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Musik/Video

Von Alexis Waltz

Wer Popmusik mag, kann kein Purist sein. Zum Output einer Band wie Depeche Mode gehören neben Tonträgern in diversen Editionen Remixe, Bootlegs, Live-Shows, deren autorisierte und nicht autorisierte Dokumentation, Poster, Fotos, Interviews – und Musikvideos. Bis in die späten Siebziger konnten nur die erfolgreichsten und ambitioniertesten Bands Filme produzieren und zugänglich machen. Dann kam die Videotechnik und demokratisierte die Bewegtbildproduktion. Die Vermarkter suchten nach Formen, im Fernsehen aktuelle Popmusik aufführbar zu machen, um deren Tonträger dort so zu bewerben wie im Radio. Bands wie ABC, Art of Noise oder Kraftwerk brachen mit dem Klangverständnis der Rockmusik der 60er und 70er Jahre, das auf die Entfesselung der Natur im Menschen zielte. Sie wollten die Künstlichkeit und Gemachtheit von Musik und Ausdruck herausstellen. So ging am 1. August 1981 MTV USAauf Sendung.

Diese Bands stürzten sich auf den formbewussten Avantgardefilm und Videokunst, die bisher noch keinen Ort im Fernsehen gefunden hatten. Die auf graphische Flächen reduzierten Hintergründe in den Musikvideos machten deren technische Hergestelltheit genauso deutlich wie der artifizielle, flache, sterile Klang des Yamaha DX7-Synthesizers. Der zuckende Tanz von David Byrne im Video zu Once In A Lifetime ist nicht weit entfernt von den Arbeiten von Bruce Nauman. Der einzige Unterschied ist: Byrne tanzt.

Bands wie die Pet Shop Boys oder Depeche Mode machten das Musikvideo zusammen mit der neuen Form des Remix zu einem umfassenden Gesamtkunstwerk. Keine Band erkannte wie New Order, dass die Attraktivität des Musikvideos gerade in seiner Position zwischen dem kommerziellen Fernsehen und der Videokunst steht, und ließ ebenso Hollywood-Regisseure wie Jonathan Demme oder Kathryn Bigelow und den Bildhauer Robert Longo oder den Fotografen William Wegman Videos produzieren.

Das vom August 1987 bis März 1997 aktive MTV Europe war freier als sein Vorbild, weil die Macher sich weniger am übrigen Fernsehen orientieren konnten und weil der europäische Musikmarkt viel heterogener war als der amerikanische. Die Zerstückelung der Sendungen im werbefinanzierten Fernsehen entwickelte MTV Europe zu einer splitterartigen, collagehaften Ästhetik, in der Jingles und Einspielern dasselbe Gewicht wie den Musikclips zukam. MTV News berichtete im Stundentakt über die neuesten Aktivitäten der Stars und behauptete so eine Relevanz des Popgeschehens analog zu politischen Ereignissen.

Während sich ein Musikvideo in den US Aetwa in seinem Witz an Saturday Night Live messen musste, konnte sich ein Blumfeld-Video nicht an «Wetten, dass …?» orientieren. Vielleicht fielen deshalb viele Videos aus Deutschland eher formalistisch aus, wie Sensoramas Star Escalator.

Nachdem sich in den 80er Jahren jedes Video zwischen den Erzählstrategien von Fernsehen und Kunst immer neu verortete, folgte in den Neunzigern die Phase der Auteurs. Bis dahin fast alle Regisseure von Musikvideos so unbekannt wie heute die Regisseure einzelner Folgen von Fernsehserien. Chris Cunningham, Spike Jonze, Michael Gondry, Mike Mills, Mark Romanek und Hype Williams erschufen für die Musiker, mit denen sie oft kontinuierlich zusammenarbeiteten, visuelle Parallelwelten. Deren Output verminderte sich ab der Jahrtausendwende stark. Die Erlöse der Musikindustrie kollabierten (in den USAvon 14,6 Milliarden US-Dollar 1999 auf 6,3 Milliarden im Jahr 2009). Der Crossover-Sound von Acts wie den Beastie Boys, Björk, Beck oder Air, der sich auf komplexe Weise in Musik und Popkultur von Gegenwart und Vergangenheit verortete, und sich deshalb für eine visuelle Verarbeitung anbot, wurde von Bands wie The Strokes oder Interpol abgelöst, die keinen solchen selbstreflexiven Apparat mehr mitschleppten.

Heute erzielen nur die allererfolgreichsten Künstler aus ihren Musikverkäufen nennenswerte Einnahmen und deshalb produzieren nur noch Acts wie Taylor Swift oder Rihanna gut finanzierte Videos, wie man sie aus den Neunzigern kennt. Jenseits dieser Topseller verlor das Musikvideo seine ökonomische Funktion, den Hörer zum Kauf des Tonträgers des entsprechenden Titels zu animieren. Die Musiker leben heute in der Regel von Konzerten, darum haben die Videos dieselbe Funktion wie anderes Marketingmaterial. Zugleich ist der mediale Kontext unbestimmter. Die Musikvideos sehen auch nicht mehr aus wie Videos, denn meistens wird auf der Spiegelreflexkamera Canon 5D gedreht, die 35 mm-Film nachahmen soll.

Die Videos der Indie-Bands setzen sich von den Produkten des Mainstream durch Stillstand oder elegische Langsamkeit ab. Sie spielen oft in Wäldern, in Wüsten, am oder im Meer. Während gerade in den Videos der 80er Jahre das Material die Realien des modernen Lebens waren und die Videos ihrerseits auf die öffentlichen Reaktionen auf Musik und Band reagierten, zeigen die aktuellen Clips oft entkontextualiserte, ästhetisierte Landschaften und schwebende Körper, besonders von Frauen, Kindern und Tieren. Bei Lana Del Rey schwimmt im Pool ein Krokodil, Julia Holter begegnet am Strand Wölfen usf. Die wiederkehrenden surrealen Begegnungen und Transformationen passieren in einem Nirgendwo. Es scheint, als wollten die RegisseurInnen nicht hinter das von den Auteurs Erreichte zurückkehren, die den Poptext der Musiker in starke, autarke Bilder verwandelt haben. Die konkrete, quasi journalistische Kontextualisierung der Musik in den gängigen Bildsprachen von Film und Fernsehen, wie sie die Clips der Achtziger vorgenommen haben, ist deshalb keine Option. So bleibt nur leere Stilisierung: Lana Del Rey und das Krokodil.