröffentlichung von Botchan no Jidai (engl. The Times of Botchan; bislang gibt es keine deutsche Ausgabe), in insgesamt zehn Bänden fortgesetzt. Die Helden sind auf einmal nicht mehr Gangster, Boxer, Hardboileds aller Art, sondern Intellektuelle und Künstler der Meiji-Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Für die Idee eines Wendepunktes mag das ausreichen; allerdings sind die Reaktionen auf dieses Großprojekt, das 1998 mit dem Osamu Tezuka Award ausgezeichnet wird, auch unter den Fans von Taniguchi gespalten. Ein paar Jahre später veröffentlicht er dann mit Ino no Karu (dt. Träume vom Glück) die erste seiner Geschichten um Familie und Alltag im modernen Japan, die ihn auch in Europa erfolgreich machen, und wird seither als einer jener japanischen Zeichner beschrieben, die «Comics für Erwachsene» erfinden.

Den «Europäer» unter den japanischen Zeichnern nennt man Taniguchi gelegentlich auch, was damit zu tun hat, dass er schon in den 70ern den frankobelgischen Comic für sich entdeckt hat und in der Gestaltung seiner späteren Zeichnungen von ihm beeinflusst scheint. (Man dankt es ihm 2003 in Angoulême, wo er als einer der ersten Japaner mit einem Preis geehrt wird, wenn auch nur für das Szenario von Harukana Machi-e; dt. Vertraute Fremde.) Zugleich entspricht sein Werk in vieler Hinsicht den Vorstellungen, die für ein bestimmtes europäisches Bild des «Japanischen» (ein eher hochkulturell geprägtes, intellektuelles und etwas sentimentales Bild) bestimmend sind. In ihrem Personal und ihren Settings erinnern diese Comics an die Filme von Ozu, Shimizu, manchmal auch an die von Naruse; die Präferenz für die kleinteilige Beobachtung evoziert wie automatisch Vergleiche mit der Kunst des Haiku; man schweigt viel in Taniguchis Comics, man ist höflich, man ist traurig, man trinkt Sake, man spaziert und trägt kleine Pakete durch die Gegend; die Züge fahren aus den Metropolen in die Städte der Kindheit, und dort angekommen müssen die Figuren meist eine Weile suchen, bis die Häuser wieder so aussehen, wie man sie außerhalb Japans im Kino (dem älteren Kino) kennengelernt hat.

In diesem Szenario der umfassenden Nostalgie, das bereits mit The Times of Botchan etabliert wird, sind die Geschichten um Aruku Hito, den Mann, der spazieren geht, etwas anderes als die Ausnahme von der Regel. Auch hier wird das Glück nicht in der Metropole gefunden, sondern an ihren Rändern, in einer Welt der Grünanlagen und Gartenzäune, der Gehwege, Badeanstalten und Bibliotheken, in der die Busse präsenter sind als die Autos, der nächtliche Spaziergang nicht weiter gefährlich und die Kinder artig genug, sich für ein paar Wasserspritzer zu entschuldigen. Zweifellos handelt es sich um eine unbestimmt altmodische Welt, die jedoch, anders als später in Chichi no Koyomi und Harukana Machi-e, nicht der Vergangenheit angehört, sondern der Gegenwart – sie ist Gegenwart, womit schon das Wesentliche über sie gesagt sein könnte, geht es in Aruku Hito doch vor allem darum, den Augenblick wahrzunehmen und zu würdigen. Das ist gewiss ein schlichtes Konzept von Glück (ein etwas konservatives Konzept ist es bei Taniguchi außerdem), aber doch auch ein liebenswürdiges, aus dem hier einige sehr schöne Mikro-Geschichten entstehen.Für den namenlosen Protagonisten von Aruku Hito ist das Spazierengehen die Technik, die die Wahrnehmung des Augenblicks ermöglicht. Für den Zeichner Taniguchi besteht sie darin, den Protagonisten beim Spazierengehen zu zeigen. Die programmatisch entschleunigte Fortbewegung bestimmt den Modus, in dem sich die Erzählungen entfalten: viele Bilder von beschuhten Füßen, die auf den Boden gesetzt werden, viele Untersichten, Nahsichten des Gesichts mit der Brille, aber auch Totalen und Halbtotalen: Mann in Vorstadtlandschaft (die niemals spektakulär ist). In einer Geschichte ein kurzer Sturz, in einer anderen ein Intervall der Beschleunigung; ansonsten eben: Gehen, Stehenblieben, sich wieder in Bewegung Setzen, Miniaturaufnahmen, Fundstücke, immer wieder Innehalten, immer wieder zurück in die Bewegung, manchmal sehr knapp vorbei am Kitsch und manchmal ganz wunderbar, vor allem dann, wenn das Spazierengehen von Epiphanien unbegleitet bleibt und nichts anderes ist als ein Umweg, der zum Bäcker führt oder dazu, dass ein paar kleine Kinder dem Hund beim Pinkeln zusehen.

Unter den siebzehn Geschichten, die der Band versammelt, ist eine, in der es tatsächlich um nichts anderes geht als das Gehen, allerdings in verschiedenen Modifikationen. Man schlendert, man spaziert, man hält sich auf und wird auf einmal überholt; man überholt ebenfalls, das Gehen verwandelt sich in ein kompetitives Szenario (das doch an keiner Stelle nach einem Wettlauf aussehen darf), aus dem kompetitiven Szenario in ein komplizenhaftes und schließlich ein versöhnliches. Und weil all dies so aufmerksam und zugleich so beiläufig ins Bild gesetzt ist, dauert es einen Moment, bis deutlich wird, dass diese Geschichte, wie nebenbei, auch das Verhältnis von Alt und Jung verhandelt, das heißt: die Beziehung zwischen zwei Generationen, und das heißt weiter: zwischen einer Generation, die den Wandel der Nachkriegsmoderne in Japan durchlebt hat (und bei Taniguchi nie ganz aufhört, an diesem Wandel zu leiden), und einer, die diese Erfahrung nicht teilt und doch bestrebt ist, sich zu den Vertretern eines älteren Japan in Beziehung zu setzen. Am Ende, nachdem der Jüngere buchstäblich en passant in seine Schranken gewiesen worden ist, spazieren sie gemeinsam auf der Promenade am Wasser. Die nächste Geschichte ist die mit dem Bäcker, die übernächste die, in der die Brille kaputt geht; in ihren besten Momenten ist die Dramaturgie dieses Comics so frei von Kalkül wie die Spaziergänge seines Protagonisten.

Jiro Taniguchi: Der spazierende Mann (Carlsen 2009)