thomas harlan

9. März 2011

Im Namen des Vaters Zu Thomas Harlans Veit

Von Simon Rothöhler

Ein Brief an einen Vater, der schon lange tot ist. Geschrieben, nein: «diktiert» von einem Sohn, der sein Leben gegen das des Vaters entworfen hatte. Veit heißt dieses Buch, soeben erschienen im Rowohlt Verlag. Verfasst hat es Thomas Harlan, kurz vor seinem Tod, im Sommer letzten Jahres. Aufschreiben konnte er das, was aus seiner Sicht noch zu sagen war, aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr. Er hat es mündlich formuliert, es ausgesprochen, jemand anderes hat es aufgeschrieben, ohne dass es, durch den Prozess des Schreibens, noch «etwas anderes» werden konnte, wie es im Vorwort heißt: «Wer zehn Finger besitzt, die ihm gehorchen, wer das Glück hat, schreiben zu dürfen, der schreibt, wenn er schreibt, zumeist etwas anderes als das, was er sich zu schreiben vorgenommen hat.»

Ein Leben lang ist Thomas Harlan auf seinen Vater, Veit Harlan, angesprochen worden; ein Leben lang hat er sich zu ihm verhalten, verhalten müssen, hat er sein eigenes Verhalten im Licht des Regisseurs verbrecherischer Filme wie Jud Süß, Kolberg, Opfergang betrachtet, betrachten müssen. Dass Thomas Harlan sein filmisches wie literarisches Werk nun posthum mit Veit beschließt, hat mindestens den Nachteil, dass dieses differenzierte und diffizile Werk in seiner Rezeption nun nochmal nachhaltiger als ohnehin schon bezogen bleiben wird auf eine Vaterfigur, auf einen familiären Stachel, auf family trouble, wo doch die von hellsichtigen historiografischen Splittern durchsetzten «Romane» Heldenfriedhof (2006) und Rosa (2000) längst woanders waren: bei komplexen Täternetzwerken und den Kontinuitäten in der frühen BRD, die dann trotz allem doch kein «Viertes Reich» wurde; bei anspruchsvolleren Begriffen von Schuld, Sühne und historischer Verantwortlichkeit. Jetzt also doch noch zurück zum Vater, zum ganz persönlichen Ursprung eines Schuldgefühls, das in einer privilegierten Kindheit als Sohn eines, nein: des Nazi-Regisseurs seinen Anfang nimmt.

Die umfassendere geschichtliche Dimension des NS, der Shoah, für die sich Thomas Harlan auch als autodidaktischer Historiker einen Ruf erarbeite, ist in Veit nicht gänzlich abwesend, nicht völlig eingedampft auf einen Vater-Sohn-Konflikt, auf ein literarisch fingiertes Gespräch, das wohl jenem ähnelt, das damals, 1964 auf Capri, hätte stattfinden sollen, als Thomas Harlan realiter am Sterbebett seines Vaters saß und das Sprechen schwer fiel. Mit Veit will er das Nichzuendegesagte nachholen, einholen durch einen Text, der von einem Sohn stammt, der sein Leben nun seinerseits hinter sich hat, wie der Vater, den er direkt adressiert: Du, Veit.

Nicht nur weil sich dieses Buch mit dem Titel eines Stücks von Erich Itor Kahn als «Klagegesang für die Juden, die in diesem Zeitalter umgekommen sind» selbstdesigniert, sondern auch, weil Harlan in der Rede an den toten Vater Täterfiguren wie die «Vergasungsexperten» Helmut Kallmeyer und Erich Fuchs auftauchen lässt, Massenmörder, die die Justiz der BRD wenn überhaupt nur peripher belangte, gibt es direkte Anschlüsse an die beiden vorhergehenden Romane – wenn auch nur in Form von Echos, die die Vater-Sohn-Ebene kaum erreichen.  Und doch wird all das Wissen Thomas Harlans um die schrecklich oft bruchlos im Nachkriegsdeutschland ankommenden Täterbiografien, hier seltsam überschattet von dem Bedürfnis, der Vater möge seinem Sohn nicht nur verzeihen (Was eigentlich? – «meinen heiligen Krieg gegen Dich»), sondern ihn, den Krieg und den Sohn, auch verstehen, endlich gutheißen, was da geschehen ist, gegen und eben auch: im Namen des Vaters. 

Wird Veit gelesen und vereinnahmt werden als literarisch verdichtete Artikulation eines gesellschaftsweiten Generationskonfliktes, der mit der Chiffre «68» verbunden ist? Die Auseinandersetzung, die Thomas Harlan in diesem Buch mit seinem schweigenden Vater austrägt, ein kunstvoll-wortmächtiges Schattenboxen, ist dafür vielleicht doch zu spezifisch, zumindest zu spezifisch stilisiert.

Zwischen den Szenen, die lose an den von Thomas Harlan oft beschriebenen letzten Vaterbesuch geknüpft sind, finden sich, in Andeutungen, Elemente einer Doppelbiografie, die Veit dann doch nicht wird. Thomas Harlan zündet mit Klaus Kinski ein Münchner Kino an und serviert dem greisen Thomas Mann, der apathisch einfach immer nur dasitzt, «als sei er sein eigener Sessel», in Paris Tee; Veit Harlan und seine dritte Ehefrau Kristina Söderbaum (die in dem Buch gar nicht gut wegkommt), werden nach dem Krieg bei einem Besuch der Hamburger Kammerspiele durch die resolute Intendantin Ida Ehre des Saales verwiesen. In anderen gesellschaftlichen Kreisen bleibt Veit Harlan eine Figur, die bis zu Kiesinger herumgereicht wird und es genießt, als «nationalsozialistischer Tröster und Filmgott» bei den Altnazi-Netzwerken der Freien Demokraten aufzutreten, als jemand, der, wie in Wundkanal vorgeführt, alte Kameraden zu selbstmitleidig-nostalgischen Tränen rührt. Explizit trauert Thomas Harlan in Veit der jüdischen Ex-Frau seines Vaters nach (die Ehe dauerte zwei Jahre, von 1922 bis 24), der Schauspielerin Dora Gerson, die im «Durchgangslager» Westerbork interniert war und in Auschwitz ermordet wurde. Deren Sohn, so klingt es und so schreibt er das auch auf, wäre Thomas Harlan gerne gewesen.

Aus der «Gewißheit, dass zwischen den vielen deutschen Vätern kein Unterschied gemacht werden durfte» speiste sich die Absetzbewegung vom eigenen Vater, schreibt der Sohn in einem Buch, das nun doch noch einen Unterschied setzt, in der großen literarischen Geste: Ein privatistisches Denkmal für eine offenbar nie zu Ende exorzierte Vater-Sohn-Beziehung, Selbst-Analyse im Medium der Literatur. Bekommen jetzt, die Frage stellt sich schon, also doch noch all jene Recht, die mit Blick auf Wundkanal schon immer abgewunken hatten: Kunstgewerbe plus Vaterkomplex plus Narzißmus? Trotz allem: Eher nicht, jedenfalls nicht rückwirkend in Bezug auf den Film, Harlans bekanntesten. Dafür ist Wundkanal, auch wenn man in dem SS-Obersturmbannführer Alfred Filbert eine Stellvertreter-Vaterfigur erkennen mag, doch zu komplex installiert, zu eigentümlich durchwoben mit historischen Zeichen und spekulativen Einschüben des westdeutschen Linksradikalismus seiner Zeit. 

Mehrfach taucht in Veit schließlich eine Denkfigur auf, die in ihrer ganzen psychologischen wie politischen Paradoxie wohl Auslöser war, dieses Buch als letztes Werk in die Welt zu setzen: der Wille des Autors, die Schuld des Vaters für sich zu reklamieren, symbolisch zu seiner eigenen zu machen, sie für den Vater auf sich zu nehmen und einer Auflösung zuzuführen. Veit endet mit einer über mehrere Seiten anrollenden Textwelle, die jenseits versöhnungsästhetischer Schließungen von der Scham eines Nachgeborenen zeugt, einer Scham, die sich sowohl aus den Taten als auch aus dem fehlenden Unrechts- und Schuldbewusstein des Vaters speist. So seltsam, so widersinnig es sein mag, dass Thomas Harlan meinte, er müsse am Ende seines Lebens nochmals derart auf seinen Vater zurückkommen, so nachhaltig ist hier eine empörte Gegenrede zu all jenen aufgesagt, aufgeschrieben, die sich von der «Gnade der späten Geburt» umgeben wähnten. Thomas Harlan schreit ihnen am Ende einen entfesselten, denkwürdigen Theatermonolog entgegen, der angefüllt ist mit einem maßlosen Wunsch, dem Wunsch nach Übernahme einer Schuld, die in letzter Instanz nie die seine war: «Vater, Du geliebter, Verstockter, höre doch! Ich habe Deinen Film gemacht. Ich habe einen schrecklichen Film gemacht. Ich habe Jud Süß gemacht. Ich habe das Scheusal Werner Krauss erfunden. Ich habe sechsmal das Scheusal erfunden. Ich habe die Männer von Lublin erstickt. Ich habe die Frau von Lublin erstickt. Ich habe sie alle erstickt. Laß sie mich alle ersticken, ich bitte Dich. Ich habe Dora fahrenlassen. Ich habe Dich geliebt. Laß mich Dein Sohn sein, Dein ältester, laß mich. Dein Sohn.»

Thomas Harlan: Veit (Rowohlt 2011)