editorial

Grenzfälle

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

die Viertel rumänischer Städte wie Alba Iulia oder Brasov, in denen Roma weitgehend unter sich leben, sind auch Hochburgen des Bollywood-Kultes. Doch es ist eine andere Rezeption als die, die den indischen Mainstream im «Westen» zunehmend zu einer Art Modellfall affirmativ gelöster Scheinwidersprüche macht (das ethnisch, religiös, warenweltlich Beste findet ja dann doch immer zusammen). Die Roma, wie man in Merle Kroegers Roman Grenzfall lesen kann, identifizieren sich mit Bollywood aus einer (auch «ethnisch») prekären Position heraus. Wieder einmal haben sich untergründige Verbindungenin diesem Heft ergeben: Eine Reportage von Maximilian Linz aus Bombay trifft auf einen ausführlichen Werktext zu dem kürzlich verstorbenen Yash Chopra; und ein kurzer Hinweis auf den inzwischen auf vielen Krimi-Bestenlisten auftauchenden Grenzfall resoniert dann auch mit diesem Kontext.

Dass das iranische Kino sich seit vielen Jahren deutlich stärker Richtung Europa und Nordamerika als zum nahen indischen Subkontinentorientiert, hat mit den «Neuen Wellen» zu tun, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in so vielen sich entwickelnden Nationen entstanden sind. Abbas Kiarostami, mit dem wir dieses Mal ein Gespräch geführt haben, ist schon einen Schritt weiter: Er begreift sich als Low-Budget-Modernist, der kulturelle Differenzen im Rahmen des globalen Autorenkinos hochreflexiv auflöst.

Eine kleine Tradition ist bereits, dass wir die Nummer vor den ganz langen Nächten mit einem Schwerpunkt zu US-Fernsehserien versehen: eine Perspektive auf das zunehmend dichter und unübersichtlicherwerdende Feld serieller Ästhetik. Und auch unter den besprochenen Kinostarts des kommenden Quartals sind die USA stark vertreten: Paul Thomas Andersons The Master, David O. Russells Silver Linings Playbook, der erste Jack Reacher-Film, und Spielbergs Lincoln – eine Zufallshäufung, die durch Texte zu Tabu von Miguel Gomes, zu der Videogeschichtsschreibung von Wael Shawky und jahreszeitengemäß: zu Thomas Hauschilds «wahrer Geschichte» des Weihnachtsmanns schon wieder mit Differenz versehen wird. Wir wünschen schöne Winterwochen und einen guten Jahreswechsel.