dokumentarfilm

Und dieses Nichts Über Chantal Akerman und ihren letzten Film No Home Movie

Von Simon Rothöhler

Elle a passé tant d'heures sous les sunlights... (Philippe Garrel, 1985)

 

Wasserbilder, Nebel, eine Violine, Stimmen flüstern, Sätze auf Polnisch, Hebräisch, Jiddisch, überlagert vom Rauschen des Hudson Rivers, wie sich herausstellt, weil dann ein Markierungsbild folgt: Liberty Island, Ellis Island. Als die Kamera die Südspitze Manhattans fast erreicht hat, ist aus dem Nebel Nacht geworden, die eben noch schemenhaften Wolkenkratzer gewinnen an Kontur, lassen Räume, ganze Etagen leuchten. Dann ein klares Signal, die erste deutlich vernehmbare Stimme aus dem Off, ein Englisch mit schwerem Akzent, kein Rauschen mehr. Chantal Akermans Stimme erzählt die Geschichte eines Rabbis, der tagein, tagaus in einen Wald geht, immer zu einem bestimmten Baum, um an dessen Fuße zu beten. Die nachfolgenden Generationen beginnen zu vergessen, erst wo der Baum, dann wo der Wald, schließlich wo das Dorf steht, finden aber dennoch und weiterhin Gehör im Gebet. Ebenso ergeht es der jüngsten Generation, die darüber hinaus auch die genauen Wörter, den konkreten Text des Gebets vergessen hat, sich aber noch an die Geschichten, an die in ihnen mitgespeicherte Idee kollektiver Tradierung erinnert und diese nun in eigenen Worten, aus dem Gedächtnisrest weitergibt, den Kindern der Kinder der Kinder.

Auf die Geschichte vom Baum, die den Erzählsinn von Histoires d’Amérique / Food, Family and Philosophy (1988) perspektiviert, in eine Tradition stellt, ist Chantal Akerman in Gesprächen immer wieder zurückgekommen. Wenn nun die erste Einstellung ihres jüngsten und leider letzten Films No Home Movie (2015) über vier Minuten lang einen harten Windstößen stoisch widerstehenden Baum in ansonsten völlig karger Wüstenlandschaft zeigt, scheint sich ein Kreis auf der Meta-Ebene dessen, was überhaupt erzählt werden kann, zu schließen. Dieser Baum, aufgenommen mit der Digitalkamera eines Blackberry, ein beiläufig entstandener und doch so geduldig gehaltener, so typischer long take, steht in Israel – was uns der Film nicht direkt sagt, aber unwillkürlich (und korrekt) vermuten lässt. In Akermans auf der Venedig Biennale 2015 ausgestellter Installationsarbeit Now wird anderes Wüstenbildmaterial – aus einem fahrenden Auto aufgenommene Plansequenzen, die ebenfalls an zwei Stellen im Film auftauchen – über fünf Kanäle, V-förmig gestaffelt in den Raum projiziert: «No Home | Movie» auch hier, nur anders aufgelöst, in einer manisch-rastlosen Reisebildserie, travelling shots, die qua Bewegungsimperativ und Loop nie ans Ziel gelangen, niemals irgendwo an- und zur Ruhe kommen.

Frieda Grafe hat über Histoires d’Amérique, dieser aleatorisch anmutenden Serie von «routines», die erst leichthin, dann insistierend verdichtend eine Geschichte jüdischer Witze, Exilerfahrungen, SchauspielerInnnen knüpfen, geschrieben: «Die kollektive Erinnerung, die der Film gegen die Verdrängungen der Elterngeneration wachhalten will, betrifft die Erinnerungen an den Holocaust und all die Verluste, die vorausgingen. … Ein einziges Mal … bringt die Regisseurin mit einem Satz sich selbst zu Gehör. Meine eigene Geschichte ist voll von Lügen und voll von Rissen und ich habe noch nicht einmal ein Kind.» Die eigene Geschichte als Erzählung zu öffnen, mitteilbar zu machen, ist entsprechend schwierig. Die untergründig mitlaufende Geschichte der Tradierung von Geschichte(n) mag gleichermaßen helfen wie belasten. Ein Baum in der Wüste ist so gesehen vielleicht nicht viel, schon gar kein Wald, der an dieser Stelle wohl ohnehin nie war, es sei denn, man begreift die zionistische Erfahrung Israels so konkret autobiografisch und generationsspezifisch, wie es Chantal Akerman einmal formuliert hat: «Meine Mutter sagte mir einmal, ich weiß nicht mehr, wann, das erste Mal, dass sie nicht an den Mauern entlang schlich, das erste Mal, dass sie keine Angst auf der Straße hatte, das erste Mal, dass sie nicht daran dachte und ganz ruhig mitten auf dem Trottoir lief, das war in Israel. Wir waren das erste Mal dahingereist, 1961, alle vier, meine Mutter, mein Vater, meine Schwester und ich. Ich habe es nie bemerkt, dass sie vorher immer an den Mauern langschlich, aber wenn sie es sagt, dann muss es ja stimmen.»

 

No Home Movie (2015)

© Icarus Film

 

Der Baum in No Home Movie steht jedenfalls da, im Bild, als Bild, minutenlang, gegen all die Kräfte, die an ihm zerren, und sorgt für lebendige, tief verwurzelte Kontinuität. Der Wind rauscht hier nicht in den spärlichen Blättern, sondern schlägt hart gegen das Smartphonemikrofon. Flüstern würde wenig ausrichten. Man wird sich ans Bild und seine verschlüsselten Botschaften halten müssen, wenn man Geschichten hören will.

Nach einem Schnitt dann ein unvermittelter Orts-, Raum-, Soundscape-Wechsel: ein herrlich grüner Park, eine sommerliche Wiese voller Freizeitaktivitäten, dahinter, am Horizont aufgereiht, Bäume, viele Bäume. Ein weiterer Schnitt nimmt dieses zuerst nachgerade blendende Grün mit in einen gepflegten Privatgarten, von erhöhtem Standpunkt aus nach unten gefilmt, ein Stillleben mit türkisem Liegestuhl im Baumschatten, wie gemacht für einen Lesenachmittag. Mit dem dritten Schnitt kommt No Home Movie schließlich dort an, wo die Negation des mindestens zweideutigen Titels und die Kameraposition schon sind: zu Hause, in einem mütterlichen «home», der Brüsseler Wohnung von Natalia (Nelly) Akerman.

Oft, man möchte fast sagen: immer schon war von ihr die Rede im Werk der Tochter. Über Umwege, Umschichtungen,Verdichtungen: fiktionalisiert in Jeanne Dielman, 23, Quai duCommerce, 1080 Bruxelles (1975) oder Demain on Déménage (2004); in absentia wörtlich zitiert, als gegen den Straßenlärm Manhattans verlesene Briefautorin in News from Home (1976); vermittelt präsent im Exil-Raum einer verschatteten Tel Aviver Wohnung in Là-Bas (2006); sowie, nochmals anders vertreten durch die Tochter, in Chantal Akermans Monolog-Performance Une familie à Bruxelles (1998 – von der englischen Fassung gibt es einen Tonmitschnitt und ein bei der Dia Art Foundation 2003 erschienenes Buch), eine Art Vorläufer des (bislang nicht übersetzten) autobiografischen Bandes Ma mère rit (Mercure de France 2013).

Jetzt, im nun letzten Film von Chantal Akerman, steht die Mutter, der letzte Abschnitt ihres Lebens, plötzlich im Bild, vor uns. Die Form dieses Bildes ist topografisch gepolt, bestimmt mehr durch örtliche Gegebenheiten und Erkundungsimpulse als durch das Bemühen, Natalia Akerman einen planvoll errichten Rahmen zu geben, sie auf eine inszenierte Weise ins Bild zu setzen, sie doch noch als Bild ins Werk eintreten zu lassen.

Chantal Akermans Œuvre ist allgemein überaus reich an Wohnungsbildern. Neben den markanten travelling shots, etwa in D’Est (1993) und Sud (1999), gehören diese eigensinnig konstruierten Kammerspielbilder elementar zur Grammatik ihrer auktorialen Handschrift. Meist streng kadriert, ausdauernd gehalten sind diese Innenraumbilder, die von Mauern, Begrenzung, Einengung her gedacht scheinen und das Innen zeitlich wie räumlich hermetisieren. Die dennoch möglichen Perspektiven nach draußen werden in diesem Modus durch das, was alles Innen ist, ausdrücklich eingefasst. In einem Film wie Là-Bas erscheint das Außen, von kurzen, fast eruptiven Ausbrüchen an den Strand Tel Avivs abgesehen, immer nur halb verdeckt sichtbar, verschattet, gefiltert durch heruntergelassene Bambusrollos, Resultate einer dezidiert zurückgezogenen Beobachterposition, die mit Hitchcocks Rear Window, dem oft bemühten Vergleich, letztlich eher wenig zu tun hat.

Auch in No Home Movie bleibt es nach dem prologhaften Beginn, der raumgreifenden Montage von Wüste, Park und Garten, bei diesem Prinzip: beim Rückzug in ein Innen, von dem aus nur intermittierend ein Blick auf die Straße, in den Garten – und bei reisebedingter Absenz der Tochter: auf den Screen einer das Innen-Modell gerade nicht transzendierenden Videochatübertragung – gewagt wird. Gleichwohl wirkt Akermans Kamera hier mobiler, weicher, zufallsaffiner, vollzieht die immer gebrechlicher werdenden Bewegungen der Mutter diskret nach, folgt ihr manchmal ein wenig, bleibt aber meist irgendwann einfach zurück und blickt, jede Szene ein Abschied, wie verlassen hinterher. In anderen Sequenzen scheint die Kamera zunächst achtlos abgestellt, einfach irgendwohin, auf einen Beitisch, eine Kommode, um den Alltag des Mutterbesuchs dokumentarisch aufzuzeichnen, Gänge zum Kühlschrank, die Gespräche von Mutter und Tochter (über das Essen und die Familiengeschichte), jene der Mutter mit ihrer vertrauten Pflegekraft (über das Essen und die Tochter).

Wer das Werk Akermans kennt, weiß um die Geschichte der Mutter, einer polnischen Jüdin, die mit ihren Eltern nach Belgien floh, dort jedoch keine sichere Zuflucht fand, schließlich nach Auschwitz ausgeliefert wurde, wo Natalia Akermans Mutter und Vater von den Deutschen ermordet wurden. Sie selbst überlebte, retournierte nach Belgien, heiratete und zog sich in ein Schweigen zurück – so hat Chantal Akerman das empfunden und in einem Text zu ihrer 2007 im Jüdischen Museum Berlin gezeigten, auf dem Tagebuch ihrer Großmutter basierenden Installation Neben seinen Schnürsenkeln in einem leeren Kühlschrank laufen auch aufgeschrieben: «Hör auf wiederzukäuen, sagte mein Vater, und fang nicht schon wieder mit den alten Geschichten an, und meine Mutter hat einfach geschwiegen, es gibt nichts wiederzukäuen, sagte mein Vater, es gibt nichts zu sagen, sagte meine Mutter, und dieses Nichts ist Gegenstand meiner Arbeit.»

Fast überdeutlich beispielhaft scheint sich in dieser Familienkonstellation jene transgenerationale Traumatransmission vollzogen zu haben, die Marianne Hirsch unter dem (gedächtnistheoretisch durchaus umstrittenen) Begriff «postmemory» für die «second generation» analysiert hat: «To grow up with such overwhelming inherited memories, to be dominated by narratives that preceded one’s birth or one’s consciousness, is to risk having one’s own stories and experiences displaced, even evacuated, by those of a previous generation. … These [traumatic] events happened in the past, but their effects continue into the present.» (Hirsch, The Generation of Postmemory). Dass sie «in ein Trauma hineingeboren» wurde, erfuhr Chantal Akerman als Kind ganz vorbegrifflich und unmittelbar, wie sie im Gespräch mit Nicole Brenez (abgedruckt im exzellent kompilierten Katalog zur Viennale-Retrospektive 2011) vor allem in Bezug auf die schrecklichen KZ-Alpträume, die sie als Dreijährige wiederkehrend plagten, konstatiert: «Wo kommt all das her? Zuhause hörte ich oft auf polnisch das Wort ‹Lager› [deutsch im Original], ich sollte erahnen, was meiner Mutter im Lager zugestoßen war. Selbst hat sie nie davon gesprochen, oder fast nie.»

No Home Movie ist gleichwohl nicht der Versuch, dieses Gespräch in irgendeiner Form nachzuholen oder gar zu erzwingen, dem Schweigen der Mutter eine vollständige biografische Erzählung, eine finale Zeugnisforderung entgegenzusetzen, wo doch auch bestimmte Formen des Nicht-sprechen-wollens Zeugnis geben können. Der generationelle Abstand, der Abstand der historischen Erfahrung ist ohnehin nicht aufhebbar, auch nicht im Medium der Kunst, der symbolisch erweiterten Gedächtnisbildung. Von den Lagern wird am Küchentisch von Natalia Akerman also auch in No Home Movie nicht direkt gesprochen – von den Spuren, den Lücken, den Symptomen, die die Shoah in der Familie hinterlassen hat, der «verrückten» Tante, der Skepsis gegenüber den kollaborierenden Belgiern, den antisemitischen Kontinuitäten aber schon.

Damit knüpft sich das Gespräch in gewisser Weise doch an ein anderes, stellvertretendes an, das Akerman bereits 1980, in ihrem Beitrag für die französische TV-Reihe «Grand-méres» eröffnet hat – eröffnet als ausdrücklicher Teil, vielleicht sogar als Begründungsfigur ihres Werks. In Aujourd’hui, dis-moi besucht sie im Frankreich der Gegenwart drei osteuropäische jüdische Frauen, die die Lager, anders als Chantal Akermans Großmutter mütterlicherseits, überlebt haben. Zu Beginn, nur auf der Tonspur zu hören und erst kaum zuzuordnen, antwortete damals Natalia Akerman auf die Frage, welche Erinnerungen sie an ihre Mutter hat – und trägt die autobiografische Dimension ganz direkt in den kommunikativen Zusammenhang des Films, in das intergenerationale Gespräch ein.

Am Ende von Aujourd’hui, dis-moi sitzt die Regisseurin, die in den Gegenschüssen bis zu diesem Moment immer seltsam abgetrennt, raumzeitlich «displaced» wirkte – als sei es ihr nicht möglich, in der Gegenwart dieses Gesprächs vollständig anwesend zu sein – beim Abendbrot mit einer der befragten «Großmütter» und schläft vertrauensvoll am Tisch ein, während die alte Dame nun ihrerseits woanders ist und eine Folge der US-Serie The Untouchables im Fernsehen verfolgt. Als Akerman wieder aus dem gespielten Schlaf erwacht, sich verabschiedet, den Tisch, die Wohnung, den lebendigen Austausch verlässt, bleibt die Kamera noch eine irritierend lange Minute zurück, verharrt autonom, betrachtet die schweigende, immer weiter entrückende Großmutter. Ein proust’scher Moment fotografischer Erkaltung, hart und unvermittelt als Umschlag in einen medientechnischen Wahrnehmungsmodus in Szene gesetzt, lässt den Gesprächsfaden zwar nicht unwiederbringlich abreißen, gleichwohl prekär, gefährdet, nur mühsam kontinuierbar erscheinen. Aber auch: Ein filmisch gespeicherter Moment des Schweigens, über den man sprechen kann.

No Home Movie ist im Frühjahr 2016 bei Icarus Film auf DVD erschienen