double feature

5. September 2019

Delvaux | Bellocchio (Anouk Aimée) Double Feature (3)

Von Ekkehard Knörer

 

Der Protagonist dieses Films ist Linguistikprofessor in Löwen, Mathias, ein Flame, von Yves Montand gespielt, der kein Flame ist und auch im Film kaum flämisch spricht. Ihm gegenüber, als Französin, die Theaterproduzentin Anne (Anouk Aimée), und die dadurch aufgerufene innerbelgische Sprach- und Kampfordnung ist alles andere als egal. Es gibt Streiks und Demonstrationen - darum nur POC und Ausländer in der Vorlesung des Professors, die dieser dann auch bald abbricht -, und die ohnehin fragile Beziehung zwischen Anne und Mathias ist durch den Sprachkonflikt zusätzlich bedroht. Das Politische ist privat, der Hintergrund ist konkret. Überzeitlich jedoch: Mathias besucht Anne bei den Proben zu einer Jedermann-Inszenierung, für die er das Stück selbst überarbeitet hat. So geht es allerdings auch: um den Tod, und so konkret der Beginn, und auch die Straßenbahnfahrt noch, und auch die ersten Minuten im Zug, in den Mathias am Abend (un homme, un soir, un train) sich setzt, wo dann auch Anne überraschend noch auftaucht, um ihn zur Konferenz zu begleiten (un homme, une femme, un soir, un train). Hier aber geraten nun die Dinge ins Gleiten, worauf man allerdings bereits vorbereitet ist. Delvaux macht das geschickt, zieht den Fokus eng, Großaufnahmen von Händen, Dingen, gezielte, willkürliche Punktierungen, Ausbrüche (Einbrüche) aus der Totalen, dazu eine Musik, die gelegentlich fast aggressiv neutönt. Andere Öffnungen in der Erzählwelt: zurück. Erinnerungen, Rückblenden, kommentarlos, übergangslos, eine Reise nach England, die erste Begegnung: un homme, une femme, un soir (pas de train). Man kann das sortieren, es bleibt eine Ordnung (hier/jetzt, da/einst) für den Schein durchaus gewahrt. Aber prinzipiell ist die Erzählwelt von Anfang an offe.

Dann steht der Zug, fährt wieder an, drei Männer bleiben zurück. Nun: Schlamm, surreal, ein Dorf, in dem keiner die Männer versteht. Man kann schon ahnen, was diese lange Sequenz am Ende gewesen sein wird, Traum, allegorisch, der private Jedermann-Tod, aber es bleibt die Frage, wie das Surreale sich gegen die Beliebigkeit stemmt. Es hilft die Idiosynkrasie: Der ältere Mann, Herrnhuter heißt er, Professor für Theologie in Tübingen ist er, ist eine eigentümliche, der Verallgemeinerung widerstehende Findung. Und dann gibt es eine Szene in einer Kneipe, die hinreißend ist: Eine schöne junge Frau, sie spricht nicht, der junge Mann aus dem Zug (un jeune homme, une jeune femme) nähert sich ihr, sie spricht nicht, aber sie beginnt, klack, klack, geradezu robotermäßig zu tanzen, fast unbewegt zunächst noch Kopf und Gesicht. Frenetisch und frenetischer tanzt sie. Dann tanzt der Mann mit. Andere auch. Dann Auflösung, Zug, Anne, Tod. Aber mit diesem Ende, das allzuviel Sinn macht, deckt Delvaux den Irrsinn vor allem dieses Tanzmoments gegen seine eigene Intention wieder zu.

UN SOIR, UN TRAIN, André Delvaux, Belgien 1968

 

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Irritierend, der Schnitt: Ein Mann, Untersuchungsrichter, Michel Piccoli!, in einer Wohnung, von deren Balkon kurz davor eine Frau sprang, unten noch: Tuch, Priester, zugedeckt, ein Leichen-Übergang von Delvaux' zu Bellocchios Film (meine Montage). Er geht durch die etwas runtergerockte, nicht sehr aufgeräumte Wohnung, hört den Anrufbeantworter ab, auf dem ein Mann die Frau beschimpft, sie vulgär sexuell adressiert, vielleicht sogar in den Selbstmord treibt, falls es ein Selbstmord war und der Mann (später sehen wir ihn, und seinen Schwanz auch, in aller Pracht: Michele Placido) nicht, wie der Richter argwöhnt, sie geschubst hat. Dann der Schnitt, der so irritiert, gerade weil er nicht irritiert, man bemerkt ihn nicht weiter unter den anderen Schnitten, mit denen man in der Wohnung der Toten desorientiert wird: Hände in einer Schublade, Unterwäsche. Es sind aber nicht die Hände Michel Piccolis, sondern die, wie man eine Einstellung weiter begreift, die von Anouk Aimée, sie spielt seine Schwester.

Eine andere Wohnung, großbürgerlich, aufgeräumt, mit einer Hausangestellten und deren Kind, da lebt sie, mit ihm, er ist seiner Schwester Hüter, sie ist psychisch derangiert, öfter außer sich, als sie bei sich ist; aber sie ist auch seine Hüterin, denn der Mann hält sich selbst gerade nur so, und gerade durchs Hüten, selbst beisammen und bei Sinnen. Später dann nicht mehr. Wer anderen ein Mordkomplott gräbt, springt selber rein. Oder runter. Der junge Mann vom Anrufbeantworter, Giovanni Sciabola (es steckt ein Don Juan Diavolo drin): Michele Placido mit Fusselbart, ein explosiver Klein- oder Größerverbrecher, expressiver (Möchtegern-)Theaterschauspieler, exzessiver Feuerspucker, intrusiver Vandale, Schwanzrausholer, Schreibtischbepisser, es ist die Hölle los unter der Decke des Großbürgertums, in den deutlich mehr als vier Wänden (und hinter noch viel mehr edlen Türen) dieser Wohnung, durch die in steter Unruhe die Kamera fährt, eine Wohnung, in der es flüstert und rast, rennt, in der Kinder erscheinen und wieder verschwinden, und in der, ein Häufchen Elend, der Richter, von Michel Piccoli mit einem Furor jenseits von Gut und Böse gespielt (und auch der italienische Synchronsprecher ist super), sich gegen Ende verkrümelt.

Marco Bellocchio ist ein Meister, der Film ein hoch kontrolliertes Kraftwerk im Dauerbetrieb, bei dem nicht immer ganz klar wird, wo hinten ist und wo vorne, und bei dem man nie weiß, ob einem gleich alles um die Ohren fliegt (oh, es fliegt, aber im nächsten Moment ist es, als wär nichts gewesen), und ob der Film gerade vor Flieh- oder vor Bändigungskräften vibriert. Anouk Aimée ist der reine Wahnsinn, aber kühl, souverän Jungfrau, greift sich den Don Juan, versetzt den Täufling in Panik, als trüge sie, was sie tut, den Teufel im Leib, bringt alles aus der Fassung, aber nichts wird ausbuchstabiert, schlimm genug, was alle hier treiben, wenn man sie sieht. Gewaltiger noch, man kann gar nicht hinsehen, sind allerdings die Ellipsen.

SALTO NEL VUOTO, Marco Bellocchio, Italien 1980