gespräch/video

12. Oktober 2008

InkarNation – Lav Diaz im Gespräch

Von Ekkehard Knörer, Bert Rebhandl und Simon Rothöhler

Der philippinische Regisseur Lav Diaz öffnet dem Weltkino ganz neue Dimensionen. Seine vielstündigen Filme sind zugleich Nationalgeschichte und melancholische Reflexion auf deren Unmöglichkeit. Wir haben im Oktober 2008 in Berlin mit ihm ein ausführliches Gespräch geführt. Hier die wichtigsten Passagen.

Lav Diaz on Long-Take Aesthetics
Lav Diaz on Digital Cinema
Lav Diaz on The True History of Philippine Cinema
Lav Diaz on Lino Brocka: National Hero, Political Animal
Lav Diaz on Mike de Leon: Filmmaker, Intellectual Bourgeois
Lav Diaz on The History of Leftist Activism
Lav Diaz on his most recent film Melancholia (2008)
Lav Diaz on his Mindanao-Project

Lav Diaz schreibt mit seinen Filmen an einer Geschichte der Philippinen

Eine Frau kommt in ein Dorf irgendwo auf den Philippinen. Sie trägt Lackstiefel, ein sehr knappes Kleid und einen leichten, schwarzen Mantel. Schweigend spaziert sie die Straßen zwischen den weit verstreuten Häusern entlang. Gelegentlich raucht sie, unterwegs trifft sie eine Nonne, die Geld für die Armen sammelt. Abends sitzt sie in einem Gasthaus, wo ein Mann auf sie zutritt, der sie wiedererkennt: «Alberta?» Doch sie weist ihn ab. Sie heißt Jenine Salvador. Sagt sie.

Die Identitäten der Figuren sind zweideutig in Melancholia, dem neuen Film von Lav Diaz. Die Menschen, deren Wege einander hier kreuzen, spielen alle mindestens eine Rolle. Sie sind nicht einfach sie selbst, wie man von einer Nonne, einer Prostituierten, einem Zuhälter usw. erwarten würde. Sie machen sich mit ihrer Existenz ganz bewusst zu typischen Stellvertretern der philippinischen Nation. Um nicht weniger geht es Lav Diaz in allen seinen Filmen: um eine Nationalgeschichte im Modus der Meditation. Politische Analyse tritt dabei zuweilen zurück hinter den Versuch, die grundsätzliche Befindlichkeit der Menschen in einem Land zu verstehen, das aus seiner Ohnmacht nicht herauszufinden scheint. Er hat dafür eine originäre Form entwickelt, die ihn auf den Filmfestivals zu einem Außenseiter hat werden lassen – man ist an seinen Filmen interessiert, weiß aber nicht so recht, wie sich diese bis zu elfstündigen Werke, die manchmal wie Installationen wirken, am besten zeigen lassen.

Einer schon recht langen Geschichte mehr oder weniger gelungener, verstreuter Präsentationen in Venedig, Wien oder Berlin ließ das Arsenal – Institut für Film und Videokunst nun die einzig konsequente Form folgen: eine konzentrierte Werkschau in einem Kino. Nur so wird der narrative Charakter auch gewürdigt. Die Filme haben durchweg Anfang und Ende, sie bilden einen Erfahrungsweg, der sich nicht umkehren lässt, noch kann man beliebig in ihn ein- und aussteigen.

Vier große Blöcke gibt es von Lav Diaz, dazu der mit knapp sechs Stunden eher mittellange Batang West Side und einige kleinere, frühere Arbeiten. Melancholia, der aktuelle Film, hatte erst kürzlich in Venedig Weltpremiere. Das Zentrum bildet dabei das längste dieser Epen: Evolution of a Filipino Family, bei dem der an ein eher naturhistorisches Tempo gemahnende Begriff Evolution nicht falsch gewählt ist. Denn Lav Diaz erzählt darin tatsächlich eine Familiengeschichte, die zwar im Wesentlichen in der Zeit des Diktators Ferdinand Marcos spielt, aber tief in die Zeit einer ursprünglichen Ressourcenwirtschaft im Dschungel und der Landwirtschaft in den Barrios zurückreicht. Die komplexe Verschachtelung der Erzählung ist ein Indiz für das Interesse des Regisseurs, die Geschichte des Landes über dessen Ungleichzeitigkeiten zu begreifen - die Menschen gehorchen ganz alten Überlebensinstinkten und verfolgen gleichzeitig mit angespanntem Interesse eine Seifenoper im Radio, die Diktatur von Marcos beschwört die westliche Modernisierungsrhetorik und beruht gleichzeitig auf brutaler Repression.

In Evolution wie in nahezu allen seinen Filmen bezieht Lav Diaz sich auch ausdrücklich auf die Filmgeschichte seines Landes, dessen bekannteste Regisseure wie Lino Brocka oder Ishmael Bernal hin und hergerissen waren zwischen populären Formen und intellektueller Kritik. Häufig gelang eine Versöhnung dieser beiden Modelle, und auch vor diesem Hintergrund lässt sich gut erkennen, wie sehr sich Lav Diaz mit seinem Kino im eigenen Land marginalisiert. Eben erst wurde bekannt, dass die Prädikatisierungsbehörde seinem vorletzten Film Death in the Land of Encantos (einer halbdokumentarischen Feldforschung in einer von einem Tropensturm verwüsteten Region auf der Hauptinsel Luzon) eine Freigabe verweigert hat – einer Einstellung einer nackten Frau wegen gilt das Werk nun als pornographisch.

Dabei verhält sich die Sache doch gerade umgekehrt: Lav Diaz sucht nach einem Bild für die Idolatrie, die der weibliche Körper in einem Land erfährt, in dem Prostitution gleichzeitig allgegenwärtig ist. Auch in Melancholia eignet der Sexualität etwas Performatives, sie ist Show, Ausverkauf, aber auch Kunstwerk und Tanz, Skulptur und Kontemplation. Alberta ist Objekt und Zeugin in einer Person, ihr Tun lässt sich auf mehreren Ebenen - als intellektuelle Recherche, als religiöse Stellvertretung, als therapeutisches Reenactment – begreifen, es umgreift somit die ganze Methode von Lav Diaz, der mit seinem Kino eine Nationalgeschichte von unten entwirft, ausgehend von Individuen, die nicht einfach in ihrem Land leben, sondern es tatsächlich verkörpern. Bert Rebhandl