serien 2015

Mumblecore Über Andrew Jareckis sechsteilige True Crime-Serie The Jinx

Von Simon Rothöhler

The Jinx

© HBO

 

Wieder ist es eine technisch suboptimale, gleichsam nachgereichte Tonaufzeichnung. Wieder fehlt die entsprechende Bildspur, jene Form der Evidenzproduktion, die nur aus Registern des Sichtbargemachten erzeugt werden kann. Das ‹Geständnis› ist hier ein Sprechakt ohne komplementären Bildbeleg. Der Kalauer geht also so: Das mic war hot – die Kamera: not. Das die ganze Zeit über qua filmischem Dispositiv eingeforderte Wahrheitssprechen setzt erst ein, als die stellvertretende Gerichtsbarkeit der medialen Anordnung dissoziiert ist. Am Ende der filmischen Investigation steht Bildskepsis.

Andrew Jareckis sechsteilige Dokumentarserie The Jinx über den seit mittlerweile drei Jahrzehnten unter mehrfachem Mordverdacht stehenden – aber bislang nie rechtskräftig verurteilten – Millionenerben Robert A. Durst folgt auch in ihrer unfreiwilligen Medienpointe einem stilprägenden (und gerade in die Criterion Collection aufgenommenen) Werk des True Crime-Genres: Errol Morris’ the thin blue line aus dem Jahr 1988. Dort studieren die letzten Filmbilder einen handlichen Olympus-Kassettenrekorder, in dem eine rotsilberne MC-90 von Sony arbeitet. Morris war sich der Ironie seiner halbamputierten Materiallage bewusst – die Kamera hatte während eines Interviews unvermittelt den Dienst quittiert, ein Tonband sprang ein – und reagierte im Schneideraum durchaus folgerichtig, indem er das technische Gerät performativ in den Zeugenstand rief. Sollen doch die Medien Wahrheit sprechen.

Eine Montagefolge inszeniert den Kassettenrekorder in the thin blue line wie einen Zeugen, den man von allen Seiten zu betrachten versucht, um besser einschätzen zu können, ob das, was er wiedergibt, wirklich dem entspricht, was der Fall (oder die Aussage zu diesem) gewesen ist. Das Gerät spult unbeeindruckt sein Protokoll ab, verzieht auch im Close-up keine Miene. Als wäre die reproduzierte Stimme tatsächlich das Ergebnis eines neutralen Kopiervorgangs. Infinite Wiederholbarkeit, der Stoizismus der Speichermedien. Aus dem Grundrauschen des untertitelungsbedürftigen Mitschnitts steigt schließlich der entscheidende Dialog herauf: «Well, what do you think… about whether or not he’s innocent? – I’m sure he is. – How can you be sure? – ’Cause I’m the one that knows».

Mit diesen und einigen folgenden Sätzen gab David Harris gegenüber Errol Morris mehr als nur implizit zu, am 27. November 1976 den Polizisten Robert W. Wood erschossen und den zum Zeitpunkt der Tonaufnahme schon seit über zehn Jahren inhaftierten Randall Adams durch eine Falschaussage an seiner Statt ins Gefängnis gebracht zu haben. Hätte Harris diese Sätze – die 1989 nach einem durch the thin blue line wesentlich mitausgelösten retrial zu Adams’ viel zu später Freilassung führten – auch geäußert, wenn Morris’ Kamera in diesem Moment nicht durch ein vergleichsweise unscheinbares Tonbandgerät ersetzt worden wäre? Vor Gericht hat Harris die aufgezeichnete Aussage jedenfalls nie wiederholt – er widerrief lediglich seine ursprünglichen Angaben, die Adams zwischenzeitlich in den Todestrakt gebracht hatten. 2004 wurde Harris für eine weitere Mordtat per Giftspritze hingerichtet, während Adams Morris auf Tantiemen und Urheberrecht an seiner Film gewordenen Lebensgeschichte verklagte.

 

The Thin Blue Line

© Criterion Collection

 

Kalter Fall, Medientemperaturen

An diese dokumentarfilmgeschichtlich markierte Medienkonstellation audiovisueller Wahrheitsproduktion muss man unweigerlich denken, wenn Robert Durst am Ende von The Jinx nach einer letzten – durch neue Beweismaterialien von Jarecki erstmals entschieden konfrontativ durchgeführten – Befragung das Badezimmer einer angemieteten Hotelsuite aufsucht. Während das Bild im nun menschenleeren Verhörraum ausharrt, führt der immer noch ‹hot  (und zwar wireless) verkabelte Durst allem Anschein nach – und nicht zum ersten Mal im Verlauf der Serie – ein hingemurmeltes Selbstgespräch: «I’m having difficulty with the question. What the hell did I do? Killed them all, of course.» Wie bei Morris muss eine Untertitelung das Ungeheuerliche zusätzlich als Schriftbild fixieren, als sei der Tonmitschnitt ohne visuelles Protokoll zu ephemer. Dann gehen kommentarlos die letzten Lichter aus, das Bild wird schwarz, die Serie ist zuende, ohne dass die verbliebenen Ungereimtheiten oder auch nur Ambivalenzen (wie der sarkastische Unterton des «of course») weiter bearbeitet würden. Es soll eine closure geben, die Serie möchte sie sein. Der so intelligente wie exzentrische Durst, so will es Jarecki, überführt sich nach Jahrzehnten origineller, von hochbezahlten Anwälten orchestrierter Verteidigung schließlich selbst – noblesse oblige, «of course».

Über die sechste Episode von The Jinx wurde in den letzten Monaten in den US-Medien auch deshalb intensiv diskutiert, weil Durst unmittelbar vor ihrer Erstausstrahlung in einem Marriott-Hotel in New Orleans festgenommen worden war (die offizielle Lesart spricht von «Koinzidenz» und der «autonomen Zeitplanung» der bereits seit 2013 von Jarecki mit den entsprechenden Erkenntnissen der Filmproduktionsrecherchen vertrauten polizeilichen Ermittlungen; plausibel ist aber zumindest eine durch die HBO-Ausstrahlung erhöhte Fluchtgefahr Dursts, von den PR-Risken für die Behörde zu schweigen). Die Serie The Jinx war somit tatsächlich Teil des Falls, die investigative Investition des Projekts durch die Realitätsmächtigkeit ihrer Resultate effektiv aktenkundig geworden. Es ist diese Übergriffigkeit, die Intervention des Films in den Fall, die gemäß der Statuten des True Crime-Genres – ein verwandtes aktuelles Beispiel wäre Sarah Koenigs Radio-Podcast Serial – als Goldstandard gilt: einen cold case medial so aufzuheizen, dass der Staatsanwalt aktiv werden muss. Wie sich die fabrizierte Anmutung eines forensischen «Detailreichtums» etwa zur Medienklimatheorie aus Toronto verhält, ist aber unter den Bedingungen einer Ökologie, in der die Temperaturschwankungen polymorph und die mitlaufenden begrifflichen Verschaltungen – «Radiostreaming» – einigermaßen heißkalt geworden sind, nochmal eine ganz andere Frage.

Bei Dursts jüngster Verhaftung in New Orleans ging es jedenfalls nicht um seine 1982 auf mysteriöse Weise verschwundene Frau Kathleen und auch nicht um Morris Black, seinen Nachbarn in Galveston, den Durst, der damals als «mute woman» kostümiert in der texanischen Provinz untergetaucht war, zwar erklärtermaßen mit einer Handsäge zerstückelt und in Galveston Bay tütenweise ins Meer geworfen, nicht aber gezielt erschossen haben will (ein umstrittenes Jury-Urteil folgte 2003 diesem heiklen «Unfall»-Narrativ und sprach Durst frei – der konnte das, wie die Fernseharchivbilder belegen, selbst kaum glauben und fragte seinen Anwalt Dick DeGuerin nach der Verkündigung entgeistert:  Did they say ‹not›?»).

Jetzt ging es um einen dritten Fall, der mit Durst in Verbindung steht, den Mord an seiner Freundin Susan Berman, einer Tochter des legendären Las Vegas Mobsters Davie Berman. Sie galt lange als potenzielle Geheimnisträgerin im ungelösten Fall Kathleen Durst, war dann aber am 24. Dezember 2000 tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden («murdered execution-style»), nachdem die L. A. Police einem anonymen Brief nachgehen musste, der einen kryptischen Hinweis auf einen «DAVER» in « 527 BENEDICT CANYON» enthielt und dadurch auffiel, dass er mit einem Schreibfehler an die «Beverley Hills Police» adressiert war. Weil Jarecki im Zuge seiner Recherchen zufällig auf einen älteren Brief von Durst an Berman stieß, dessen Schrift nicht nur graphologische Ähnlichkeiten, sondern ebenfalls ein orthografisch schreiend falsches «Beverley» aufwies, kam es überhaupt zu jenem letzten Hotelzimmer-Interview, das Durst im Dialog mit sich selbst finalisierte, nachdem er bereits zuvor, im Moment der für ihn überraschenden Konfrontation, mit einem eigenartigen Schluckaufanfall auf Jareckis Präsentation des privaten «Beverley»-Briefes reagiert hatte. Dass das unvermittelt vorgelegte Dokument Durst augenscheinlich unter Stress und Rechtfertigungsdruck setzt, wird hier als Evidenzmarker eines psychosomatisch codierten Geständnisses inszeniert. Dursts heftig Anstoß nehmender Körper sagt in dieser Szene demnach auch dann noch ‹die Wahrheit›, als der dazugehörige Geist schon wieder recht wach mit evasiven Verteidigungsmanövern befasst ist.

Just Noise

Nicht zuletzt durch den langen, effektvoll dramatisierten Anlauf, den The Jinx bis zu diesem doppelten ‹Geständnis›-Moment nimmt – rund 250 Minuten –, deutet Jarecki die Zuschauerposition im Finale endgültig zur jury duty um. Aus der mit forensischer Rhetorik unterlegten Rekonstruktion einer komplizierten, über bedenkenswerte Leerstellen hinweg fabulierten Geschichte, die sich in vielen Phasen auch aus einer kritischen Relektüre des zum Fall Durst öffentlich wie polizeilich-juridisch gespeicherten Medienmaterials ‹selbst› generiert – im Modus eines Found-Footage-Films – wird eine anklagende Beweisführung sui generis, der im letzten Moment allerdings das Modell einer stringent vorgetragenen Gegenrede fehlt. Dass der erneut engagierte Medienprofi Dick DeGuerin nach Dursts jüngster Verhaftung seine Verteidigungsarbeit zunächst nicht im Gerichtssaal, sondern in der Today Show antrat und dort im knallroten Urlaubshemd sowohl in juristischer wie auch in medienästhetischer Hinsicht ‹formalistisch› argumentierte, erscheint so gesehen durchaus konsequent: «That’s not a confession… He was tricked. It’s all in the editing. The editing was designed for good television, but it wasn’t designed to get to the truth.» Zur Legende dieser ‹Konfession› gehört, dass sie sich, obgleich von Jarecki provoziert, eigentlich einem verspäteten Zufallsfund verdankt. Erst zwei Jahre nach der Aufzeichnung des letzten Interviews mit Durst fanden Mitarbeiter der Post-Produktion bei einer wiederholten Bestandsaufnahme des gesamten Materials den spektakulären Soundtrack, der zuvor einfach als Toilettengangbegleitgemurmel eines älteren Herrn aufgefasst und deshalb nicht ins potenziell aktualisierbare Archiv der Dreharbeit aufgenommen worden war. Just noise.

Auch wenn The Jinx rein äußerlich den dramaturgischen Dreiklang «Rekonstruktion, Investigation, Überführung» anschlägt, schwimmen in jeder Phase ausdrücklich präparierte Fiktionsanteile mit, deren ästhetische Gehalte nicht auf ihre juridische Übersetzbarkeit hin verrechnet werden. In den konzeptkunstartigen Reenactments, die den teilweise widersprüchlichen Aussagen eine prekär-uneindeutige Sichtbarkeit verleihen und der Serie ihre basale Taktung geben, orientiert sich Jarecki ebenfalls an the thin blue line, wo aus betont theatralen Nachstellungen des Polizistenmordes kein immersives Gebäude der ein für alle mal gefundenen historischen Wahrheit, sondern ein «temporally elaborated palimpsest» wird, wie Linda Williams in einem Aufsatz zu den «New Documentaries» der frühen 90er Jahre einst schrieb (bevor sie sich dann in ziemlich fragwürdigen Analogien zu Lanzmanns Shoah verirrte). Das genreintern klarste Gegenmodell bieten Arbeiten wie zuletzt Nick Broomfields Tales of the the Grim Sleeper (2014), der die Rekonstruktion einer unfassbar ‹epischen› Mordserie in South Central L. A. zum Ausgangspunkt einer soziologisch-politischen Beweisführung in Sachen institutionalisiertem Rassismus macht. Mit filmischen Mitteln examiniert und angeklagt wird der Blick der Behörden auf das Milieu der Opfer. Der Case mag kalt sein, die politischen Implikationen seiner im Kern kriminellen staatlichen Prozessierung noch lange nicht.

In der filmisch-seriellen Zeitstruktur, im Modus der sich immer wieder neu konstituierenden und neu dementierenden Betrachtung einer vergangenen Ereigniskette, setzen Morris’ wie Jareckis Arbeiten metadokumentarische Energien frei, die auch dann noch nachhallen, wenn ein gewisser Triumphalismus der erfolgreichen Beweisführung das System Kunst mit dem System Recht zu verwechseln droht. Jarecki macht dies in Bezug auf die informellen Sprechakte von Durst zumindest tendenziell explizit, wenn er diesen beim anwaltlich rückversicherten Üben und Optimieren vorformulierter Antworten zeigt, die ebenfalls per hot mic in einer Drehpause mitgeschnitten wurden: «I did not knowingly, purposely lie». Pause, kurzes Nachdenken, dann: «I did not knowingly, purposely, intentionally lie.»

 

All good things

© Magnolia Pictures

 

Die performative Qualität der Auftritte (nicht nur der Akteure, sondern auch der beteiligten Medien der Audio-Vision) unterscheiden das Filmset nicht zwangsläufig von der Gerichtsbühne, schon gar nicht, wenn es eine Jury zu überzeugen gilt. Im Fall von The Jinx ist dieser Umstand einerseits medienreflexiver Routinevorbehalt, andererseits Teil der Entstehungsgeschichte der Produktion. Die Begegnung mit Durst kam nur zustande, weil dieser Jareckis Spielfilm All good things (2010) gesehen und für gut befunden hatte. Ein im Vergleich zum spezifischen Charisma des Originals eigentümlich fehlbesetzter Ryan Gosling spielt dort einen gewissen David Marks, der nur aus rechtlichen Gründen (und aus begründeter Sorge vor den finanziellen Ressourcen der Durst Corporation) keinen Klarnamen tragen durfte. Über allen Handlungen schwebt schulddelegierend ein übergroßer Vaterkomplex, dem sich der nicht an der Mehrung des gewaltigen Familienvermögens interessierte Sohn David verzweifelt zu entziehen versucht. Verschwunden ist der klassenspezifische Dünkel, die in The Jinx irritierend deutlich zu Tage tretende Arroganz von Robert Durst, der den Ermittlern 2001 in einem Wegman Supermarkt wegen eines banalen Sandwichdiebstahls in die Fänge ging. 500 Dollar befanden sich bei der Festnahme griffbereit in seiner Hosentasche, über 30 000 Dollar lagen an Barreserve achtlos verstreut in seinem Mietwagen.

Aus nachvollziehbaren Gründen gefiel Durst ein Spielfilm zu seiner Lebensgeschichte, der den später zersägten Morris Black zum Mörder Susan Bermans macht, Durst selbst aber trotz aller Insinuation eigentlich nur zum Mörder eines freundlichen Familienhundes, an dem seine Frau Kathleen (eine fassbinderesk weggetretene Kirsten Dunst, hier noch mehr Irm Hermann als ohnehin schon) demnach sehr hing. Als Jarecki nach dem Kinostart den Anruf von Durst und das offenkundig primär narzisstisch motivierte Angebot für ein Interview mit dem bereits mythisch verklärten Original erhielt, ließ er sich nicht zweimal bitten. Hätte Durst ein Detail von All good things etwas aufmerksamer rezipiert, hätte er eine Warnung erkennen und abspeichern können, die schließlich in eine Prophezeiung umschlagen sollte. Bei einer von Paarverstimmung geprägten nächtlichen Autofahrt fängt ein über alle Maßen verdrossen dreinblickender Ryan Gosling plötzlich an, vor sich hin zu sprechen – und wird von Kirsten Dunst entnervt zur Raison gerufen: «Why do you always talk to yourself so much?».